
© Tobias Großekemper
Wie Eltern ihre Kinder von der Schulpflicht freikaufen – für 20 Euro im Monat
Hauptschule am Hafen
Die Hauptschule am Hafen ist eine der schwierigsten Schulen Dortmunds: 550 Schüler, 90 Prozent mit Migrationshintergrund, 80 Prozent beziehen Sozialleistungen. Wir waren eine Woche vor Ort.
Bildung, heißt es immer, ist die Lösung aller Probleme: Bildung gegen Radikale, gegen religiöse Fanatiker, gegen Armut. Bildung ist der Schlüssel zu allem. Selbstverständlich gibt es auch einen Schlüssel zur Bildung. Den hat Uwe Paukstat am Bund. Gegen 7.50 Uhr an jedem Schultag nimmt er ihn in die Hand, dann schließt der Hausmeister das große Tor zur Hauptschule am Hafen ab. Wer zu spät kommt, kommt nicht mehr rein in die Schule in der Nordstadt.
80 Prozent Erziehung, 20 Prozent Bildung
Um zu verstehen, warum der Tag hier mit Aussperren beginnt, muss man sich zuallererst klarmachen, dass hier 80 Prozent Erziehung und 20 Prozent Bildung vermittelt werden.
Es gibt hier Familien, die sprechen nicht eine Sprache, sondern vier – aber keine einzige richtig. Es gibt Kinder, die, obwohl noch nicht volljährig, verheiratet wurden. Es gibt sexuelle Übergriffe, die Eltern normal finden. Und es wird sich von der Schulpflicht freigekauft für 20 Euro im Monat. Dazu später mehr.
Den Tag der offenen Tür haben sie abgeschafft
Einen eigenen Schreibtisch haben hier nicht viele Kinder in ihrem Zuhause, von einem eigenen Zimmer ganz zu schweigen. Viele Eltern interessieren sich nicht sonderlich für die Bildung ihrer Kinder, weil in ihrer Welt Bildung nicht vorkam. Oder weil sie denken, dass alles, was ein junges Mädchen wissen muss, von der Mutter vermittelt werden kann.
An der Hauptschule am Hafen wurde über Jahre ein Tag der offenen Tür angeboten. Das Lehrerkollegium war anwesend, Besucher waren dann so zehn bis 15 da. Der Tag der offenen Tür wurde abgeschafft.
Elternabende kann man nicht abschaffen, sie sind laut Schulmitwirkungsgesetz verpflichtend. Wenn es gut läuft, kommen dann pro Klasse drei oder vier Personen. Oder auch niemand.
Keine weiteren Fragen
Als Schulleiter Dr. Norbert Rempe-Thiemann einen Brief an alle Eltern verschickte, in dem stand, dass das Schultor ab sofort um 7.50 Uhr abgeschlossen wird, um Pünktlichkeit durchzusetzen, gab es keine Reaktionen. Nicht ein einziger Elternteil von 550 Schülern hatte dazu eine Frage oder eine Meinung.
Wenn also ein Schulsystem, dessen Erfolge zum großen Teil am Elternhaus hängen, zu einem großen Teil auf Eltern trifft, denen die Schulbildung ihrer Kinder am Arsch vorbeigeht, dann sind die Kinder schnell genau dort. „Das ganze System“, sagt der 63-jährige Schulleiter, „kann sie fallen lassen. Das Elternhaus, das Jugendamt, die Gesellschaft. Nur wir, wir können das nicht. Wir sind das letzte Glied in der Kette - und haben de facto keine Handlungsoptionen.“
ln Deutschland werden Schulen klassifiziert. T1 bedeutet, von den Schülern haben nur sehr wenige einen Migrationshintergrund und nur sehr wenige beziehen Sozialleistungen. Das ist die eine Seite der Skala. Am anderen Ende steht T5. In einer Schule mit dieser Klassifikation haben mindestens 40 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund und mindestens 20 Prozent beziehen Sozialleistungen.
