Michael Haritz freute sich auf seine Premiere im Maison de France. Es war der 23. August 1983, und der junge Radsportler und Anstreicher hatte erst an diesem Morgen seinen Beitritt zur pazifistischen Vereinigung „Fasten für den Frieden“ erklärt. Haritz wollte Front gegen Frankreichs Atombombenversuche im Pazifik machen. Sie hatten einen Gesprächstermin beim französischen Generalkonsul erhalten, in der dritten Etage des Konsulats am Berliner Kurfürstendamm. Was der Friedensaktivist nicht ahnen konnte:
In der wegen Renovierung halb leer stehenden Etage darüber, direkt unter dem Dach, tickte zur Besuchszeit eine Bombe. 25 Kilo Sprengstoff detonierten um 11.21 Uhr. Das Dach stürzte ein. Trümmer krachten ins dritte Geschoss. 23 Besucher wurden verschüttet und schwer verletzt, darunter ein Fünfjähriger und ein Baby. Michael Haritz erstickte im Schutt.
Der gefährliche Westfale
Der Tod des 26-Jährigen und der Anschlag selbst sind in Deutschland in Vergessenheit geraten. Es waren ja Jahrzehnte alltäglichen Terrors in Westeuropa. Alleine 1983 kamen 162 Menschen bei Anschlägen um. Nur in der Bundesrepublik herrschte zu dieser Zeit eine trügerische Pause, nachdem im November 1982 mit Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar zwei Anführer der Rote Armee Fraktion (RAF) verhaftet werden konnten. Aber was wusste die Öffentlichkeit schon von weiteren Terrorbanden und deren Aktivität? Hätte ihr der Name des Täters vom Maison de France etwas gesagt? Wenig. Auf RAF-Fahndungsplakaten tauchte er nicht auf. Er gehörte nicht zu den „Baader-Meinhofs“. Dabei war dieser Mann nach einer damaligen Analyse des Bundeskriminalamtes nicht nur hochgefährlich. Er galt den Fahndern als „dienstältester deutsche Terrorist aller Zeiten“. Sein Name: Johannes Weinrich. Er sitzt immer noch in Haft. Als letzter linksextremer Terrortäter.
Weinrich ist Westfale. Geboren wurde er 1947 im Städtchen Brakel im Kreis Höxter. Die Familie zog bald an die Ruhr nach Schwerte. Der Sohn eines Oberstudienrates machte am Max-Plack-Gymnasium in Dortmund sein Abitur. 1966 wechselte er an die Ruhruniversität Bochum ins Studienfach Journalistik, engagierte sich beim Asta und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS und eröffnete einen linken Buchladen in der Overbergstraße in Uni-Nähe. Jahre später tauchte er in die extremistische Szene ab. Zuerst machte er bei den Revolutionären Zellen (RZ) mit, verschwand in ein Ausbildungslager der palästinensischen PFLP im Nahen Osten und wurde schließlich engster Vertrauter und Vize des berüchtigten „Monsters“ der terroristischen Gewalt: Von Ilich Ramirez Sanchez, genannt Carlos der Schakal.

Der Venezoelaner dachte sich zwischen 1973 und 1994 zahllose spektakuläre Verbrechen aus. Wie die Geiselnahme bei der OPEC-Ministerkonferenz 1975 in Wien mit drei Toten. Wie die in einer Befreiungsaktion der Israelis gescheiterte Entführung der Air France-Maschine nach Entebbe 1976. Wie eben auch die Bombe im Konsulat am Kurfürstendamm. 1979 gründete Carlos die „Organisation Internationaler Revolutionäre“, kurz OIR. Geburtshelfer war offenbar ein syrischer Geheimdienst. Und Johannes Weinrich bald der geschickte Organisator.
Das Netzwerk
Weinrich strickte ein europaweites OIR-Terrornetzwerk, das deutsche Mitkämpfer einschloss, aber vor allem in die Palästinenserkreise des Nahen Osten reichte. Was lange kaum jemand wusste: Die geschützte logistische Basis dafür baute er in den Staaten des Warschauer Paktes auf, vor allem in der DDR. In Ost-Berlin ging er ein und aus. „Kontaktperson zwischen Carlos und der Stasi war Johannes Weinrich“, recherchierte 2012 die Autorin Regine Igel für ihr Buch „Terrorismus-Lügen“: „Es ging ganz konkret um operative Einsätze, um Lieferung von Waffen und Sprengstoff, um falsche Pässe, logistische Lagebesprechungen und konspirative Wohnungen“.
