Das Gewölbe der Immanuel-Kirche in Asseln. Geht es schöner? Wohl kaum. © Tilman Abegg

Geheime Kunstschätze

Kaum jemand kennt die Schätze in Dortmunds Kirchen

Dortmunds Kirchen sind voller Kunstschätze. Einige davon sind so bedeutsam und wertvoll wie die Kunstwerke in Rom. Eine Schatzsuche an sechs einzigartigen Orten.

Dortmund

, 27.07.2018 / Lesedauer: 10 min

„Soll ich Ihnen mal Schätze in Dortmunder Kirchen zeigen, die kaum jemand kennt?“ Das fragte mich Linda Opgen-Rhein. Sie ist Künstlerin, unter anderem am Künstlerhaus und arbeitet für die Stiftung denkmalswerte Kirchen. Linda Opgen-Rhein liebt Kirchen. „Ja gern“, sagte ich.

An einem der heißesten Julitage nahmen sie und Pfarrer Michael Küstermann mich mit auf eine Tour kreuz und quer durch Dortmund, zu sechs Kirchen im Westen, Osten, Norden und Süden und in der Innenstadt. Sechs Beispiele für Dortmunds Kirchenkunstjuwelen.

Linda Opgen-Rhein ist Künstlerin, Denkmalpflegerin und Kirchenliebhaberin. © Tilman Abegg

Es wurde einer der schönsten und interessantesten Termine, die ich als Redakteur jemals wahrgenommen habe. Auch über zwei der bekanntesten Kirchen der Innenstadt habe ich Geheimnisse erfahren.

Übrigens: An einem Tag, an dem man schon im Sitzen zerfließt, gibt es kaum etwas Angenehmeres, als aus der brütenden Hitze heraus- und in eine Kirche hineinzugehen.

1. Wo der Jugendstil dich umarmt: Die Immanuel-Kirche in Marten

Von außen ist die Immanuel-Kirche in Marten so aufregend wie ein Graubrot.

Die Immanuel-Kirche in Marten. © Tilman Abegg

Doch als wir eintreten, gehen uns schier die Augen über. Der hohe Raum ist unerwartet rund. Alles ist warm und geschwungen. Flächen in verwaschenem Türkis, lichtem Orange und strahlendem Hellblau klingen zusammen im hellen, sanften Licht, durchzogen von Graten, Bögen und Laufbändern in bescheidenem Eierschalenfastweiß.

Jugendstil kann abgehoben sein, mancherorts sogar kalt und arrogant wirken, hier ist er Architektur gewordene Warmherzigkeit.

Der Innenraum der Immanuel-Kirche. © Tilman Abegg

Der Innenraum folgt der Grundidee - berührende Schönheit - bis in die Details. In den steinernen und malerischen Verzierungen verliert sich der Blick, angesichts der breiten, einfarbigen Flächen atmet die Seele auf.

Die Erhabenheit des Raumes, die aus seiner Ausgewogenheit und der spürbaren Meisterschaft des Architekten erwächst, ist nicht jene eines Herrschers, sondern die einer liebenden Mutter, eines liebenden Vaters.

Ich kann mir gut vorstellen, dass diese Kirche den Martenern zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele Jahre lang Zuflucht bot und Heimat war und heute noch ist. Was für ein Glück, dass sie die Zeit fast unbeschadet überstanden hat.

Die Immanuel-Kirche war ein unmöglicher Auftrag

Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs die Gemeinde. Ein großes Gotteshaus musste her. Eine Kaufmannsfamilie aus Marten schenkte sowohl der katholischen wie auch der evangelischen Gemeinde je ein Grundstück für einen Kirchenneubau.

Das Problem: Es sollte eine große Kirche werden, die möglichst viele Gläubige aufnehmen kann. Klassischerweise sind protestantische Kirchen nach Osten ausgerichtet, hin zur aufgehenden Sonne, Symbol für die Auferstehung. Außerdem mussten sie nach dem Vorschriftenkatalog namens Eisenacher Regulativ weitere Kriterien erfüllen, zum Beispiel in gotischer oder romanischer Form gebaut werden.

