Wie alt die Kastanie an der Kreuzung Eichholzstraße / Lichtendorfer Straße wirklich ist, weiß niemand. „Der Baum muss weit über 100 Jahre alt sein“, sagt Helga Lips, geborene Middelmann. „Das ist unser Lieblingsbaum. Wir sind mit ihm aufgewachsen. Früher stand die Kastanie auf einer Wiese vor unserem Elternhaus. Dann wurde die Straße ausgebaut, man musste immer mehr vom Grundstück abgeben.“
Doch der Baum blieb stehen. Erst auf der Wiese vor dem Haus, dann auf dem Bürgersteig neben der Straße. Wie für die Ewigkeit gemacht. Ein natürliches Wahrzeichen mitten im Dorf.

Doch nun scheinen die Tage der stolzen Kastanie gezählt. Das geht aus einer kurzen Mitteilung der Stadt Dortmund hervor. „Weil sie nicht mehr verkehrssicher sind, müssen mehrere Bäume in den Stadtbezirken Aplerbeck, Brackel und Scharnhorst gefällt werden“, heißt es da. Auf der Liste stehen insgesamt 30 Bäume im Stadtbezirk Aplerbeck. Darunter auch die alte Kastanie in Lichtendorf.
„Wir haben als Kinder unter der Kastanie gespielt, meine Schwester hat unter ihr geheiratet, wir haben unter ihr getanzt“, sagt die 83-Jährige. „Meine Vorfahren“, vermutet Helga Lips, „haben diesen Baum gepflanzt.“
Er stand ganz in der Nähe des alten Kottens der Familie Mittelmain. Zum Anfassen nah. „Ich weiß noch, wie ich als Kind im Haus von Oma und Opa aus dem Wohnzimmerfenster den Vögeln beim Brüten in dem alten Baum zuschauen konnte“, erzählt Helgas Neffe Dirk Kersting.

Er hatte auch die rot-weiße Banderole um den mächtigen Stamm gesehen, die für Bäume nichts Gutes verheißt. „Ich dachte, das kann doch nicht sein“, sagt der 56-Jährige. Er setzte sich sofort mit der Stadt in Verbindung. „Dort war man sehr freundlich und hat mir erklärt, dass die Kastanie wohl ein paar Sommer lang zu wenig Wasser bekommen hat und jetzt von einer Krankheit befallen ist“, sagt Kersting.
Sie müsse gefällt werden. Weißfäule und Braunfäule, das habe sich über die Jahre entwickelt. „Das Grünflächenamt kann keine Verkehrssicherungspflicht für den Baum übernehmen.“
Wurzeln bis in den Keller
Dass die alte Kastanie so viele Jahre an der viel befahrenen Kreuzung „überlebt“ hat, ist ohnehin ein wenig verwunderlich. Wenn man die winzige Baumscheibe und dann den mächtigen Baum sieht, fragt man sich, wie die Kastanie überhaupt an ihr Wasser gekommen ist.
Helga Lips hat dafür eine gute Erklärung: die tiefen Wurzeln. „Wir hatten ein altes Haus, der Boden war gestampfter Lehm, und da sind die Wurzeln der Kastanie ganz tief reingegangen.“

So viele Erinnerungen hängen an dem alten Baum. Dass er nun gefällt werden muss, tut Helga Lips weh. „Für mich geht mit der Fällung das Gesicht des Stadtteils verloren“, sagt ihr Neffe. „Ja, das trifft uns sehr. Wenn man aus Sölde hoch kommt, sieht man den alten Baum sofort“, sagt die 83-Jährige. Mit der geforderten Ampel an der Kreuzung habe die Fällung aber nichts zu tun. „Das hat mir das Grünflächenamt bestätigt“, sagt Dirk Kersting.

Doch nicht nur Tante und Neffe trauern um den alten Baum und können nicht verstehen, dass er gefällt werden soll. Mehrere Bürgerinnen und Bürger haben sich nach der Nachricht ebenfalls bei der Stadt Dortmund gemeldet: „Es wird wohl noch einmal eine Überprüfung der Standsicherheit geben“, sagt Aplerbecks Bezirksbürgermeister Jan Gravert. Große Chancen, die Kastanie zu retten, sieht er allerdings nicht.
Dieser Artikel ist erstmalig am 24. März veröffentlicht worden.