Die Hauptschule am Hafen ist in diesem System nicht vorgesehen. Hier haben über 90 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund und über 80 Prozent der Schüler erhält in irgendeiner Form Sozialleistungen.
In der Hauptstadt des Failed State NRW
Das sind die groben Kennziffern dieser Schule in der Dortmunder Nordstadt. Die Nordstadt. Die dient geneigten Kreisen als so etwas wie die Hauptstadt des Failed State NRW. Die Nordstadt ist der bevölkerungsreichste Stadtteil Dortmunds, der mit den meisten Problemen und der meisten Kriminalität, der höchsten Armut, den meisten Migranten und den meisten Kindern.

Hinter den modernen Mauern verbirgt sich ein älteres Schulgebäude mit hohen Wänden und langen Gängen, in denen die Schüler oft kleiner wirken, als sie sind. © Tobias Großekemper
An einem Montag im Sommer steht im Schulleitungszimmer versuchter Raub auf dem Plan. Wie das genau war auf dem Schulhof letzte Woche, als einem Schüler Geld abgenommen wurde, wird sich erst in der nächsten Woche klären, dann hat der Haupttäter eine Konferenz. Jetzt ist nur ein Mitläufer da: Ein paar Sommersprossen, das Polohemd bis oben zugeknöpft, kurze Hose, wache Augen. Sitzt ein bisschen unruhig an dem großen Tisch und soll, diese Aufgabe war ihm gestellt worden, erzählen, wie eine Schule aussehen soll, in der er keine Probleme hat und macht.
Rempe-Thiemann ist ein großgewachsener Mann mit einer großen Nase für die kleine Brille mit dem grünen Gestell. Die sonnengebräunte Haut erzählt von den vielen Kilometern, die er jeden Tag mit dem Fahrrad zurücklegt. Die grauweißen und immer etwas strubbeligen Haare, dazu ein legeres Hemd. Er wirkt nicht wie der Richter, der er jetzt hier sein muss und der etwas zu beurteilen hat.
Rempe-Thiemann lächelt den Schüler an und spricht in einem Tonfall, in dem man ihm einfach glauben muss. Jedes Wort klingt ehrlich wie ein korrekt ausgezahlter Bausparvertrag: „Ich bin echt gespannt auf deinen Plan. Mich interessieren deine Ideen.“
Die Ideen des Jungen, wie für ihn die Schule ein besserer Ort sein könnte, lauten wie folgt:
Wenn er merkt, dass er unruhig wird, will er fünf Minuten raus, Treppen laufen.
Wenn er ein Kaugummi kaut, könnte er sich vermutlich besser konzentrieren.
Pünktlich will er demnächst kommen und einen anderen Sitzplatz haben.
Und wenn er zu oft stört, – warum er zu oft stört, weiß er gar nicht; wenn die anderen stören, macht er einfach mit – hätte er gerne eine andere Strafe als nach Hause geschickt zu werden.
Was für eine Strafe das sein kann, will Rempe-Thiemann wissen.
Vielleicht länger bleiben, sagt der Junge. Dem Hausmeister helfen zum Beispiel.
Eigene Regeln werden nicht infrage gestellt.
Am Ende dieses Gespräches steht ein Vertrag, den der Junge unterschreiben wird. Falls wieder etwas vorfällt, kann Rempe-Thiemann den rausholen und auf die Regeln verweisen. Der Vorteil dieser Regeln ist, dass sie der Junge selber aufgestellt hat. Eigene Regeln werden nicht infrage gestellt.
Der Junge geht in den Unterricht und der Schulleiter sagt, dass das jetzt kein typisches Gespräch gewesen sei. Vielleicht zehn Prozent würden so verlaufen, in denen ein Kind sich und sein Verhalten hinterfragen und auch auf eine Metaebene blicken könne.
„10 Prozent, so viele?“, fragt die Schulsozialarbeiterin.