Ein Seitenfenster über der Galerie. © Tilman Abegg

Das Grundstück ist jedoch annähernd quadratisch. Eine geostete Kirche mit klassischem, langem Innenraum auf diesem Grundstück hätte nur etwa 300 Menschen Platz geboten.

Der Wuppertaler Architekt Arno Eugen Fritsche, ein Star seiner Zeit, fand einen Ausweg. Er berief sich auf das Wiesbadener Programm, ein damals junger, frischer und frecher Gegenentwurf zum verknöcherten Eisenacher Regulativ. Weniger Prinzipienreiterei, dafür mehr Leben und Freude in der Gemeinde - das waren die Forderungen.

Fritsche ordnete Altar, Kanzel, Sängerempore und Orgel an derselben Seite übereinander an. So kann die tiefe Galerie den Raum an drei Seiten umspannen. So bietet die Kirche insgesamt rund 1000 Menschen Platz.

Kirchen sind absichtlich anders als der Alltag

„Ist doch interessant“, sagt Opgen-Rhein, „moderne Kirchen sind architektonisch oft sehr minimalistisch und schlicht. Ein Gegenentwurf zu unserem Alltag, der bunt ist und voller Bilder und Filme.

Damals, 1909, war die Zeit des Nationalgeistes, der Monumentalbauten und der militärischen Strenge. Und in dieser Kirche gehen sie in eine ganz andere Richtung, nämlich Farbe, fließend, bunt, floral. Das ist doch der Hammer!“

2. Sankt-Johann-Baptist-Kirche in Brechten: Mittelalterliche Malerei in Vollendung

Rund 650 Jahre älter und daher etwas blasser ist der Innenraum der idyllisch gelegenen Johann-Baptist-Kirche in Brechten.

Die Kirche St. Johann Baptist in Brechten. © Oliver Schaper

Hier zeigt Linda Opgen-Rhein mir die Deckenmalereien im Altarraum. Es ist ein sogenanntes Weltgericht und rund 770 Jahre alt. Dass davon überhaupt noch etwas zu erkennen ist, liegt einerseits an einer aufwendigen Restaurierung in den 1960ern.

Andererseits liegt es daran, dass die Kirche damals im Aufschwung war und hier mal so richtig einen raushauen wollte. Die Künstler, die das Weltgericht gemalt haben, müssen zu den besten ihrer Zeit gehört haben. Was Besseres aus dieser Zeit, sagt Linda Opgen-Rhein, gibt es in Rom auch nicht zu sehen.

Der Innenraum der Johann-Baptist-Kirche. © Tilman Abegg

Die Bilder sind Fresken. Das Beste, was man damals für Geld kaufen konnte, weil Fresken viel robuster und beständiger sind als die Ergebnisse anderer Maltechniken.

Freskenmalerei ist ein unbarmherziger Wettlauf gegen die Zeit. Die Farbe wird in den feuchten Putz gemalt, während dieser aushärtet. Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend, ebenso die Geschwindigkeit.

Fehler beim Malen waren irreversibel, es sei denn, der Putz würde abgetragen und von Neuem wieder aufgebracht, was zeitaufwendig und teuer gewesen wäre.

Kurz: Fresken malen konnten nicht viele Menschen, und die, die es konnten, schwitzten Blut und Wasser dabei.

Das Fresko der Geretteten. © Tilman Abegg

Auch die Bilder selbst sind etwas Besonderes. Sie zeigen das Weltgericht, den größten und drohendsten Zeigefinger der christlichen Religion: Auf der einen Seite die geretteten Menschen. Ihnen ist der Aufstieg ins Himmelreich vergönnt: Gut gekleidet und glücklich werden sie von einem Engel ins Reich der ewigen Glückseligkeit geleitet. Botschaft an die Gemeindemitglieder: Sei brav, tue Buße, bereue deine Sünden, dann bist du bald alle Sorgen los, versprochen!

