Über vier Millionen Menschen sind seit russischen Angriff auf die Ukraine aus ihrem Land geflohen. Wir erzählen die Geschichten von vier Frauen, die in Dortmund angekommen sind.

© Fotos: Schaper, Montage: Klose

„Jetzt oder nie, sonst kommen wir nicht lebend raus“ – vier Flucht-Geschichten

rnUkraine-Krieg

Fast 5000 Menschen sind aus der Ukraine nach Dortmund geflohen. Wir wollen erzählen, was sie dabei erlebt haben. Vier Geschichten – über Panik, zerstörte Träume und die Hoffnung, die ein kleiner Hund schenken kann.

Dortmund

, 17.04.2022, 16:30 Uhr / Lesedauer: 5 min

Seit dem frühen Morgen des 24. Februar tobt der Krieg in der Ukraine. Menschen fliehen – auch nach Dortmund. Fast 5000 Menschen sind in der Ruhrgebietsstadt offiziell registriert worden.

Sie alle haben etwas vor und auf der Flucht erlebt. Wir haben Ukrainerinnen getroffen und uns ihre Geschichte erzählen lassen. Vier von ihnen geben wir in diesem Artikel wieder:

Viktoria Budnikova, 52, aus Kiew:

Eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission hilft Viktoria Budnikova (m.) dabei eine Wohnung für ihre Tochter Valeria Budnikova (r.) zu finden. Sie war zunächst mit ihrer Schwester in Düsseldorf untergekommen.

Eine Mitarbeiterin der Bahnhofsmission hilft Viktoria Budnikova (m.) dabei eine Wohnung für ihre Tochter Valeria Budnikova (r.) zu finden. Sie war zunächst mit ihrer Schwester in Düsseldorf untergekommen. © Schaper

„Wir Ukrainer haben etwas zu verlieren - unser Land. Das haben wir den russischen Angreifern voraus. Wir werden unser Land bis zur letzten Sekunde verteidigen. Natürlich habe ich Angst, aber wenn ich gebraucht werde, werde ich zurück in die Ukraine fahren und kämpfen.“

Viktoria Budnikova ging es gut vor dem Krieg. Mit ihrem Mann und ihren beiden Töchtern lebte sie in einem Einfamilienhaus in einem Vorort von Kiew. In der Hauptstadt leitete die 52-Jährige zwei Reisebüros in einem Einkaufszentrum – von dem nach einem Raketenangriff jetzt nichts mehr übrig ist.

Wie für so viele Ukrainer beginnt der Krieg auch für Familie Budnikova mit den Detonationen am frühen Morgen des 24. Februars. An diesem Tag treffen russische Raketen den Flughafen von Kiew, in dessen Nähe die Familie wohnt.

Der Krieg haftet noch an der 20-jährigen Valeria Budnikova. Als ein Zug im Dortmunder Hauptbahnhof zischend entlüftet, zuckt sie zusammen. Bei lauten Geräuschen ist ihr noch immer unwohl.

Der Krieg haftet noch an der 20-jährigen Valeria Budnikova. Als ein Zug im Dortmunder Hauptbahnhof zischend entlüftet, zuckt sie zusammen. Bei lauten Geräuschen ist ihr noch immer unwohl. © Schaper

Sofort räumen sie Matratzen in den Keller und harren dort die ersten Tage aus. Die Bomben fallen fast immer nachts. Wie die Wände wackeln, spüren sie auch im Keller. Sie haben Angst.

Eine Freundin kann vor lauter Angst ihr Baby nicht mehr stillen

Sie müssen dort weg, das ist Viktoria Budnikova klar: Je mehr Wohnhäuser getroffen werden, desto drängender wird der Gedanke für die 52-jährige Mutter und ihre Familie. Eine Freundin von Viktoria Budnikova hat eine elf Monate altes Baby. Sie kann es nicht mehr stillen. Die Angst bringt die Milch zum Versiegen.

Viktoria Budnikova flüchtet mit ihren beiden Töchtern, der Freundin und ihrem Baby am 5. März. Zuerst nach Lwiw in der West-Ukraine. Auf ihrem Handy zeigt die 52-Jährige Videos von überfüllten Bahnsteigen und Feldbetten in Hotellobbys.

Handyaufnahmen vom überfüllten Bahnsteig in Lwiw. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer versuchen zu Beginn des Krieges über die west-ukrainische Stadt aus dem Land zu kommen.