„Vielleicht bis zu 10 Prozent“, sagt Rempe-Thiemann. „Sie wissen, dass ich Optimist bin.“

Verträge hat Schulleiter Rempe-Thiemann schon viele gesehen. Und wie das so ist, manche werden eingehalten, andere nicht. © Tobias Großekemper
Tobias Zabel ist an der Hauptschule am Hafen jetzt auch schon seit 25 Jahren tätig. Der 46-Jährige ist Konrektor, die meiste Zeit des Tages sitzt er an seinem Schreibtisch mit den zwei Bildschirmen. Gegenüber der Schreibtisch vom Chef. Der Chef ist ein Mann des Wortes, Zabel ein Mann der Computer und der Zahlen, was nicht heißt, dass er nicht auch sprechen kann über das, was er jeden Tag erlebt.
Klassische Hauptschüler gibt es hier kaum noch
Hier gebe es, sagt er an einem Dienstag, kaum noch klassische Hauptschüler. Was eine erstaunliche Aussage für eine Hauptschule ist. „Hier landen die Schwächsten der Schwachen. Die, die sonst niemand haben will.“
Das seien Förderschüler.
Kinder, die noch nie eine Schule besucht haben. Oder auch Fünftklässler, die zwar eine Schule besucht, aber trotzdem noch nie eine Schere in der Hand hatten und mit Glück Kindergartenniveau haben. Dass es solche Bildungsbiographien in einem der reichsten Länder der Erde überhaupt gibt, kann erstaunen.
Eigentlich dürfte es solche Schüler im deutschen Bildungssystem nicht geben. Aber dass es sie gibt, sehen sie hier jeden Tag. Kinder, so sagt es Zabel, die hier mit drei oder vier Jahren Minus in die fünfte Klasse starten. Was ja auch die Perversion des Schulsystems beschreibe. Man soll alle Kinder da abholen, wo sie stehen. Aber dann sollen alle Kinder zu einem festen Zeitpunkt die gleichen Standards erfüllen.
Wer für mehrere Tage Zabel und Rempe-Thiemann begleitet, wird immer wieder bemerken, dass sie aufs deutsche Schulsystem, obwohl sie in ihm arbeiten, nicht die allergrößten Stücke halten. Weil es ihnen in ihrer Realität nicht viel hilft. Denn da es zum Beispiel aus Sicht der Behörde keine Kinder geben darf, die trotz des Durchlaufens der Grundschule de facto wenig bis gar nichts können, gibt es keine Lösungen für sie.
Fortbildungen gegen strukturelle Probleme
Auffangklassen sind ein anderes Beispiel. Als Auffangklassen bezeichnet man Klassen, in denen Schüler mit rudimentären oder gar keinen Deutschkenntnissen fit für die Schule gemacht werden sollen. Dass es diese Klassen gibt, wurde einer breiteren Öffentlichkeit erst mit den geflüchteten Menschen im Jahr 2015 bekannt, als Auffangklassen auf einmal Thema wurden. In der Hauptschule am Hafen gibt es sie seit über 20 Jahren.
Konsens war, dass solche Klassen nur handhabbar sind, wenn dort nicht mehr als 18 Schüler unterrichtet werden. Als mehr Plätze gebraucht wurden, kam aus dem Ministerium dann der Vorschlag, den Lehrern Schulungen anzubieten, damit danach die Klassen größer werden könnten. „Fortbildungen anzubieten, um damit strukturelle Probleme anzugehen – das funktioniert einfach nicht“, sagt Rempe-Thiemann.
Während er das sagt, beginnt der Feueralarm, endet kurz darauf wieder, der Hausmeister wird die Schule ablaufen. Auch dieser Alarm wird später noch Thema in diesem Text werden.