Auf der anderen Seite die Gefallenen: nackt und arm führt sie ein Teufel ab, dem ewigen Unglück entgegen. Die Frau ganz rechts, mit einem Baby auf dem Arm (unehelich?!), fasst dem Teufel gar ans Horn - möglicherweise ein Hinweis auf ihre unverbesserliche Fleischeslust.

Das Fresko der Verdammten. © Tilman Abegg

Botschaft: Menschen könnt ihr täuschen, Gott hingegen nicht, und wenn ihr die Regeln nicht befolgt, dann könnt ihr euch nicht rausreden!

Woran man erkennt, dass diese Bilder die Avantgarde waren

Nicht nur die Technik der Fresken ist meisterhaft, auch ihre künstlerische Gestaltung. Damals war die Romanik aktuell: gedrungene, niedrige Kirchen und in der Malerei statische Haltungen.

Die aufkommende Gotik war dagegen der richtig heiße Scheiß: überwältigend hohe, himmelstrebende Kirchenbauten und in der Malerei eine natürlichere, lebensnähere Darstellung von Menschen.

An den Deckengemälden sieht man den gotischen Spirit zum Beispiel an den unterschiedlichen Haltungen der Menschen. Und an ihren Gewändern - Faltenwürfe zählen bis heute zu den Höchstschwierigkeiten der Malerei.

Die Falten der Gewänder an der Decke der Johann-Baptist-Kirche sind ziemlich gut gemacht, und für die damalige Zeit absolut hervorragend.

3. Die Luther-Kirche in Asseln: Jugendstil macht „bäm!“

Die Luther-Kirche hat diesen typischen Kirchen-Zaubertrick besonders gut drauf: Sie wirkt innen viel größer als von außen.

Die Luther-Kirche am Asselner Hellweg. © Tilman Abegg

Vermutlich liegt das an der Höhe des Innenraums, den es so nur in Kirchen gibt. Die aufwärtsstrebenden architektonischen Elemente, typisch für Gotik und Neugotik, verstärken den Effekt.

Der Innenraum ist ein Jugendstil-Gesamtkunstwerk, ähnlich opulent wie in der Martener Immanuel-Kirche. In seinen Farben und Verzierungen wirkt er etwas weniger warmherzig, dafür prächtiger, kostbarer.

Die Seitenwand im Innenraum. © Tilman Abegg

„Man kommt in so einen richtigen Guck-Flow hinein“

„Ein Farbflash“, so nennt es Linda Opgen-Rhein, „liebevoll ausgearbeitet“. Die runden Formen und Bögen der Architektur setzen sich in Malereien, Steinmetz- und Metallarbeiten fort.

„Das Auge wird geleitet, auch inhaltlich. Man kommt in so einen richtigen Guck-Flow herein. Und man kann immer wieder von Neuem anfangen und entdeckt immer wieder etwas Neues. Das ist so ein Genuss.“

Blick ins Gewölbe: Unten in der Mitte das vom Boden aufstrebende Pfeilerbündel, der sich darüber in die Grate des Gewölbes auffächert. © Tilman Abegg

Die Kirche als Zeugnis mehrerer Epochen

1906 wurde die Kirche vom Hagener Architekt Gustav Mucke errichtet, um dem Bevölkerungswachstum der Industrialisierung gerecht zu werden. Turm und Chor des mittelalterlichen Vorgängerbaus ließ Mucke stehen und umbaute sie. Dem Turm setzte er einen neuen Helm auf und erhöhte in dadurch auf 67 Meter.

Der Chorraum aus dem 13. Jahrhundert wurde zur Seitenkapelle.

Die Durchgestaltung umfasst auch den Boden des Altarraums. © Tilman Abegg

Kunsthistorisch besonders bedeutsam sind die Jugendstilausmalungen, die filigranen Farbfenster und die Orgel.

4. Die Alte Kirche in Wellinghofen: Die Greisin unter den Dortmunder Kirchen

Am liebsten würde ich über die Alte Kirche gar nichts verraten. Sondern einfach warten, bis jeder Dortmunder mal drin war.