Handyaufnahmen vom überfüllten Bahnsteig in Lwiw. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer versuchen zu Beginn des Krieges über die west-ukrainische Stadt aus dem Land zu kommen. © SchaperHandyaufnahmen vom überfüllten Bahnsteig in Lwiw. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer versuchen zu Beginn des Krieges über die west-ukrainische Stadt aus dem Land zu kommen.

Ein genaues Ziel haben die Frauen nicht. Hinter der Grenze bietet ihnen jemand eine Fahrt nach Dortmund an. Sie steigen ein. Nach elf Tagen Flucht kommen sie im Ruhrgebiet an, für die beiden Töchter – sie sind 21 und 20 Jahre alt – geht es weiter nach Düsseldorf. In der Wohnung des Dortmunder Ehepaars, bei dem Viktoria Budnikova, ihre Freundin und das Baby unterkommen, ist nicht genug Platz.

Ein Mann nimmt die Töchter in seiner Wohnung auf. Er ist nett zu ihnen, sagt die 20-jährige Valeria Budnikova. In einem Geschäft dürfen sie sich neue Kleidung aussuchen. Der Gastgeber bezahlt. Aber die Schwestern möchten näher bei ihrer Mutter sein. Mit Hilfe der Bahnhofsmission finden sie eine Wohnung in Dortmund.

Alexandra Teslink, 34, aus Dnipro:

Mit ihren Söhnen Dimitry (r.) und Konstantin (l.) kommt Alexandra Teslink zunächst in einer Unterkunft der Stadt an der Braunschweiger Straße unter, die von der Diakonie betrieben wird.

Mit ihren Söhnen Dimitry (r.) und Konstantin (l.) kommt Alexandra Teslink zunächst in einer Unterkunft der Stadt an der Braunschweiger Straße unter, die von der Diakonie betrieben wird. © Schaper

„Im russischen Staatsfernsehen heißt es, die russischen Soldaten würden die Menschen in der Ukraine retten. Aber wovor sollen wir gerettet werden? In Russland leben sie in ihrer eigenen Welt, die mit der Realität wenig zu tun hat.“

Als die russische Armee am 24. Februar mit Luftschlägen die Ukraine angreift, sitzt Alexandra Teslink wie jeden Morgen schon früh an ihrem Computer und arbeitet. Aus der Ferne hört sie die dumpfen Schläge. Zunächst weiß sie sie nicht einzuordnen. Trotz der Drohungen Putins hat die 34-Jährige nicht mit Luftschlägen gerechnet.

Dass die russische Armee die Ukraine angreift, ergibt für sie keinen Sinn. Viele Ukrainer sprechen wie sie russisch. Fast jeder ihrer Bekannten hat Verwandte in Russland. Ihr Großvater war Soldat der Sowjetunion. Nach seinem Dienst ging er nach Russland, weil Soldaten dort bessere Bezüge bekamen.

Feuer am Atomkraftwerk

Wenn sie jetzt mit ihm telefoniert, glaubt er nicht, was seine Enkelin ihm aus der Ukraine berichtet. Alexandra Teslink versucht nicht, ihren Großvater zu belehren. Es würde ihn nur verwirren, glaubt sie.

Als russische Truppen ein Atomkraftwerk etwa hundert Kilometer entfernt beschießen und ein Feuer ausbricht, beschließt sie zu flüchten. Sie packt drei Rucksäcke – nur das Nötigste. Dann fährt sie mit ihren Söhnen Dimitry (11) und Konstantin (8) zum Bahnhof. Der Vater bleibt in Dnipro.

Möglichst schnell will Alexandra Teslink für ihre Kinder eine Schule finden. Außerdem eine Wohnung. Das steht ganz oben auf der Liste der Mutter. Für die Hilfsbereitschaft in Deutschland und Dortmund sei sie sehr dankbar, sagt sie. Sie ist sich aber auch sicher, dass die nicht ewig währen wird. „Wir können umsonst Bahnfahren und bekommen viele Hilfen, irgendwann werden Menschen bestimmt fragen, warum es das für uns gibt, obwohl wir nicht hierherkommen, für sie aber nicht.“

Möglichst schnell will Alexandra Teslink für ihre Kinder eine Schule finden. Außerdem eine Wohnung. Das steht ganz oben auf der Liste der Mutter. Für die Hilfsbereitschaft in Deutschland und Dortmund sei sie sehr dankbar, sagt sie. Sie ist sich aber auch sicher, dass die nicht ewig währen wird. „Wir können umsonst Bahnfahren und bekommen viele Hilfen, irgendwann werden Menschen bestimmt fragen, warum es das für uns gibt, obwohl wir nicht hierherkommen, für sie aber nicht.“ © Schaper

Am 6. März um 17 Uhr bekommen sie einen Zug Richtung Lwiw. Der Zug ist voll. Die Strecke führt an Kiew vorbei. Alexandra Teslink hört die Alarmsirenen und sieht die Explosionen. Plötzlich ist sie dem Krieg ganz nah. Sie hat Angst.