Aus Stasi-Dokumenten geht die Genehmigung des zuständigen Ministers Erich Mielke für eine „kurzzeitige Aufbewahrung sowie Transport von Waffen, die zur Ausrüstung von Kämpfern im Operationsgebiet vorgesehen sind“, hervor. 1997, nach der Einheit, schrieb DDR-Spionagechef Markus Wolf ein spektakuläres Geständnis in seine Memoiren: „Ende der 70er Jahre waren das Ministerium und meine Abteilung in eine Reihe von Allianzen mit Kräften verwickelt, die Terror als Taktik benutzten: die PLO, der frei tätige Venezoelaner Ilich Ramirez Sanchez und die westdeutsche Terrorgruppe RAF. Unser Enthusiasmus für solche Partnerschaften variierte von Fall zu Fall, weit mehr als ich je fähig gewesen wäre, dies damals zuzugeben“.
Weitere Papiere belegten später Spuren in konkreten Fällen. Der Staatssicherheits-Offizier Wilhelm Borostowski berichtete am 4. Mai 1983 drei Monate vor der Kudamm-Explosion, dass „operativ gesicherte Unterlagen von Heinrich Schneider vorliegen“. Danach plane die „Separat“-Gruppe einen terroristischen Anschlag auf ein Konsulatsgebäude Ecke Kurfürstendamm/Uhlandstraße in Westberlin, „das als Maison de France bezeichnet wird“. So hat es der 2019 verstorbenen und damals als Abteilungsleiter im westdeutschen Verfassungsschutz zuständige Lothar Dahlke aufgeschrieben.
Die Stasi wusste, was passieren sollte. Sie wusste, durch wen. Denn Johannes Weinrich, mit dem sie im konspirativen Objekt Neubrück/Klein-Köris Kontakt hielt, trug längst einen von der Staatssicherheit vergebenen Tarnnamen: Eben Heinrich Schneider. Die Truppe von Carlos hieß bei ihr „Gruppe Separat“. Den Sprengstoff hatten Mielkes Leute bei Weinrich zu dessen Ärger bei einer seiner Einreisen aus dem Nahen Osten beschlagnahmt. Vielleicht ein Versehen.
Nachdem Stasi-Mann Helmut Voigt im August den Befehl erhielt, den gefährlichen Stoff Nitropenta dem Carlos-Vertrauten zurückzugeben, wurde der Sprengsatz in einem Fahrzeug der syrischen Botschaft in den Westteil Berlins geschafft und dort im Konsulat versteckt. Transporteur war wahrscheinlich ein Mitarbeiter der syrischen Vertretung. Die Bombe explodierte tags darauf und tötete Michael Haritz.
Geliebte Magdalena
Wer war der Carlos-Organisator damals? Ein überzeugter Linksradikaler? Brachte er aus seiner Dortmunder Zeit und der an der Bochumer Uni eine ideologische Haltung mit, die die Grundlage für einen menschenverachtenden Terror wie den gegen einen unschuldigen Konsulatsbesucher bildete? Oder gab es andere, private Motive? Die Antworten machen die Geschichte dieses Ausnahme-Terroristen spannend.
Sicher ist heute, dass Weinrich große Summen Geld aus Kassen im Nahen Osten und Südosteuropa erhielt. Er mordete im Auftrag arabischer Organisationen und östlicher Geheimdienste. Ein politischer Söldner, unterwegs mit einem Dutzend Alias-Namen. Die mutmaßlichen Ziele lagen vornehmlich im Ausland und wurden später nur zum Teil strafrechtlich verfolgt. Ein Raketenabschuss auf eine israelische Boeing am Flughafen Paris-Orly 1975. Der Bombenanschlag auf den Bahnhof von Marseille. Ein Attentat auf den saudi-arabischen Botschafter in Athen 1983. Der Bombenanschlag in München 1981, der dem Radio Free Europa galt.

Tief im kollektiven Gedächtnis der Franzosen steckt besonders die Erinnerung an die Bombe im Express „Le Capitole“ Paris-Toulouse 1982. Es ist der Abend des 29. März kurz vor 20.45 Uhr. Der Express ist gerade zwei Stunden unterwegs, als nahe Limoges in dem mit 300 Menschen besetzten Zug ein Sprengsatz explodiert. In Waggon 18, der gerne von hochrangigen Politikern wie dem späteren französischen Staatschef Jacques Chirac genutzt wird, fliegt die Seitenwand heraus. Fünf Fahrgäste sterben, 25 werden schwer verletzt. Die Schwester des Finanzministers Jean-Pierre Fourcade überlebt nicht. Sie ist eines der Opfer, die durch das zerrissene Außenteil des Capitole ins Freie geschleudert werden. Auch diese Morde kreiden die Franzosen dem deutschen Terror-Planer an.
Dass er und sein Chef Carlos nicht wenige Schläge gegen französische Einrichtungen führte, hatte offenbar noch ein ganz spezielles Motiv: Die Sehnsucht beider Männer nach einer von beiden begehrten Frau und der Versuch, diese Frau aus der Haft freizupressen. Es waren französische Behörden gewesen, die ihre Komplizin Magdalena Kopp vor einem geplanten Attentat auf die Botschaft Kuwaits festgenommen hatten. Kopp und Weinrich kannten sich seit 1972. Sie verliebten sich, lebten länger gemeinsam in Bochum. Als Magdalena über Weinrich Carlos kennenlernte, spannte der Venezoelaner dem Vertrauten die Geliebte aus und heiratete sie. Der änderte nichts am gemeinsam ausgelebten blinden Terror-Eifer des Trios.

