Familie Reitmayer lebt inmitten von Baustellen am Schwanenwall „Wenn wir könnten, würden wir wegziehen“

„Ich werfe der Stadt Inkompetenz vor“: Familie Reitmayer lebt zwischen Baustellen
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Will man die Reitmayers treffen, ist das gar nicht so leicht. Denn erst muss man einen Weg durch das Absperrbaken-Labyrinth finden, um von der Dortmunder City kommend zur Geschwister-Scholl-Straße zu gelangen. Dort wohnt die kleine Familie, die aus Mirjam, Helmut und ihrer fünfjährigen Tochter Katharina besteht.

An einem Nachmittag warten sie auf der Geschwister-Scholl-Straße, deren Situation ihnen seit mehreren Jahren Kopfschmerzen bereitet. Ein Grund dafür sind die vielen Baustellen. Die Geschwister-Scholl-Straße ist derzeit Richtung Wall in beide Richtungen gesperrt. Hier wird der Radwall gebaut. Der Häuserblock, in dem die Reitmayers wohnen, ist quasi eingezäunt. Zwischen Brüderweg und Bornstraße wird seit Ende Februar der Radwall weitergebaut. Bis Ende Mai soll die Baustelle bestehen.

Auch auf dem Gehweg der Geschwister-Scholl-Straße sind Baken aufgebaut, hier werden seit August bis Anfang April Stromleitungen verlegt. An der Schwanenstraße kommt es ebenfalls „zu verkehrlichen Einschränkungen“. Hier wird seit Dienstag (19.3.) bis zum 10. Mai an der Wasserleitungen gearbeitet. Und so gehe das seit Herbst 2020, sagt Helmut Reitmayer. Also gut dreieinhalb Jahre.

„Täglich grüßt das Murmeltier“

„Ich habe zeitweise sehr gerne hier gelebt. Seit der Pandemie ist es ein absolutes Chaos geworden. Es ist zu viel“, sagt Helmut Reitmayer, der freiberuflich als Kommunikationsdesigner arbeitet. Wenn mal eine Baustelle verschwinde, werde die nächste schon bald wieder aufgemacht. „Es nimmt kein Ende. Täglich grüßt das Murmeltier. Immer gibt es neue Baustellen“, sagt Helmut Reitmayer. „Manchmal an derselben Stelle, obwohl sie erst Wochen zuvor wieder zugemacht worden ist.“

Der Schwanenwall ist aktuell wegen Bauarbeiten zum Radwall abgesperrt.
Der Schwanenwall ist aktuell wegen Bauarbeiten zum Radwall abgesperrt. © Lukas Wittland

Für die Reitmayers erschließt sich das nicht. „Das könnte man dann doch in einem Zug machen. Da greift nichts ineinander. Es fehlt, dass man Synergieeffekte nutzt“, sagt Mirjam Reitmayer. Sie arbeitet als stellvertretende Geschäftsführerin an der Fakultät für Geschichtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Ihr Mann lebt seit 2004 in der Geschwister-Scholl-Straße. Die 41-Jährige ist 2011 dazugezogen. „So schlimm war es noch nie“, sagt ihr Mann.

Wie die Stadt auf Anfrage mitteilt, habe in den vergangenen fünf Jahren in der Geschwister-Scholl-Straße und am Schwanenwall in erster Linie Fernwärmemaßnahmen der DEW21/Donetz stattgefunden.

Mehrere Beschwerden wegen Baustelle

Dabei habe es auch Umlegungen diverser Versorgungsleitungen und eine Kanalbaumaßnahme in der Nebenfahrbahn des Schwanenwall – Höhe Milchgasse bis Schwanenstraße – gegeben. Außerdem habe die Brennerei Krämer, die dort angesiedelt ist, im Zeitraum von September 2019 bis März 2021 einen Kran aufgestellt. Daher habe es dort auch Halteverbotszonen gegeben.

Von Januar bis August 2022 wurde zudem das erste Stück Radwall in dem Bereich gebaut. Aktuell laufen die Arbeiten auf der Gegenseite.

Die Stadt haben in den vergangenen Tagen mehrere „nachvollziehbare Beschwerden bezüglich der aktuellen Baustelle am Radwall“ erreicht, wie Stadtsprecherin Alexandra Schürmann mitteilt. Es habe auch grundsätzliche Beschwerden an der Zahl der Baustellen in der vergangenen zwei Jahren gegeben.