Damit der Zug nicht zum Ziel wird, bleibt das Licht im Inneren ausgeschaltet. Alexandra und ihre Söhne liegen im Gang. Ratternd bewegt sich der Zug durch die Nacht, neben sich hört die 34-Jährige die schlafenden Hunde schnaufen.

Die gesamte Ukraine gleicht einer Bombe

Sie schaffen es nach Lwiw und über die Grenze. Dort nehmen sie freiwillige Helfer mit nach Dortmund. Den Namen der Stadt hat Alexandra Teslink schon mal gehört, weil eine entfernte Bekannte in Körne wohnt – das reicht ihr als Grund. Unterkommen kann sie dort nicht.

Wann und ob sie je wieder in die Ukraine zurückkehren wird, weiß sie nicht. Für ihre Kinder sieht sie in ihrer Heimat keine Perspektive. Putin, da ist sie sich sicher, werde sein Wort immer wieder brechen. Für sie gleicht die gesamte Ukraine einer Bombe, die jederzeit explodieren kann. Sie will, dass ihre Kinder in Frieden aufwachsen können. Ohne Bomben. Ohne Krieg.

Lena Lubezka, 48, aus Odessa:

Vor der Anlaufstelle für Geflüchtete am Propsteihof erzählt Lena Lubezka ihre Fluchtgeschichte. Ihr Mann ist ist Teil der Einheiten der Territorialverteidigung und unterstützt die Armee. Die 48-Jährifge vermisst ihn, doch sie glaubt: "Dass er weiß, dass wir in Sicherheit sind, hilft ihm, seine Aufgabe zu erfüllen."

Vor der Anlaufstelle für Geflüchtete am Propsteihof erzählt Lena Lubezka ihre Fluchtgeschichte. Ihr Mann ist ist Teil der Einheiten der Territorialverteidigung und unterstützt die Armee. Die 48-Jährifge vermisst ihn, doch sie glaubt: "Dass er weiß, dass wir in Sicherheit sind, hilft ihm, seine Aufgabe zu erfüllen." © Schaper

„Krieg gibt es in der Ukraine ja schon seit 2014, aber als Putin die ukrainischen Provinzen Luhansk und Donezk als ,unabhängige Volksrepubliken’ anerkannt hat, wusste ich, dass ein Angriff auf die gesamte Ukraine kurz bevorsteht.“

Lena Lubezka packt kurz nach der Rede Putins einen Notfallkoffer mit Medikamenten, Kleidung und einer Karte mit Kellern und Tiefgaragen in der Nähe, in denen sie und ihre Familie bei Luftangriffen Schutz suchen können.

Die ersten Tage suchen sie Schutz in der Badewanne

Wenn die Sirenen heulen, legt sie sich in den ersten Tagen mit ihren Kindern Margarita (8) und Bogdan (6) in die Badewanne, um Schutz zu suchen und hofft, dass ihr Haus nicht getroffen wird. Ist sie draußen, achtet sie darauf, wo sie entlangläuft. Die ukrainischen Behörden haben der Bevölkerung eine Regel für Bombenangriffe mit auf den Weg gegeben: Zwei Wände in der Nähe sind gut, Glasfassaden sind schlecht.

Bogdan (6) und Margarita (8) sind mit ihrer Mutter Lena Lubezka vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen.

Bogdan (6) und Margarita (8) sind mit ihrer Mutter Lena Lubezka vor dem Krieg aus der Ukraine geflohen. © Schaper

Für Lena Lubezka ist das plötzlich Alltag. Selbst an Krieg kann man sich gewöhnen. Nach zwei, drei Tagen hört sie noch immer die Einschläge, aber die Panik ist weg. Sie nähert sich erst dann wieder, als die Einschläge der Raketen näher kommen.

Am 14. März geht es nicht mehr. Mit ihren Kindern steigt sie in den Zug. Über Rumänien und Österreich flüchten sie nach Deutschland und Dortmund. An allen Stopps werden sie mit ukrainischen Flaggen empfangen.

