Wenn Oma und Opa nicht da sind, klafft in Familien häufig eine Lücke. Das Dortmunder Mütterzentrum kann weiterhelfen: Es vermittelt jungen Eltern Leihomas und Leihopas frei Haus.

Dortmund

, 29.01.2019, 16:11 Uhr / Lesedauer: 3 min

Gustav bekommt Langeweile. Sollen die Erwachsenen ruhig am Tisch sitzen und reden. Gustav jedenfalls, dreieinhalb Jahre jung, läuft mit schnellen, noch etwas ungelenken Schritten zur Wohnzimmertruhe und kramt Legosteine hervor. Martina Neveling (57) weiß, was das bedeutet: „Gustav baut gern Kirchen.“ Ein paar Sekunden später sitzt sie neben dem Kleinen auf dem Fußboden und gibt ihm Orientierung bei der Auswahl der passenden Steine. Gustavs Eltern beobachten die Szene zufrieden vom Tisch. Ihr spielendes Kleinkind und daneben die Oma.

Ein Familienleben, wie es tausendfach vorkommt, auf den ersten Blick nichts Besonderes. Und doch ist etwas anders im Haus von Familie Maja und Uwe Schrader in der östlichen Innenstadt: Die Frau, die sich so rührend um ihren kleinen Sohn kümmert, ist nicht Gustavs leibliche Oma. Martina Neveling ist eine „Leihoma“; eine Wunschoma, vermittelt durch das Mütterzentrum in Dorstfeld.

Austausch am Tisch: „Oma Martina“ mit Gustavs Eltern Maja und Uwe Schrader, die sich inzwischen seit mehr als zwei Jahren kennen.

Austausch am Tisch: „Oma Martina“ mit Gustavs Eltern Maja und Uwe Schrader, die sich inzwischen seit mehr als zwei Jahren kennen. © Gregor Beushausen

Sie hätten unbedingt eine Oma für Gustav gewollt, erzählt das junge Ehepaar. Sie, Maja (35), arbeitet als Gesundheitswissenschaftlerin; ihr Mann Uwe (37) als Kulturvermittler. Ihre eigenen Eltern seien leider nicht mehr in der Lage, „eine klassische Oma- und Opa-Funktion für Gustav wahrzunehmen“, wie Uwe Schrader formuliert. Er geht auf Gedankenreise in die eigene Kindheit: Wie er von seiner Oma das Kochen gelernt hat; wie sie zur Stelle war, wenn es Probleme gab. Die vielen gemeinsamen Ausflüge … Da sei eine Menge Lebenserfahrung im Spiel, von der jüngere Menschen lernen könnten.

„Es hat auf Anhieb gepasst“

Martina Neveling hört aufmerksam zu. Sie arbeitet als Krankenschwester in Teilzeit im Klinikum, hat einen 58-jährigen Ehemann und 23 Jahre alte Zwillinge, die das Elternhaus inzwischen verlassen haben. Als eine Arbeitskollegin eher zufällig vom Projekt „Leihoma“ erzählte, hat Martina Neveling erst überlegt – und sich dann als Freiwillige im Mütterzentrum gemeldet. „Ich wollte eine junge Familie unterstützen.“

Wochen später saß sie Ehepaar Schrader gegenüber. Ein zweistündiges Treffen im Café, ein erstes Abtasten – und dann lief alles ganz schnell. „Es hat auf Anhieb gepasst“, sagt Maja Schrader. Mehr als zwei Jahre ist das her. Seitdem geht Oma Martina Neveling einmal pro Woche für zwei bis vier Stunden bei Familie Schrader ein und aus. Sie fährt mit Gustav zum Zoo oder zum Maximilianpark nach Hamm. Sie führt ihn durch den Westfalenpark, und dann hat sie für Gustav kein Füllhorn an Süßigkeiten dabei, sondern die gute alte Butterkeksdose.

Sie holt Gustav auch mal mittags aus der Kindertagesstätte der Melanchthon-Gemeinde ab – und geht wie selbstverständlich zum „Großeltern-Nachmittag“ der Kita in der Adventszeit. Es kann aber auch passieren, dass sie Gustav mal mit, mal ohne Eltern, zu „Opa“ nach Wambel holt, wo der Kleine, kommt ganz auf die Jahreszeit an, eine Angel in den Teich hinterm Haus hält. Von Gustav gibt es mittlerweile ein Fotoalbum. „Ich bin zum Bespaßen da“, sagt Martina Neveling.

Bilder gucken, vorlesen, spazieren gehen: Gustav hat seine Leihoma voll und ganz angenommen, sagen die Eltern.