Die Zigarettenschachtel
Die Sicherheitsbehörden in Westdeutschland, wo der Bundesinnenminister schon nach dem Berliner Anschlag am 1. September 1983 einen Bekennerbrief von Carlos erhalten hatte („Wir haben das französische Konsulat in West-Berlin am 25. August um 11.50 zerstört“), wussten um 1984 herum gut Bescheid über den Terroristen aus Westfalen und wohl auch um seine Drähte in die DDR. Die Fahndung nach ihm lief zunächst intensiv.
Sie soll, so schrieb der leitende Verfassungsschutz-Mann Dahlke in seinem Buch „Deckname L“, aber dann plötzlich gestoppt worden sein. Warum? Wollte die Bundesregierung - wie in bekannten anderen Terror-Fällen - keinen Streit mit Ost-Berlin? Oder keinen Ärger mit Ländern in Nahost?
Es kam die Zeit, als die Geschäfte für die Carlos-Gründung OIR einbrachen. Auch die Fahndungs-Zurückhaltung galt nicht auf Dauer. 1991 wurden Mitarbeiter von Mercedes in Syrien durch ein Foto in einem „Stern“-Artikel aufmerksam. „Den kennen wir doch. Ist das nicht Peter Schmidt?“. Johannes Weinrich alias Peter Schmidt soll die beiden danach auf dem Flughafen Damaskus bedroht haben. Die cleveren Daimler-Leute angelten sich eine Lucky Strike-Schachtel Weinrichs aus einem Abfallkorb und gaben sie an deutsche Behörden weiter. Die Fingerabdrücke passten zum Gesuchten.
Weinrich setzte sich in den Jemen ab, was die Ermittler mitbekamen. Das klamme Land brauchte deutsches Geld. Der Terrorist wurde 1995 in Aden verhaftet und mit einem Bundeswehrjet abgeholt. Wegen des blutigen Anschlags auf das Maison de France 1983 kam er in Berlin 1996 vor Gericht und wurde im Jahr 2000 zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Die Richter stellten die „besondere Schwere der Schuld“ fest, was eine vorzeitige Entlassung erst frühestens nach 20 Jahren ermöglicht. Dabei ist die Liste französischer Anklagen gegen den Westfalen viel länger als die deutsche. Könnten es am Ende 12 Morde und Mordversuche gewesen sein? Oder auch 20? Vieles bleibt Spekulation in dieser Terror-Biografie.
Der Versuch, den schon 2000 erstmals Verurteilten 2004 in Deutschland in einem zweiten Prozess wegen weiterer Taten zur Verantwortung zu ziehen, scheitert peinlich. Sechs werden ihm zunächst vorgeworfen, so der gegen den Sender in München, auf Bahnen in Frankreich und gegen den Diplomaten in Griechenland. Aber die Staatsanwaltschaft kann nur unvollständig Akten vorlegen. Die als Zeugin geladene Magdalena Kopp verweigert die Aussage. Carlos, in Paris selbst zu Lebenslang verurteilt, wird aus Sicherheitsgründen ein persönlicher Auftritt in Berlin versagt. Andere Zeugen erinnern sich zu vage. Und Weinrich selbst? Schweigt. Wie immer. Am Ende stellt Richter Ehestedt fest: „Wir wissen nicht, was wirklich war“. Es folgt der Freispruch. Ein französisches Auslieferungsersuchen wird abgelehnt.
Wegen Mordes an Michael Haritz sitzt Johannes Weinrich fortan in Berlin in Haft. In Abwesenheit erfolgt eine lebenslange Verurteilung in Paris. Carlos, der Schakal verbringt seine Strafe im französischen Gefängnis. Magdalena Kopp verstirbt 2015 nach schwerer Krankheit. Für den Mann aus Brakel bleibt das Leben bisher dreigeteilt. Ein Drittel in Westfalen. Ein Drittel in der Welt des Terrors. Ein Drittel hinter Gitter.
Inzwischen bescheinigen Gutachter dem heute 77-Jährigen, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehe, wie die Bild-Zeitung berichtet. Demnach könnte Weinrich seine letzten Jahre auch in Freiheit verbringen. Der Terrorist jedoch ziehe es vor, im Gefängnis zu bleiben. Warum? Eine Stellungnahme dazu habe sein Anwalt abgelehnt, berichtet die Redaktion und stellt auf Basis ihrer Recherchen die Vermutung an, der Deutsche könne womöglich eine weitere Haftstrafe in Frankreich fürchten. Hier war er in der Vergangenheit ebenfalls verurteilt worden.