Stellt man sich im Dortmunder Stadtbezirk Scharnhorst an den Rewe an der Gleiwitzstraße und fragt die Einkaufenden, wen sie am Sonntag bei der Bundestagswahl gewählt haben, erntet man drei Reaktionen: Wähler von CDU, SPD, Grünen oder Linken verheimlichen ihre Wahlentscheidung oft nicht. Im Gegensatz dazu gibt es jene, die auf die Frage nur mit einem Lachen oder wissendem Grinsen antworten. Der eine oder andere schiebt im Laufen hinterher, es sei keine von den „Altparteien“ gewesen.

Und es gibt jene, die lange SPD-Wähler waren und nun die AfD gewählt haben - und bei der Frage nach den Gründen schnell emotional werden. In Dortmund haben bei der Bundestagswahl 19.200 ehemalige SPD-Wähler für die AfD votiert. Auch an die CDU verloren die Sozialdemokraten viele Stimmen. Die SPD hat in ihrer ehemaligen Hochburg Scharnhorst 15,3 Prozentpunkte eingebüßt, so viel wie in keinem anderen Dortmunder Stadtteil. In ganz Dortmund hat die SPD nur 23,7 Prozent der Stimmen bekommen, das ist ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagwahl in Dortmund.
„Wieder mehr an uns Deutsche denken“
Dazu beigetragen haben auch Brigitte Robertz (57) und ihr Lebenspartner Klaus-Peter Schulte (48). „Wir haben früher immer SPD gewählt, weil das in unserer Familie so üblich war“, erzählt Robertz. „Die SPD hat uns früher geholfen, weil wir Arbeiter waren. Aber heute hilft sie nur noch den Flüchtlingen.“ Statt sich für die einfachen Leute einzusetzen, werde Geld für andere ausgegeben, besonders störe sie das in der Ukraine:
„Ich zahle jetzt neun Euro für eine Packung Kaffee, nur damit die Ukrainer noch mehr Raketen bekommen!“ Zu zweit würden sie inzwischen 1.000 Euro im Monat für Lebensmittel bezahlen. „Wie soll das eine Frau mit drei oder vier Kindern machen?“ Von der SPD habe sie deswegen inzwischen „die Schnauze voll „Die Politik leiht sich Geld, um anderen zu helfen, denkt erstmal an die Ausländer und erst dann an uns Deutsche“, kritisiert sie.
„Die SPD hätte die Grenzen schließen müssen und wieder mehr an uns Deutsche denken müssen.“ Aus ihrer Perspektive sei die SPD nicht mehr die Partei der Arbeiter, sondern der Arbeitslosen. Die AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel spreche dagegen genau aus, was sie dächten. Auch Videos, die sie auf Youtube über die Anschläge in Mannheim, München und Solingen gesehen habe, hätten für sie eine Rolle gespielt. „Man hat doch genau gesehen, wie der Migrant gegenüber der Polizei noch gelacht hat - die wollen sich hier gar nicht anpassen“, behauptet sie.
„Hatte Bedenken, die AfD zu wählen“
Robertz, die in diesem Jahr zum ersten Mal AfD gewählt hat, sagt, sie habe sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. „Ich hatte wirklich Bedenken, weil ich unsere Geschichte nicht vergessen habe“, sagt sie. „Aber ich nehme das in Kauf, damit man sich erstmal wieder um uns kümmert. Ich will nicht rechts rüberkommen, ich möchte Fairness. Wir haben uns immer um alle anderen gekümmert, jetzt möchte ich auch mal, dass man sich um uns kümmert.“
Für den stellvertretenden Scharnhorster SPD-Bezirksbürgermeister Klaus Ahrenhöfer ist das schlechte Abschneiden seiner Partei keine Überraschung. „Die Wähler sind von uns enttäuscht, wir treffen mit unseren Argumenten nicht mehr den Nerv von dem, worüber sich die Leute Gedanken machen. Viele haben mir gesagt: Ihr hattet nun drei Jahre Zeit und habt nichts verändert - obwohl das nicht stimmt, aber das kommt bei den Leuten nicht an.“
Seine These: „Wir als SPD haben im Wahlkampf zu sehr betont, was wir schon gemacht haben und zu wenig, was wir noch machen wollen, vor allem beim Thema Migration. Die AfD dagegen hat mit Schlagworten gearbeitet, die in den Köpfen hängen bleiben, obwohl die rechtlichen Hürden bei der Migration auch für sie gelten.“ Im Bezirk Scharnhorst hatten 2023 rund 26 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund.
