Westfale aus Oberbayern
102-jähriger Dortmunder erzählt: „Ich hätte Hitler erschießen können“
Volksschüler, Melker, Bergmann – mehr als 40 Jahre im Ruhestand. Heinz Becker lebt in Oberbayern – ist aber Dortmunder durch und durch. Der 102-Jährige plaudert über Ansichten, Fitness – und Hitler.
Jeden Morgen eine halbe Stunde Gymnastik, jede Übung 50-mal. Zweimal am Tag für 20 Minuten auf den Ergometer. Das hält fit bis ins betagte Alter. Heinz Becker wurde am Dienstag (19.7.) 102 Jahre alt. Am Tag danach sitzt er in Mengede auf dem Sofa von Tochter Susanne und Schwiegersohn Rainer Lösbrock, ist bester Dinge, lächelt verschmitzt und erzählt aus seinem Leben.
„Ich bin ein echter Netter Junge“, betont er gleich zu Beginn, „1920 in Nette geboren.“ Es klingt wie eine Legitimation, ist aber mehr: Überzeugung, Stolz, Heimatverbundenheit. Denn Heinz Becker lebt schon seit 1974 in Neuburg an der Donau. „Ich bin Westfale.“ Punkt. Dieses Understatement wiederholt er während der 90-minütigen Plauderei mehrfach.
Ein Bayer sei er nie geworden, erzählt seine jüngste Tochter Gudrun, die mit ihm in den Süden zog und im gleichen Haus lebt. 1974: Das war das Jahr, als Heinz Becker seine berufliche Tätigkeit im Bergbau beendete – nach gut zwei Jahrzehnten auf Hansemann in Mengede und danach auf Achenbach in Brambauer.
Gewerkschaftsmitglied ist er immer noch: Seit 88 Jahren gehört er der IGBCE an. „Sicher ist, dass Heinz Becker eines der ältesten und langjährigsten IGBCE-Mitglieder ist“, erklärt Gewerkschafts-Sprecherin Isabel Niesmann auf Anfrage. Ob er tatsächlich das älteste Mitglied sei, könne sie auch nach Recherchen nicht mit Sicherheit sagen.
1974 zog Heinz Becker mit Tochter Gudrun (r.) in die Heimat seiner zweiten Ehefrau, nach Neuburg an der Donau. © privat (Repro: von Schirp)
Schon Beckers Vater war Bergmann. Sohn Heinz erblickt in der „Alten Kolonie“ das Licht der Welt, wächst dort auf. Unter Bergleuten. Das erklärt gewiss seine Tugenden wie Geradlinigkeit, Treue und Verlässlichkeit.
Einziger SPD-Wähler
Die zeigt er auch im Wahlverhalten: „Die SPD war meine Partei und bleibt auch meine“, sagt er kategorisch. In oberbayerischen Laisacker war er damit viele Jahre im wörtlichen Sinn ein Unikat und das Wahlgeheimnis quasi außer Kraft gesetzt. Genau ein Bürger des 750-Seelen-Dorfes am Rand von Neuburg gab seine Stimme der SPD: Heinz Becker.
Seine berufliche Laufbahn beginnt indes nicht Untertage. Nach dem Volksschulabschluss am Mengeder Markt führt der Weg des 14-Jährigen in den hohen Norden, nach Kappeln an der Schlei. Der Netter absolviert eine Lehre als Melker.
Nach dem Volksschulabschluss machte Heinz Becker eine Ausbildung zum Melker in Kappeln an der Schlei. © privat (Repro: von Schirp)
Dann beginnt der Zweite Weltkrieg. 1940 wird Heinz Becker eingezogen. Der Einsatzbefehl führt ihn nach Russland. Erfrierungen an den Füßen: Der junge Soldat kommt in ein Lazarett in Wien. Wieder genesen, geht es nach Italien.