Abgeschult wie abgehalftert oder abgeschrieben
Es funktioniert aus Sicht der beiden auch hinten und vorne nicht, dass es keine klare Steuerung bei der Verteilung der Kinder nach der Grundschule gibt. Aus politischen Gründen zähle der Elternwille beim Wechsel zur weiterführenden Schule. Wenn eine Grundschule einem Kind attestiert, dass es auf einer Hauptschule gut aufgehoben ist, schicken die meisten ihr Kind dennoch auf eine höhere Schule, denn das Kind soll es ja mal – universeller Elternwille – gut haben.
Diese Schüler landen dann nach der sechsten Klasse doch wieder in anderen Schulformen. Das führt dazu, dass zu Beginn des fünften Schuljahres die Hauptschulen ihre Klassen mit Müh und Not voll bekommen und am Anfang des siebten Schuljahres von Schülern überrannt werden, die zwei Jahre nicht mitgekommen sind - und frustriert. Abschulung nennt man das, wenn Kinder in andere Schulformen versetzt werden. 160 Kinder wurden in diesem Sommer in der Stadt vom Gymnasium abgeschult, 150 von den Realschulen.
Wer hat hier eigentlich die Probleme?
Julian ist so einer, er sitzt mit verschränkten Armen an einem Donnerstag an dem großen Tisch im Schulleiterzimmer. Neben sich hat er seine Mutter und zwei Familientheraupeutinnen, es geht um einen möglichen Wechsel an die Hauptschule am Hafen. Der 11-Jährige hat offenkundig nicht ansatzweise Lust auf das Gespräch mit insgesamt sieben Erwachsenen. Rempe-Thiemann holt wieder seine Vertrauensstimme raus.
„Du möchtest wechseln?“
„Mmhh…“
„Nicht?“
„Weiß nicht.“
Grob zusammengefasst hat das Kind auf seiner Realschule regelmäßig Probleme bis hin zur Suspendierung. Und einen Unterrichtsbegleiter. Die Mutter wiederum, alleinerziehend und mit einer Vollzeitstelle, hat große Angst, dass, sollte das Kind von der Schule fliegen, es keinen Schulabschluss mehr wird machen können.
„Wer hat das Problem, deine Mutter oder du? Denk ruhig länger darüber nach.“
Nach längerem Schweigen schließlich ein zögerndes „Ich?“
„Du?“
„Weiß nicht.“
ADHS-Medikamente sind für den Schulleiter „Verseuchungen“
Die Mutter erzählt weiter, wie das damals anfing mit dem Kind, das immer sehr schnell war, schnell gesprochen hat, schnell gelaufen und kaum gekrabbelt ist. Wie dann die ersten Probleme im Kindergarten und später weitere in der Grundschule auftauchten. Arztbesuche, Psychologengespräche. Dann die Diagnose ADHS und die entsprechenden Medikamente.
Für Rempe-Thiemann ist das der Moment, sich an den Jungen zu wenden und ihn mit ruhigen Worten und freundlicher Stimme aus dem Raum zu lotsen.
Während der Junge vor der Tür sitzt, sagt der Schulleiter, dass er immer strubbelige Haare bekomme, wenn er das Wort ADHS höre. Es folgt eine kurze Ansprache über die pharmakologische Verseuchung von Kindern durch Medikamente, die wiederum extrem viel Potenzial verschütten würden. „Kinder“, wird Rempe-Thiemann später sagen, „bekommen heute sehr schnell Medikamente, wenn sie im System Schule oder im System Familie nicht so funktionieren, wie das erwartet wird.“
Zeitgleich werde das Zeitfenster, in dem Kinder, die halt einfach verschieden seien, sich an Systeme anpassen könnten, immer kleiner. Dem Kind sei dann sehr schnell klar, dass es anders sei, weil es nicht so wie die anderen funktioniert. In der Folge werde das Kind sich immer kontrollieren wollen und irgendwann einfach nicht mehr wissen, was richtig und was falsch ist. Ein Teufelskreis aus Anderssein, Anecken und dem Gang zur Apotheke.
Unter drei Bedingungen könnte der Junge an die Schule wechseln.