Tue ich aber nicht, denn erstens, wo kämen wir denn da hin, und zweitens, weil von allen Kirchen auf unserer Tour die Alte Kirche die persönlichste Erfahrung bietet. Was ich schreibe, wird keinem Leser den Eindruck eines möglichen eigenen Besuchs der Kirche vorwegnehmen.

Die Alte Kirche jedoch könnte ganz sicher so lange warten. Sie heißt schließlich „Alte Kirche“. Zeit ist für sie etwas anderes als für uns. Sie hat mehr davon.

Die Alte Kirche in Wellinghofen. © Tilman Abegg

Ihre Steine sind ihr Schmuck

Die Kirche ist umgeben von einer langen, hüfthohen Mauer, die von der Kirche aus spitz zuläuft. Der Eingang zum Kirchgarten liegt auf der einen, die Kirche auf der anderen Seite. Viele Schritte vom Gartentor zum Kirchtor, leicht bergab.

Während wir auf die Kirche zugehen, gewinnt das schlichte, weitgehend schmucklose Äußere der Kirche zunehmend an Farbenspiel durch die Natursteine, aus denen sie gebaut ist.

Die „Alte Kirche“ ist die Greisin unter Dortmunds Kirchen. Vielleicht die Älteste, die noch steht. Ihr gesamtes Mittelschiff inklusive Deckengemälde sieht höchstwahrscheinlich noch genauso aus wie im 12. Jahrhunderts. Das ist einmalig in Dortmund.

Und selbst sie ist eine Nachfolgerin: Vor ihr stand hier eine noch ältere, ein kleiner Saalbau ohne Turm aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Als die Jahreszahl noch dreistellig war.

Vermutlich Elfhundertirgendwas brannte sie ab, kurz darauf begann der Bau an der neuen Kirche, die jetzt Alte Kirche heißt. Sie wurde mehrmals erweitert, zuerst in der gotischen Zeit im 14. Jahrhundert. Aber mit dem zentralen Innenraum und dem Turm ist viel aus ihrer Anfangszeit erhalten.

Der Altarraum der Alten Kirche. © Tilman Abegg

Wir treten ein. Die Kirche wirkt innen kleiner als von außen, wo die Sonne brät und der Verkehr über die Overgünne möpelt. Hier drin ist es kühler, schlichter und viel ruhiger.

Zeit.

Linda Opgen-Rhein sagt, sie spüre die mehr als acht Jahrhunderte, die dieser Raum erlebt hat. Ich weiß nicht, wie Jahrhunderte sich anfühlen, aber dieser Raum hat was Besonderes. Vielleicht fühlen sie sich so an, die Jahrhunderte.

Sie macht mich auf die Malereien an der Decke aufmerksam. Und auf den gemauerten Bogen über dem Eingang. Schlichte Kunst, aus heutiger Sicht.

Der Innenraum der Alten Kirche mit dem sichtbar von Hand modellierten Deckenbogen. © Tilman Abegg

Opgen-Rhein weist auf die Unebenheiten des Bogens: Damals war das Bauhandwerk noch nicht so weit entwickelt, perfekte Geraden und Bögen waren nicht möglich. Die Unebenheiten zeugen vom Ringen der Handwerker, der Perfektion nahezukommen.

Die Alte Kirche sei für sie ein Ort zum Kraft- und Ideenschöpfen. Wenn sie an einem wichtigen Projekt arbeite, gehe sie in solche alten Räume. „In den Jugendstilkirchen lässt man rein“, sagt Linda Opgen-Rhein, „hier lässt man raus.“

Uralt und schlicht: Deckenmalerei der Alten Kirche. © Tilman Abegg

Die Alte Kirche erzählt dir nicht, wie schön alles ist, die Schöpfung, die Kunst, Gottes Vollkommenheit. Sie gibt dir die Möglichkeit dich selbst zu entdecken. Neue eigene Gedanken zu finden.