Becker erinnert sich an ein Treffen von Hitler und Mussolini in Norditalien. „Da waren 150 Soldaten zur Sicherheit“, erzählt er. „Ich hätte Hitler erschießen können.“ Ein Kamerad ahnt wohl die Gedankengänge und raunt: „Lass es, denk an deine Familie.“
Deal mit den Engländern
1944 nehmen irische Truppen Heinz Becker in Kriegsgefangenschaft. Per Schiff soll es nach Nordeuropa gehen. Aber an Bord herrscht Cholera. Das Schiff nimmt Kurs auf Ägypten. In Alexandria übergeben die Iren die Gefangen an die Briten. Bilder in einem Fotoalbum zeigen Becker in der Wüste. „Strong Man“, hat Tochter Gudrun kommentiert.
"Strong Man" lautet der Titel dieses Bildes im Fotoalbum. Es zeigt Heinz Becker während der Kriegsgefangenschaft in der Wüste Ägyptens. © privat (Repro: von Schirp)
Der Senior plaudert über seinen Dienst als „Search Light Operator“. Wie er durch Hochschwenken des Suchscheinwerfers Kameraden ermöglicht, das Lager zu verlassen. Wie er mit den Engländern dealt, nicht so genau hinzusehen, dass Ägypterinnen ins Lager kommen – und sowohl englische wie deutsche Soldaten besuchen. Becker lacht. „Das hab ich alles organisiert. Für mich aber waren die Frauen tabu.“
Vier Jahre verbringt er in der Gefangenschaft. Sport bestimmt den Lageralltag. „Wir haben uns aus Lumpen Fußbälle gemacht“, erzählt er. „Ich war einfach nicht unterzukriegen.“ Obwohl er an Malaria erkrankt und auch Jahre danach noch Anfälle bekommt. Die späte Diagnose stellt der seinerzeit in Nette bekannte Hausarzt Dr. Maley.
Nationalsozialismus, Weltkrieg und die Kriegsgefangenschaft in Afrika prägen Beckers Weltanschauung und Menschenbild. „Lange bevor hier über Antirassismus diskutiert wird, war das für Papa eine Selbstverständlichkeit“, sagt Tochter Gudrun. „Wir sind nicht gefragt worden und einfach nur zusammengeblieben“, sagt Heinz Becker über die Zeit.
Unentdecktes Gesangstalent
Zurück in der Heimat, arbeitet der nun 28-Jährige im Bergbau, will Elektriker werden. Aber da ist die Höhenangst auf den Leitern im Schacht: Er wird Maschinist und Hauer. Heinz Becker heiratet. Aus zwei Ehen gehen drei Töchter hervor: Susanne und Gudrun sowie Lieselotte, die Älteste. Mittlerweile zählt die Familie fünf Generationen – mit sechs Enkeln, sechs Urenkeln und zwei Ururenkeln.
Sport begleitet ihn sein Leben lang: als junger Mann mit Fußball und Boxen. Als seine Schwiegersöhne 1980 anfangen zu joggen, schließt sich Becker an. Mit 60. Ein Laufwettbewerb in Soest über 30 Kilometer – kein Problem.
Gudrun Jovanovic (l.) fuhr mit ihrem Mann und Vater zu dessen Geburtstag in die alte Heimat. Zur Feier am Samstag kommen Cousinen und alte Freunde in den Garten von Susanne (r.) und Rainer Lösbrock. © Uwe von Schirp
Zum 100. Geburtstag stellt er sich zu einem Match mit den Enkeln an die Tischtennisplatte. „Er hat immer noch eine gute Vor-, Rück- und Schmetterhand“, sagt Schwiegersohn Rainer Lösbrock respektvoll.
Heinz Becker selbst sieht sein Talent indes in einem ganz anderen Bereich. „Ich bin Musikant“, betont er. Gesungen hat er früher, zu Karneval etwa im „Haus Purcell“. Mehrere Lieder habe er geschrieben, wie das „Vatertagslied“ und zuletzt das „Boxlied“ – eine Hommage an Max Schmeling, sein Idol.
„Papa kann richtig gut singen“, sagt Gudrun Jovanovic. „Allein für eine Ausbildung war damals kein Geld da.“ Deswegen hat der 102-Jährige nur einen sehnlichen Wunsch: Seine Lieder sollen archiviert und erhalten bleiben. In Westfalen. „Meine Heimat.“
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