Dortmunder Menschen mit Behinderung, Angehörige und Teilhabeberater vor dem Büro der Beratungsstelle Mobile an der Roseggerstraße. © Felix Guth

Behinderung

Keine Lobby, viele Barrieren: Warum sich behinderte Menschen in Dortmund ausgegrenzt fühlen

Behinderte Menschen fühlen sich häufig nicht als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft. Wir erklären, wo die Grenzen verlaufen. Und, wo es Menschen geschafft haben, sie zu überwinden.

27.08.2019 / Lesedauer: 4 min

Jeder vierte Mensch in Dortmund lebt mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung. Experten gehen davon aus, dass es sogar noch mehr Personen sind. Dafür, wie ihre Situation sein soll, gibt es einen klaren Rahmen: die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN BRK), 2006 von der Bundesregierung mit verabschiedet. Die UN BRK schreibt den Schutz und die Rechte von Menschen mit Behinderung fest. 2008 trat sie Kraft.

11 Jahre später sitzt Martina Siehoff in ihrem Rollstuhl in einem Büro im Althoffblock und sagt: „Jeder steht für sich alleine. Menschen mit Behinderung haben keine Lobby.“ Sie seien in ihrer Lebensplanung oft außen vor.

Akademisches Arbeiten mit persönlichem Assistenten

Dabei gibt es Möglichkeiten, genau das zu überwinden. Mit Martina Siehoff sitzen drei weitere Menschen im Raum, die ein selbstbestimmtes Leben führen.

Einer von ihnen ist Dr. Carsten Bender, im Vorstand des Zentrums für Hochschulbildung an der TU Dortmund zuständig für den Bereich Studium und Behinderung. Trotz einer Sehbehinderung arbeitet er auf hohem Niveau akademisch.

Möglich macht ihm dies das „Persönliche Budget“. In diesem Modell werden behinderte Menschen selbst zu Arbeitgebern, statt Hilfsleistungen von einem Träger zu beziehen. Sie melden einen Betrieb an, stellen Personal ein, halten die Stunden nach, erstellen Abrechnungen. Der Unterschied zur normalen Teilhabeleistung: Die Betroffenen können selbst bestimmen, wann sie Assistenz benötigen und wofür. Und sind nicht auf die eingeschränkten Zeiten von Dienstleistern angewiesen.

Carsten Bender hat einen Assistenten angestellt, der ihm bei Literaturarbeit und auf internationalen Tagungen hilft. „Ich stoße da an Grenzen. So wird meine Tätigkeit überhaupt erst möglich“, sagt er.

Einkaufen und Kino: Persönliches Budget hilft im Alltag

Für Martina Siehoff ist das Persönliche Budget eine Hilfe im Alltag. Minijobber helfen ihr beim Einkaufen, begleiten sie ins Kino oder zu ehrenamtlichen Terminen. Nicole Andres, die 24 Stunden beatmet werden muss, hat einen Assistenten rund um die Uhr angestellt. Dadurch kann sie als Teilhabeberaterin arbeiten und in der evangelischen Kirche mitarbeiten.

Regina Bewer hat als Angehörige wieder Freiräume für sich erobert, seit sie 2012 drei Personen sozialversicherungspflichtig angestellt hat, die sie bei der Pflege ihres schwerbehinderten Bruders entlasten. „Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich meine Ehe retten können“, sagt sie.

Das Persönliche Budget hilft diesen Menschen. Und ist doch ein gutes Beispiel dafür, was falsch läuft im Umgang mit Behinderung in der Gesellschaft. Denn das Angebot wird kaum genutzt. Der bürokratische Aufwand schreckt viele ab. Und viele Menschen wissen überhaupt nicht, dass es diese Leistung gibt.

In Dortmund gibt es beim Verein Mobile an der Roseggerstraße seit 2018 ein Beratungsteam namens Kompetenzzentrum Selbstbestimmt Leben. „Träger weisen oft nicht auf die zusätzlichen Möglichkeiten hin“, sagt Berater Michael Kalthoff-Manke.

Über die soziale Lage von Menschen mit Behinderung ist zu wenig bekannt

Anderer Ort, selbes Thema: Im Saal Rothe Erde im Rathaus sprechen Mitglieder des Behindertenpolitischen Netzwerks mit Josephine Tischner vom Stadtplanungsamt über den Bericht zur sozialen Lage. Die fehlende Lobby, die mangelnde Selbstbestimmung: Das ist auch hier ein Thema.

Im Sozialbericht sind behinderte Menschen unter „besondere Zielgruppen“ erfasst – neben Geflüchteten, EU-II-Zuwanderern und Senioren. Denn es liegen keine Zahlen zur sozialen Lage von Menschen mit Behinderung vor. Die aktuellste Aufstellung zu diesem Thema ist für Dortmund ein Bericht von 2015.

Der liefert unter anderem diese Schlussfolgerungen: Barrieren im öffentlichen Raum und bei der Mobilität schränken die Teilhabe ein. Das führt dazu, dass soziale Isolation und Einsamkeit die Freizeitgestaltung vieler Menschen mit Behinderung prägen.

Seit Jahren sinkt die Zahl von Schwerbehinderten, die eine Arbeitsstelle haben. In ganz Deutschland sind das 4,5 Prozent. Es gibt Fälle wie den des Dortmunders Maurice, die zeigen, wie schwierig die Organisation eines Jobs häufig ist. Es können Details sein, die eine Anstellung verhindern. Wie im Falle eines Mannes, der für drei Stunden bei Amazon arbeiten könnte. Doch das geht nicht, weil zu seinen Arbeitszeiten das Firmengelände von DSW21 nicht angefahren wird.

Alles entscheidet sich über die Mobilität

Überhaupt wird deutlich: Mobilität ist das entscheidende Thema. Bis 2022 sollen eigentlich alle Stadtbahn-Haltestellen barrierefrei umgebaut sein. Bisher sieht es so aus, als könnte dieser Termin nicht eingehalten werden. Eine weitere Unsicherheit: Die Zukunft des bisher städtisch organisierten Fahrdienstes, der neu ausgeschrieben und vergeben wird.

Wer den Menschen im Althoffblock oder im Rathaus zuhört, versteht schnell: Es geht ihnen nicht um Besserstellung. Sondern um Selbstbestimmung.

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