Fertig vor der Europameisterschaft?

„Andere äußerten ihren Unmut über die Verkehrsführung bei den aktuellen Arbeiten“, sagt die Stadtsprecherin. Ein Argument der Anwohnenden laute, dass es das bei vorherigen Baumaßnahmen dort auch nicht gegeben habe. „Allerdings erstreckten sich die vorherigen Baustellen nicht über den gesamten Schwanenwall, sie waren kleiner und punktueller“, erklärt Schürmann.

Das sei nun aber nicht möglich gewesen. Da die Stadt zur EURO24 weitestgehend baustellenfrei sein soll, müsse sehr zügig gearbeitet werden. „Daher konnte das Baufeld leider auch nicht aufgeteilt oder gestückelt werden, denn sonst könnte die ausführende Baufirma die Arbeiten nicht an mehreren Stellen gleichzeitig vorantreiben“, sagt Schürmann.

Schilderwald und Absperrungen prägen das Bild von Schwanenwall und Geschwister-Scholl-Straße.
Schilderwald und Absperrungen prägen das Bild von Schwanenwall und Geschwister-Scholl-Straße. © Lukas Wittland

Die Reitmayers befürchten, dass man nicht rechtzeitig fertig wird, die Baustellen zur Fußball-Europameisterschaft geschlossen und danach wieder geöffnet werden. Für das Ehepaar geht es bei vielen Projekten in der Stadt nur noch um den Schein nach außen und nicht mehr um die, die Stadt einmal ausgemacht haben – die Einwohner. Die Reitmayers haben genug davon. „Wenn wir könnten, würden wir wegziehen“, sagt Helmut Reitmayer.

Die Reitmayers wollen weg aus Dortmund

Aber das sei bei der Mietpreis-Entwicklung nicht zu stemmen. Mit ihrer Tochter und Home-Office-Tagen brauchen sie die 105 Quadratmeter der aktuellen Wohnung, für die die Reitmayers 4,80 Euro pro Quadratmeter zahlen. Zu diesen Konditionen etwas Neues zu finden, dürfte in der Innenstadt tatsächlich schwierig werden.

Sie würden deshalb erwägen, ganz aus Dortmund wegzuziehen, sagt Helmut Reitmayer: „Ich werfe der Stadt Inkompetenz vor – und dilettantische Planung. Niemand macht sich Gedanken über die Konsequenzen dieses Baustellenmanagements.“ In den meisten Fällen seien sie nicht über Baumaßnahmen informiert worden, kritisiert das Ehepaar. Und sie fragen sich, was mit den Straßenreinigungsgebühren ist. Wegen der Baustellen sei ein vernünftiges Reinigen nicht möglich.

Familie Reitmayer kritisiert die Stadt für die Planung der Baustellen.
Familie Reitmayer kritisiert die Stadt für die Planung der Baustellen. © Lukas Wittland

Die Stadt verweist auf die Straßenreinigungs- und Gebührensatzung in Dortmund. In der heißt es, dass bei „vorübergehenden Einschränkungen, Unterbrechungen oder Verspätungen der öffentlichen Straßenreinigung z. B. durch Betriebsstörungen, Straßenbauarbeiten, Störungen durch den ruhenden oder fließenden Verkehr oder aus anderen, von der Stadt nicht zu vertretenden Gründen“ kein Anspruch auf eine Gebührenerstattung oder Schadensersatz bestehe.

Eine Erstattung können man beantragen, wenn auf der gesamten Straße „ein Reinigungsausfall von mehr als 10 Prozent der jährlich geschuldeten Reinigungsleistung zu verzeichnen“ sei.

Die Disco war leiser

Aber es sind nicht nur die Baustellen, die die Reitmayers belasten. Raser- und Tuner würden die Geschwister-Scholl-Straße vermehrt als Treffpunkt nutzen – vor allem seitdem die Straße durch die Baustelle zur Sackgasse geworden ist. An Wochenenden hören sie deshalb die aufheulenden Motoren und röhrende Auspuffe. Einmal habe er 130 Dezibel am offenen Fenster gemessen, sagt Helmut Reitmayer. Die Lärmschutzkarte NRW weist für die Geschwister-Scholl-Straße wie für viele stark befahrene Innenstadtstraßen einen Dezibel-Durchschnittswert von 70 bis 75 aus.