Jedes Wort ist ein Lebenszeichen

Ihr Mann bleibt in der Ukraine. Er ist Mitglied der Territorialverteidigung, die aus ukrainischen Reservisten und Freiwilligen besteht. Sie sollen Infrastruktur und Zivilisten schützen und die Armee unterstützen. Einmal am Tag telefoniert sie mit ihm. Weil er in der Armee ist, darf er nicht sagen, wo er ist. Aber das ist nicht so wichtig – solange er etwas sagt, ist es ein Lebenszeichen.

Mariia Nechekhov, 16, aus Hostomel:

Mariia Nechekhov (l.) ist mit ihrer Mutter Oksana und ihrem Vater Oleksandr aus der Ukraine geflohen. Vor der Anlaufstelle für Geflüchtete im Propsteihof erzählt sie ihre Fluchtgeschichte.

Mariia Nechekhov (l.) ist mit ihrer Mutter Oksana und ihrem Vater Oleksandr aus der Ukraine geflohen. Vor der Anlaufstelle für Geflüchtete im Propsteihof erzählt sie ihre Fluchtgeschichte. © Schaper

„Jetzt oder nie, das war der Gedanke, den ich hatte. Sonst kommen wir vielleicht nicht mehr lebend aus dem Ort heraus. Mit den ganzen Trümmern sah es aus wie im Film. Man konnte das gar nicht glauben.“

Als der Krieg ausbricht, ist Mariia Nechekhov 15 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer Familie in Hostomel, im Nord-Westen von Kiew, nahe des strategisch wichtigen Flughafens Antonov International Airport.

Mutter und Tochter sind neun Tage getrennt

Als der Angriff auf den Flughafen beginnt, ist sie mit ihrem Vater zu Hause. Die Mutter hat Dienst im Krankenhaus. Oksana Nechekhov (44) ist Ärztin in einer Entbindungsklinik in Kiew. Von ihrer Tochter und ihrem Mann Oleksandr ist sie nur etwa fünf Kilometer Luftlinie entfernt, doch sie wird sie die folgenden neun Tage nicht sehen.

Die Brücke, die aus dem Ort herausführt, ist zerstört. Russische Scharfschützen sollen auf der Lauer liegen, wird erzählt. Mariia und ihr Vater müssen ausharren. Russische und ukrainischen Truppen liefern sich harte Gefechte um den Flughafen.

Dieses Bild hat uns Oksana Nechekhov zugeschickt. Ein Haus in der Nähe des Wohnorts der Familie ist nach einem Angriff zerstört.

Dieses Bild hat uns Oksana Nechekhov zugeschickt. Ein Haus in der Nähe des Wohnorts der Familie ist nach einem Angriff zerstört. © privat

Die Häuser in ihrer Straße werden zerstört. Erst vor ein, zwei Jahren, wurde der Straßenzug bebaut, jetzt ist er verwüstet. Bilder zeigen eingedrückte Dächer und Häuser, aus deren Türen flammen schlagen. Während ihre Tochter und ihr Mann zuhause festsitzen, kümmert sich die Mutter in der Geburtsklinik um verletzte ukrainische Soldaten.

Sie, die normalerweise dabei hilft, Leben in die Welt zu bringen, versucht nun, Soldaten vor dem Tod zu bewahren. Immer wieder müssen die werdenden Mütter in den Keller der Klinik, wenn die Sirenen heulen. An einem Tag laufen sie diesen Weg zehnmal. Oksana Nechekhov bleibt neun Tage in der Klinik.

Das Foto zeigt den Keller der Geburtsklinik "Storch" in Kiew. Bei Luftangriffen suchen Mitarbeitende und Patientinnen hier Schutz.

Das Foto zeigt den Keller der Geburtsklinik "Storch" in Kiew. Bei Luftangriffen suchen Mitarbeitende und Patientinnen hier Schutz. © privat

Am neunten Tag besteht die Möglichkeit zur Evakuierung. Über eine provisorische Brücke können der 70-jährige Oleksandr und seine Tochter Hostomel verlassen. Auf der anderen Seite des Flusses warten Bekannte der Mutter, die sie abholen und in die Klinik bringen.

Mit dabei ist jetzt auch ein kleiner Hund. Sie fanden ihn, als sie die Flucht aus ihrem Haus wagten. Mariia tauft ihn Armani – wie die Modemarke.

Oleksandr Nechekhov wärmt den kleinen Hund namens Armani in seiner Jacke.

Oleksandr Nechekhov wärmt den kleinen Hund namens Armani in seiner Jacke. © Schaper

Es ist die eine gute Sache, die ihr passiert ist: Sie hat jetzt einen Hund.