Erstens: Er muss wollen.
Zweitens: Die Schule will ihn so kennenlernen, wie er wirklich ist, also „ohne pharmazeutisch verseucht zu sein“.
Drittens muss das Kind seinen Schulbegleiter, den es jetzt hat, mitbringen.
Die Mutter zweifelt.
Der Junge, der später mit Rempe-Thiemann länger auf dem Flur alleine spricht, will sich nicht von seinen alten Freunden trennen. Aber insgesamt wollen sie über das Gehörte nachdenken.
Ganz am Ende des Gespräches dann die Frage an die Mutter, was sie sich eigentlich wünscht? Die Frau wirkt sehr, sehr erschöpft, als sie sagt: „Dass Julian endlich mal ankommen kann. Und mein Leben nicht immer nur permanent von Schule bestimmt wird.“
Rempe-Thiemann ist fest davon überzeugt, dass, hätte es in seiner Kindheit schon die Diagnose ADHS gegeben, er selbst Medikamente bekommen hätte – und als er das erklären will, geht die Tür auf und es klärt sich mit einer hineinkommenden Leherin, wie das mit dem Feueralarm kam.
Ein Schüler, der zuvor schon angekündigt hatte, keinen Bock auf die gleich kommende Mathearbeit zu haben, stand draußen vor seinem Klassenraum auf dem Flur, ein wenig Blut an der Faust und das Glas, hinter dem der Feueralarmknopf geschützt war, zersplittert am Boden. Spaß habe man gehabt oder gemacht, gerangelt, sich geschubst und da sei er dann gegen den Feueralarmknopf geprallt. Vier waren insgesamt beteiligt, alle haben am nächsten Morgen einen Termin beim Schulleiter. Zwei werden erscheinen. Der mit dem Blut an der Faust nicht.

Hier sorgt ein Schild für Ordnung. © Tobias Großekemper
Am Dienstagnachmittag sitzen vier der insgesamt fünf Schulsozialarbeiter um den Tisch, dazu der Schulleiter und sein Vertreter. Es ist eine wöchentliche Sitzung, es gibt Kaffee und grünen Tee und nacheinander berichten die Schulsozialarbeiter, zwei Männer und zwei Frauen, über die jeweiligen Jahrgangsstufen, wobei die fünfte und die sechste Klasse zusammenlaufen.
Die sechs Menschen unterhalten sich unter anderem über zwei sexuell übergriffige Jugendliche. Von einem der beiden waren bereits Mutter und Großmutter zum Elterngespräch da und wunderten sich, weswegen man sie denn bitte in die Schule gerufen habe. Ihr Kind bzw. Enkel habe sich doch vollkommen normal verhalten. Für Rempe-Thiemann ist das der „kulturelle Clash, mit dem wir jeden Tag zu tun haben“.
Hier zeigt sich der Clash durch einen rund 100 Kilogramm schweren Siebtklässler, der als Vorbild den kolumbianischen Drogenhändler Pablo Escobar angibt und der, wenn er sich nicht einmal in der Woche mit einem Sexualpädagogen auseinandersetzt, nicht mehr am Unterricht teilnehmen darf.
16 Jahre und verheiratet
Weiter werden in der einstündigen Sitzung abgehandelt: Mehrere Kinder, die zwar teilweise seit Wochen nicht zur Schule kommen, deren Eltern aber trotzdem eine Schulbescheinigung wollen und dafür teilweise mit einem Anwalt drohen.
Zwei Kinder mit psychischen Problemen sind ebenfalls Thema. Ein Junge mit einer Sozialphobie, ein Mädchen, das, warum auch immer, permanent lügt und aktuell wieder mal behauptet, schwanger zu sein.
