In einer Mietwohnung nahe dem Flughafen Dortmund nimmt Winfried Kirchhoff ein gerahmtes Foto von der Wand. Es ist eines der wenigen Erinnerungsstücke, die ihm geblieben sind von seinem einstigen Traumhaus nahe der Emscherquelle in Holzwickede. Die Luftaufnahme zeigt ein altes Bauernhaus im Grünen, umgeben von Acker, Garten, Ziegelschuppen und Kleinvieh-Unterständen. „Das war unser Gelände“, sagt der Rentner wehmütig.
Heute gilt das Fachwerkhaus 250 Meter oberhalb des Emscherquellhofs als Holzwickedes wohl bekannteste Bruchbude. Es steht seit ungefähr 18 Jahren leer und verfällt immer weiter. Winfried Kirchhoff mit seiner Familie war der letzte Bewohner.
Der 78-Jährige, weißer Vollbart, blaues HSC-Trikot, langjähriger HSC-Fußballer, erzählt jetzt erstmals von dem Drama um das Haus. Ein Drama, das zum Auszug der Familie führte. Ein Drama mit einem Hauseigentümer, der sich mit Behörden anlegte, und mit Kirchhoff als Erbpächter, der in der Zwickmühle steckte.
Kirchhoffs Geschichte trägt dazu bei zu verstehen, wieso ein geschichtsträchtiges Haus in Holzwickede trotz seiner attraktiven Wohnlage zum „Lost Place“ verkommen ist.

Während Kirchhoff am Küchentisch seiner heutigen Mietwohnung sitzt, zeigt er die Luftaufnahme des Hauses und fährt mit dem Zeigefinger die einzelnen Stellen ab. Er zeigt, was wo auf dem liebgewonnenen Grundstück lag.
Da ist zuerst das Fachwerkhaus, das im 19. Jahrhundert erbaut wurde und wohl zuerst von Verwaltern des Ritterguts Sölde bewohnt wurde. Winfried, seine Frau Edith und die vier Töchter lebten dort ab 1989/90 für mehr als 15 Jahre. Sie schlossen dazu einen Erbpachtvertrag mit dem Hauseigentümer, der heute hochbetagt in Süddeutschland leben soll und nicht für Fragen erreichbar ist.
Später, als die Familie gewachsen war, lebten auch Enkel, Schwiegersohn und Schwiegereltern zeitweise auf der kleinen Hofstelle. Auf dem Foto sticht ein rotes Rechteck neben dem Haus hervor. Das ist ein abgestellter roter Ford Capri. Und die grauen und silbernen Rechtecke auf dem Bild sind die Kleinviehställe auf dem weitläufigen Grundstück.
Nebenerwerbshof mit 350 Tieren
In einem gemauerten Ziegelschuppen, dessen Dach heute eingebrochen ist, mümmelten die Kaninchen. Daneben füllten Nutztiere mehrere Hütten. „Wir hatten über 350 Viecher“, sagt Kirchhoff. „Enten, Gänse, Karnickel, Puten, Hühner – alles was man so haben kann auf einem kleinen Bauernhof.“
Die Eier, die Tiere oder das Fleisch verkauften die Kirchhoffs im Nebenerwerb. „Das waren nur naturgefütterte Tiere“, betont der einstige Kleinviehbesitzer. Sogar Spargel und Erdbeeren habe er den Kaninchen gegönnt. Das nicht mehr verkaufsfähige Gemüse ergatterte er damals im Rewe-Markt.
„Ich hatte auch eine kleine Brutmaschine. Meine Frau hat die Küken großgezogen“, erinnert sich Winfried. „Ich habe die kleinen Küken aus dem Ei gepellt“, erzählt Edith (73) und ahmt die Bewegung mit der Hand nach.
Großzügiges Grundstück mit Teich
Rund 23 Jahre ist es her, dass die Luftaufnahme des Fachwerkhauses an der Landskroner Straße 149a entstand, etwa 1992. Zu diesem Zeitpunkt wohnten die Kirchhoffs ungefähr drei Jahre an der ländlichen Adresse. „Man konnte von dort Holzwickede überblicken“, schwärmt Kirchhoff. „Bis zum Flughafen konntest du gucken.“
Auch seine Frau Edith liebte die tolle Lage oberhalb des Emschertals und unterhalb des Hixterwalds. „Wir haben uns das Umfeld so gestaltet, wie wir es haben wollen. Ich hatte da eine kleine Parklandschaft mit Teich.“ Auf zweieinhalb Morgen, rund 6250 Quadratmeter, verwirklichten die Kirchhoffs ihren Wohntraum auf dem Land.
Den Eheleuten ist auch 18 Jahre nach dem Auszug anzumerken, dass sie schweren Herzens und unter widrigen Umständen weggehen mussten. „Vielleicht würden wir da heute noch wohnen, wenn nicht die ganzen Prozesse gewesen wäre...“, sagt Winfried Kirchhoff.