Migration und Sicherheit waren Themen der AfD
AfD-Kandidat Matthias Helferich hat seinen Wahlkreis zwar erneut an die SPD-Abgeordnete Sabine Poschmann verloren, in Scharnhorst fiel das Ergebnis mit nur 5,7 Prozentpunkten Unterschied aber vergleichsweise knapp aus. Laut ihm sei das gute Abschneiden der AfD auf die Themen Massenzuwanderung und die sich verschärfende Sicherheitslage zurückzuführen. Die AfD habe der SPD den Titel der „einzigen echten Arbeiterpartei“ abgenommen, meint er.
Die Frage, ob Scharnhorst in seinem Wahlkampf eine besondere Rolle spielte, lässt er unbeantwortet. In einem Post in den sozialen Medien schrieb er noch vor der Wahl, er fühle sich „beim Straßenwahlkampf in Scharnhorst fast wie im Osten, so groß ist der Zuspruch“.
Eine grundsätzliche Abkehr von der SPD kann der Dortmunder Vorsitzende der Sozialdemokraten und wiedergewählte Bundestagsabgeordnete Jens Peick jedoch nicht erkennen. „Das Wahlergebnis ist eine Reaktion auf die Krisen und die zerbrochene Bundesregierung“, glaubt er. „Viele Menschen in Dortmund hätten sich gewünscht, dass sich die SPD noch deutlicher gegen die FDP und die Grünen in der Regierung durchsetzt.“
SPD werde nicht mehr viel zugetraut
Die Verluste an die AfD gerade im Dortmunder Norden seien „bitter“. „Aus Gesprächen weiß ich aber: Die Menschen sehen selbst, dass die AfD keine Lösungen für ihre Probleme hat. Aber sie wollen darauf aufmerksam machen, dass ihr Alltag durch zu geringe Investitionen in Infrastruktur, Bildung und bezahlbare Wohnungen zunehmend belastet wird.“

Das Bild der klassisch SPD-wählenden Arbeiterschicht im Dortmunder Norden sei ohnehin längst überholt, meint der Dortmunder Politikwissenschaftler und FH-Professor Dierk Borstel. „Die SPD hat schon früher eher die bildungsaffinen und aufstiegsorientierten Teile der Arbeiterklasse erreicht, die aber durch das unsoziale und verhärtete Bildungssystem nicht oder nur schwer nach oben kamen. Heute trauen viele der aufstiegsorientierten Menschen der SPD nicht mehr zu, ihre Interessen tatsächlich zu vertreten. Früher waren die Betriebsräte der Brückenkopf zur Partei – das findet heute kaum noch statt.“
„Damit die alten Parteien eins auf den Sack kriegen!“
Der AfD sei es in Bezirken wie Scharnhorst gelungen, diejenigen anzusprechen, die der neuen Vielfalt in den Stadtteilen ängstlich oder ablehnend gegenüberstehen. Und jene, die der SPD nicht mehr zutrauten, sich um ihre Belange zu kümmern. Dazu gehörten auch jene, die im Wohnungsmarkt oder im Niedriglohnsektor in realer Konkurrenz zu Migranten stünden.
Das meinen auch die Menschen am Rewe an der Gleiwitzstraße, auch wenn sie es schärfer ausdrücken und ihr Gesicht nicht in der Zeitung sehen wollen. Der 52-jährige Andreas habe früher SPD gewählt, weil das auch die Eltern gemacht hätten. „Jetzt habe ich aus Protest die AfD gewählt, damit die alten Parteien mal eins auf den Sack kriegen und sehen, dass es so nicht weitergehen kann.“ Es gebe zu viele Menschen, „die hier nichts zu suchen haben“ und zu wenige Wohnungen. Dass die AfD in Teilen auch rechtsextremes Gedankengut verbreitet, spricht hier kaum jemand an. Ein 58-Jähriger meint: „So wie damals kann es gar nicht wiederkommen. Der Hitler war nicht die hellste Kerze, heute haben wir studierte Leute.“