Die womöglich älteste Glocke Westfalens läutet hier

Die Glocke des Kirchturms stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist damit eine der ältesten noch erhaltenen Glocken Westfalens. Sie läutet nach wie vor zu besonderen Anlässen.

Die Marienkirche in der Innenstadt. © Stephan Schuetze

5. Die geheime Botschaft der Marienkirchenfenster

Eigentlich ist der Marienaltar das kunsthistorische Schwergewicht der Marienkirche. Linda Opgen-Rhein findet die Fenster drum herum spannender.

Die seien, ganz im Gegenteil zum Jugendstil-Pomp, so zart und zurückhaltend, dass sie nicht vom Altar ablenken - das war auch der Auftrag an den Künstler, Professor Johannes Schreiter 1970.

Aber man könne sie eben auch selbst, ungestört von allem anderen betrachten. Und das macht Linda Opgen-Rhein besonders gern. Die Fenster bringen, sagt sie, etwas zum Ausdruck, das sie selbst empfinde. Ihre Sicht auf die Welt, könnte man sagen.

Der Altarraum der Marienkirche: Die Schreiter-Fenster umgeben den Marienaltar. © Tilman Abegg

Die roten Flächen im unteren Teil der Fenster symbolisieren die Erde, das Maßwerk am oberen Ende den göttlichen Himmel. Die senkrechten schwarzen Linien sind der Weg der Menschen, von unten nach oben, von der Geburt zum Tod.

An vielen Stellen sind die schwarzen Linien von Stellen durchbrochen, die wie zersplittert aussehen. Das sind die Hindernisse, Krisen und Unglücke, die man erlebt. Die Gefahren auf dem Weg der Menschen ins Paradies.

„Ich hab das gesehen und sofort verstanden“, sagt Opgen-Rhein. „Die Erdung unten und der Himmel oben, und der Weg dazwischen ist durchbrochen.“

Gleichzeitig sind die Bruchstellen weiß unterlegt - die Farbe des Lichts und der Hoffnung. Und nach jedem Bruch gehen die parallelen Linien weiter - Hinweis auf die immerwährende Chance zur Versöhnung.

Die Fenster des Altarraums, aus größerer Distanz fotografiert. © Tilman Abegg

Darüber hinaus ist jeder der drei senkrechten Streifen eines Fensters von oben bis unten von einem schmalen, weißen Streifen umrahmt: Das ist die göttliche Ordnung, die alles behütend umfasst. Linda Opgen-Rhein: „Für mich ist das alles unglaublich ausdrucksstark und sprechend, obwohl es komplett abstrakt ist.“

Kunst ist die universelle Sprache

Diese Botschaft geben die Fenster nicht eins zu eins wider, wie es beispielsweise ein Text täte. Sie sind Glaskunst, die gläserne und künstlerisch eindrucksvolle Materialisierung eines Gedankens. Ihr Sinn liegt nicht im Verstehen, sondern im Nachempfinden.

„Ich bin selbst Gestalterin“, sagt Opgen-Rhein. „Ich muss versuchen, Ideen zu visualisieren. Und wenn das gelingt, ist das ein Hochgefühl. Dann gibt es eine bestimmte Korrespondenz zwischen den Menschen. Ohne Sprache, ohne Mimik. Das, was uns Menschen verbindet.“ Das auch die Fenster der Marienkirche in sich tragen.

6. Das Geheimnis der Fenster der Reinoldikirche

Reinoldi-Pfarrer Michael Küstermann zufolge kommen jeden Tag im Schnitt 400 Menschen in die Reinoldikirche. Viele von ihnen kommen nicht, um zu beten. Zum Beispiel Pärchen seien darunter, die sich für zehn oder zwanzig Minuten einfach in eine der Bänke setzen, sich umschauen und wieder gehen.

Die Dortmunder Reinoldikirche. © Hans Blossey

400 Menschen am Tag, das macht im Jahr rund 150.000 Menschen. Oder 600.000 Menschen in vier Jahren. So viele, wie in Dortmund wohnen.