Der Anfang vom Ende kam um das Jahr 2005, als in der über 100 Meter langen Hauszufahrt eine Wasserleitung platzte. „Im nächsten Jahr hat es noch einen weiteren Wasserrohrbruch gegeben“, erinnert sich Kirchhoff. Reparaturen folgten jeweils, aber die endgültige Lösung sollte im Bau einer neuen Wasserleitung liegen, als sich die Gelegenheit dazu ergab.
Denn das Haus, das lediglich über eine Dreikammer-Klärgrube verfügte, sollte durch die Gemeinde an den Kanal angeschlossen werden. Also wurde die neue Wasserleitung durch den Wasserversorger in dieselbe Trasse gelegt wie die Kanalrohre.
Bizarrer Streit zu Lasten der Erbpächter
Kirchhoff verschwindet vom Küchentisch und aus dem Zimmer, kommt kurz darauf mit einem Spiralblock wieder. Er zeichnet mit einem schwarzen Stift die Lage der Trasse nach. „Der neue Kanal und die neue Wasserleitung endeten hier“, sagt er. Ungefähr 20 Meter vor dem Haus war damals Schluss. Und das lag an bizarr anmutenden Streitigkeiten zwischen dem Hauseigentümer, also Kirchhoffs Verpächter, auf der einen Seite und den Versorgern und Behörden auf der anderen Seite.
Denn die Trassenführung entsprach nicht den Vorstellungen des Hauseigentümers. Der berief sich auf vertragliche Regelungen und wollte die neue Wasserleitung, wie auch die alte, in der über 100 Meter langen Hauszufahrt verlegt haben statt parallel dazu auf einem benachbarten Grundstück. „Der hat sich mit allen angelegt“, sagt Kirchhoff. Die Fälle sind gut dokumentiert. „Es gab mehrere Prozesse, die er teilweise gewonnen und teilweise verloren hat“, schildert Kirchhoff. Streit habe es auch mit der Gemeinde wegen des Kanalanschlusses gegeben.

Wasserzufuhr gekappt, Feuerwehr hilft aus
Damals sahen sich die Kirchhoffs in einer Zwickmühle. Obwohl es in ihrem Interesse gelegen habe, dass die Erschließung egal woher und egal wie erfolgte, hätten sie sich in dem Streit auf die Seite des Hauseigentümers gestellt, weil sie sich darum sorgten, andernfalls ihren günstig gemieteten und geliebten Hof zu verlieren. Doch verloren haben sie ihr Zuhause trotzdem.
Denn die Probleme häuften sich, aus dem Wohntraum wurde ein Albtraum. Die neue Wasserleitung endete beispielsweise vor der Grundstücksgrenze, es gab lediglich eine Zapfstelle und eine provisorische Wasserversorgung für das Haus. Die Eheleute schildern, dass sie sogar mal wochenlang ganz ohne Wasseranschluss waren.
„Wäsche haben wir bei der Verwandtschaft gewaschen, duschen konnten wir in der Schönen Flöte“, erinnert sich Edith Kirchhoff. Brauchwasser für das Kleinvieh brachte kurzzeitig die Feuerwehr. Schließlich hätte der Wasserversorger der Familie einen Frischwassercontainer vors Haus gestellt. Das sei über acht bis zehn Wochen gegangen.
Baulicher Zustand im Fokus
Ungelöste Probleme infolge der Rechtsstreitigkeiten gab es auch wegen des Kanalanschlusses. Der Hauseigentümer stritt sich mit den Behörden wegen der Bedingungen für den Kanal, er wollte offenbar lieber die Klärgrube weiter betreiben.
Außerdem geriet der bauliche Zustand des Fachwerkhauses in den Fokus. Es ging etwa um ein Dachgeschoss, das die Kirchhoffs ausgebaut hatten. Laut der zuständigen Bauaufsichtsbehörde war das Gebäude in einem schlechten Zustand. 2007 stand wegen diverser Probleme sogar eine amtliche Nutzungsuntersagung im Raum. Dem kamen die Kirchhoffs mit ihrem Auszug zuvor. Der Hauseigentümer löste den Erbpachtvertrag auf.
Abschied vom Zuhause und vom Kleinvieh
Während die Kirchhoffs ein neues Zuhause in Holzwickede fanden, wenn auch ohne das Kleinvieh, blieb das Fachwerkhaus bis heute unbewohnt. Der streitbare Hauseigentümer gab das Objekt dem Verfall preis. Das Grundstück ist fast zwei Jahrzehnte nach dem Auszug der Kirchhoffs von dornigem Gestrüpp überwuchert, die Verfallserscheinungen an dem Gebäude wohl unwiderruflich.
Mit der Folge, dass die Behörden es für fraglich halten, dass dort noch einmal ein Wohnhaus errichtet werden darf. Nach Angaben der Bauaufsichtsbehörde des Kreises Unna „besteht die Möglichkeit einer Nachfolgenutzung (...) aller Voraussicht nicht mehr“.
„Gedanken an damals“
So bleibt das auffällige Fachwerkhaus, das auf das Rittergut in Sölde zurückgeht, seinem Schicksal überlassen. Die Kirchhoffs wissen nicht, ob der Hauseigentümer überhaupt noch lebt, haben selbst lange keinen Kontakt mehr. Manchmal fahren sie eher zufällig an dem Haus vorbei. „Wenn man da herfährt, kommen einem die Gedanken an damals“, sagt Winfried Kirchhoff. Und seine Frau Edith fragt: „Es ist alles zugewuchert, verfällt, was sollen wir da?“