Raser und Tuner nutzen die Geschwister-Scholl-Straße mit ihren hochmotorisierten Fahrzeugen als Treffpunkt.
Raser und Tuner nutzen die Geschwister-Scholl-Straße mit ihren hochmotorisierten Fahrzeugen als Treffpunkt. © privat

„Als der Keller noch hier war, war es ruhiger, da war nicht dieser permanente Lärm“, ergänzt Mirjam Reitmayer und meint damit die traditionsreiche Disco, die 2015 in der Geschwister-Scholl-Straße geschlossen hatte. Einen Film zu gucken, sei bei offenem Fenster im Sommer nicht möglich, da man den Ton nicht verstehe.

„Leben hier in der Innenstadt kostet wirklich Lebenszeit. Im Urlaub bleiben wir am liebsten im Bett, weil dies die einzige Zeit im Jahr ist, in der man außerhalb Dortmunds mal sieben Stunden Schlaf bekommt“, sagt Helmut Reitmayer. Mehr als vier oder fünf Stunden Schlaf seien nicht drin.

Weil in der Geschwister-Scholl-Straße schnell gefahren werden, wenn sie nicht gesperrt ist, machen sich die Reitymayers auch Sorgen um ihre Tochter. Aber auch aus einem anderen Grund. Die Drogenproblematik Dortmunds ist auch hier sichtbar. Teils werde auf der Straße offen gedealt, sagt Helmut Reitmayer.

Baustellen als Drogenversteck

Während wir sprechen, läuft zum vierten Mal derselbe junge Mann vorbei und dreht eine weitere Runde um den Häuserblock. Es gäbe schönere Ecken in Dortmund für einen Spaziergang. „Die Polizisten sind hier nach meiner Wahrnehmung sehr bemüht und häufig vor Ort“, sagt Helmut Reitmayer. Offenbar würden aber auch den Beamten die Möglichkeiten fehlen, konsequent gegen die Problematik vorzugehen.

Ein Mann raucht an der Geschwister-Scholl-Straße eine Crack-Pfeife.
Ein Mann raucht an der Geschwister-Scholl-Straße eine Crack-Pfeife. © RN

Die Dealer würden die Betonfüße der Baustellenabsperrungen auch als Verstecke für Drogen nutzen, sagt Helmut Reitmayer. Seit der Pandemie habe sich die Drogenproblematik verstärkt.

Im April des vergangenen Jahres hat Mirjam Reitmayer eine belastende Erfahrung gemacht. Ein offenbar drogenabhängiger Mann habe sie in der Tiefgarage an der Schulter angefasst und sexuell bedrängt. Mirjam Reitmayer habe ihn angeschrien und sich im Auto in Sicherheit gebracht, sagt sie.

Stadt ist Drogenproblem bekannt

Der Mann habe sich dann vor das Auto gesetzt und sie am Wegfahren gehindert, bis Helmut Reitmayer gekommen sei und den Mann vertrieben habe. Das Ehepaar bringt den Vorfall zur Anzeige. Helmut Reitmayer zeigt ein Schreiben der Staatsanwaltschaft, das ein Ermittlungsverfahren bestätigt.

Ein unbekanntes Phänomen ist die Drogenproblematik in Bereich um die Berufskollegs nicht. „Der Bereich zwischen der Brügmannstraße und der Bornstraße (einschließlich des sog. ,Brügmannparks‘) ist dem Kommunalen Ordnungsdienst (KOD) der Stadt Dortmund seit geraumer Zeit als Örtlichkeit bekannt, an der Betäubungsmittel konsumiert werden“, teilt die Stadt auf Anfrage mit.

Dort würden immer wieder Jugendliche und junge Erwachsene beim Konsum weicher Drogen wie Marihuana sowie suchtkranke Menschen mit dem Konsum harter Drogen angetroffen.

„Im Jahr 2023 sind nach Kontrollen des KOD im fraglichen Bereich wegen des öffentlichen Drogenkonsums insgesamt 153 Bußgelder verhängt sowie sechs Verwarngelder erhoben worden, im Jahr 2024 waren es bis dato acht Bußgelder“, teilt die Stadt mit: „Ordnungsamt und Polizei haben die Örtlichkeit weiter im Blick.“ Die Polizei teilte auf Anfrage bislang noch keine Einschätzung zur Geschwister-Scholl-Straße mit. Für die Reitmayers ist ihr Fazit klar: Sie wollen eigentlich nur noch weg.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien bereits am 20. März 2024.