Es gibt Dortmunder, die noch nie in der Reinoldikirche waren

Trotzdem kenne ich Menschen, die in Dortmund wohnen und noch nie in der Reinoldikirche waren. Diese Tatsache kann ich mir nur so erklären: Nur die wenigsten der 400 Menschen, die an einem Tag dort hingehen, sind zum ersten Mal da. Es ist eine Kirche zum Wiederkommen. Die Menschen gehen hin, einfach nur um kurz mal drin zu sein.

Die Reinoldikirche liegt sehr zentral am Ostenhellweg. Schon von außen ist sie imposant, von innen imposanter. Sie ist groß, und zwar so groß wie die Alte Kirche alt ist: in einem überwältigenden Maße.

Und sie ist schön. Es macht einfach Spaß, sich in ihr umzusehen. Ich bin überzeugt, das geht nicht nur Menschen so, die wissen, was ein Kapitell ist (der obere Abschluss einer Säule), und die von der Architektur schwärmen können.

Es ist ein hoher, weiter Raum voller Ruhe mitten in der Stadt. So hoch und weit und ruhig, dass man für sich sein kann, auch wenn noch einige andere da sind, und trotzdem nicht einsam.

Reinoldi genießt man und schweigt darüber

Zum anderen ist die Erfahrung, sich dort aufzuhalten, keine, von der man oft erzählt. Das geht mir selbst auch so, ich gehe immer wieder mal hin, aber meine Frau zum Beispiel wusste das nicht, bis ich ihr von diesem Artikel erzählt habe.

Das liegt vermutlich daran: Es ist schön, in der Kirche zu sein, aber nicht auf spektakuläre Weise wie eine große Reise oder ein gutes Konzert, von dem man erzählen würde.

Sondern auf erholsame, wohltuende Weise, wie ein Spaziergang vielleicht oder ein entspannendes Bad. Braucht man hin und wieder. Spricht man aber nicht drüber. Die Reinoldikirche ist der große Bruder eines tiefen Atemzugs.

Das Geheimnis der Fenster macht die Kirche so beliebt

Das liegt zu einem großen Teil an dem Geheimnis der Fenster. Jetzt, wo ich das Geheimnis kenne, bin ich davon überzeugt.

Pfarrer Michael Küstermann hat es mir erzählt: Bis in die 60er Jahre hatte die Reinoldikirche normale, schlichte Glasfenster. Der Innenraum war viel heller als heute. Der Glasbildhauer Hans Gottfried von Stockhausen bekam den Auftrag, die Fenster neu zu gestalten.

Er machte sie dunkler als die vorherigen. Und er bildete auf ihnen keine figürlichen Heiligendarstellungen ab, sondern gestaltete sie komplett abstrakt.

Die Fenster des Altarraums: ein Feuerwerk. © Tilman Abegg

Jetzt kommt‘s, Teil 1: Vom hinteren Teil, wo der Eingang liegt, hin zum Altarraum gestaltete er sie von Fenster zu Fenster immer aufwendiger und farbenprächtiger. Das lenkt den Blick und das Gefühl zum Altar, durch diese Lichtstimmung scheint der ganze Raum auf den Altarraum ausgerichtet, wo die Farbigkeit und der Detailreichtum der Fenster einem Feuerwerk gleichkommen.

Jetzt kommt‘s, Teil 2: Von Stockhausen ging es offenbar nicht darum, die Menschen mit seinen Fenstern in Staunen über sein künstlerisches Können zu versetzen. Er entwarf sie absichtlich so, dass die Fenster selbst nicht in Erinnerung bleiben. Stattdessen ging es ihm um die Lichtstimmung im Raum: gedämpft, andächtig, vielfarbig und berückend.

Zum Altarraum, rechts im Bild, nehmen die Fenster an Farbigkeit und Detailreichtum zu. © Tilman Abegg

Das scheint ihm sogar wichtiger gewesen zu sein als sein künstlerischer Geltungsdrang. Was für eine bescheidene Geste!

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