Bilder gucken, vorlesen, spazieren gehen: Gustav hat seine Leihoma voll und ganz angenommen, sagen die Eltern. © Gregor Beushausen

Es gibt keine Regeln und keine Verbotslisten im Umgang mit Gustav. Wozu auch? Schließlich ist Martina Neveling selbst Mutter. Sie hat das Vertrauen der Eltern. Und sie hat Erfahrung, sie kann sich auf Kinder einstellen. „Ich beobachte, wie sich Gustav verhält.“ Wenn der Kleine auf ihren Schoß krabbelt und „Oma“ zu ihr sagt; wenn sie den Knirps „aufs Marienkäferklo“ begleitet und ihm dort aus einem Buch vorliest, „weil Gustav noch Sitzungsunterstützung benötigt“, dann wird klar: Martina Neveling ist für das Kind längst zu einer Bezugsperson geworden. „Er hat sie voll und ganz angenommen“, sagt Maja Schrader. Dabei gehe es nicht darum, bei den Treffen ein Unterhaltungsfeuerwerk abzubrennen. „Gustav soll einen ganz normalen Kinderalltag mit Oma erleben.“

"Wir haben uns gegenseitig adoptiert"

Genau das will man im Dorstfelder Mütterzentrum mit dem Projekt „Wunschgroßeltern“ erreichen. Aktuell sind dort rund 20 Familien auf der Suche nach einer „Leihoma“. Das Problem: Es gibt zu wenig. Zu wenig Frauen wie Martina Neveling, die bereit sind, ehrenamtlich und mit einem Händchen für Kinder ausgestattet, in einer Familie für wenige Stunden in der Woche die Oma-Rolle zu übernehmen. Aktuell stehen nur zwei beim Mütterzentrum zur Verfügung.

Eine Leihoma, das bittet Rosemarie Sauer vom Mütterzentrum nicht zu verwechseln, sei keinesfalls als Ersatz für eine Tagesmutter zu verstehen. „Es geht nicht um Betreuung. Es geht darum, ältere und jüngere Menschen aus mehreren Generationen in Familien zusammenzubringen.“

Weitere Informationen zum Projekt erhalten Sie im Mütterzentrum Dortmund unter Tel. (0231) 14 16 62 bei Rosemarie Sauer. Oder Sie schreiben eine Mail an: wugro@muetterzentrum-dortmund.de.

Wenig formale Voraussetzungen

Viele formale Voraussetzungen seien nicht notwendig. Wer Interesse hat, muss ein einwandfreies polizeiliches Führungszeugnis vorlegen können. Aber es ist beispielsweise nicht erforderlich, eigene Enkel oder Kinder zu haben. Eine feste Altersgrenze gibt es nicht – weder nach unten noch nach oben. Kandidaten sollten sich allerdings im „Großeltern-Alter“ befinden, „weil es auch darum geht, dass sich verschiedene Generationen begegnen“.

Enge Bande: Uwe und Maja lieben ihren Sohn über alles und haben Gustav sogar eine Leihoma geschenkt.

Enge Bande: Uwe und Maja lieben ihren Sohn über alles und haben Gustav sogar eine Leihoma geschenkt. © Gregor Beushausen

So ist es auch bei Familie Schrader. Menschen, die sich zuvor niemals gesehen hatten, haben ihre Binnenwelt, ihre Privatsphäre geöffnet und sich gegenseitig in ihr Leben gelassen. „Wir haben uns gegenseitig adoptiert“, nennt Uwe Schrader das. „Oma ist zu einem festen Teil unserer Familie geworden.“ Sie sagen „du“ zueinander.

Zeit für die Familie: Mutter Maja Schrader, Ernährungswissenschaftlerin, ist zur Stelle, wenn Gustav sie braucht. Auch beim Spielen.

Zeit für die Familie: Mutter Maja Schrader, Ernährungswissenschaftlerin, ist zur Stelle, wenn Gustav sie braucht. Auch beim Spielen. © Gregor Beushausen

Oma Martina freut sich, wenn sie hin und wieder mit Tipps und Ratschlägen aushelfen kann. Bald könnte es soweit sein: Gustav braucht eine Brille. Und das Fahrrad, das unterm Weihnachtsbaum lag, will schließlich auch irgendwann mal benutzt werden. Gustav findet Oma „gut.“ Seine Eltern auch. „Ich hoffe“, sagt Uwe Schrader, „dass diese Bindung ein Leben lang bleibt“. So weit denkt Gustav naturgemäß nicht. An die nähere Zukunft hingegen schon. „Ich werd‘ ihn mal ins Klinikum mitnehmen“, sagt Martina Neveling. „Gustav möchte gern sehen, wo Oma arbeitet.“