Und dann ist da noch ein Mädchen, 16 Jahre alt und nach drei Nächten in der Jugendschutzstelle wieder zur Familie zurückgekehrt. Davor hatte es Stress mit den Eltern gegeben, der Hintergrund ist offenbar eine nicht ganz freiwillig vollzogene Hochzeit mit einem älteren Mann, bei dem das Mädchen, wenn es nicht bei seinen Eltern ist, übernachtet. Nach einem Streit - es gab offenbar auch Drohungen - ist das Mädchen in die Jugendschutzstelle gekommen. Jetzt aber soll wieder alles wunderbar sein.
Was man aus Sicht des Mädchens vielleicht nachvollziehen kann. Sie hat hier in Deutschland lediglich ihre Brüder und Eltern, und wenn sie sich jetzt von denen lossagt, weil sie den Erwartungshaltungen nicht entspricht, hat sie niemanden mehr und alles verloren. Nicht nur ihren Mann.
Die Frage, die jetzt im Raum steht, ist: Was ist größer: Der Leidensdruck des Mädchens oder die Wichtigkeit der Familie.
„Die Aktualität macht die Krise“
Ruhig wird das besprochen, wie alle anderen Fälle auch. Als die Sitzung nach gut einer Stunde vorbei ist, sagen die Sozialarbeiter auf die Frage, was denn eigentlich eine echte Krise ist, wenn das gerade alles ganz entspannt war: „Die Aktualität macht die Krise.“
Wenn also etwas wirklich drängt, wegen Kindswohlgefährdung zum Beispiel, dann sei das eine Krise, bei der man nicht bis zu einer Sitzung am Dienstag warten kann. Dann müsse man sofort reagieren. Einen Tag später wird es soweit sein: Wieder ein Mädchen, wieder muss es aus der Familie raus. Sofort. Die 15-Jährige hatte ihren Eltern gesagt, dass sie nicht mehr gläubig sei.
Dass Menschen mit Anwälten drohen, um Schulbescheinigungen zu bekommen, kommt vor. Geklagt hat aber noch niemand. Einmal hat eine Anwältin angerufen und nachgefragt, warum ihr Mandant keine Bescheinigung bekomme. Als das Gespräch vorbei war, haben sie am Hafen nie wieder etwas von der Frau gehört. Schulbescheinigungen sind, das wissen sie jetzt auch schon länger an der Schule, bares Geld wert, dafür gibt es Sozialleistungen vom Staat. Und wer die haben will, braucht eben eine Bescheinigung. Die gibt es aber nur, wenn die Schule auch regelmäßig besucht wird.
Verzicht auf den Schulbesuch für nur 20 Euro im Monat
Wer nicht regelmäßig kommt, bekommt einen Bußgeldbescheid. Diese Bußgeldbescheide wiederum sind auch ein Grund, warum sich die Schule am Hafen nicht nur wie ein zahnloser Tiger fühlt, sondern eben auch einer ist. Denn der Umgang mit den Bußgeldern ist ein exzellentes Beispiel für das, was Konrektor Zabel als Mangel an Disziplinierungsmöglichkeiten beschreibt:
Bußgeldbescheide stellt die Schule im Durchschnitt fünf bis zehn in der Woche aus. Die Höhe des Bußgeldes wiederum trägt die Stadt Dortmund ein. Wie viel das ist, ist verschieden, ungefähr 80 Euro zum Beispiel kostet ein Tag vor oder nach den Ferien. Falls eine Familie mehrere Kinder hat und alle zwei bis drei Tage vor oder nach den Ferien fehlen, weil dann die Flüge billiger sind als zum konkreten Ferienbeginn oder -ende, kommen schnell mehrere hundert Euro zusammen. Auch wenn ein Kind mehrere Wochen nicht in der Schule erscheint, kann es schnell teuer werden. Theoretisch zumindest.
Die Praxis, die Rempe-Thiemann und Zabel erleben, sieht so aus, dass es an ihrer Schule Familien gibt, die inzwischen mittlere fünfstellige Summen Bußgeldschulden haben. Geld, das sie nicht haben. Oder angeben, nicht zu haben. Der Schulleiter und sein Vize haben es schon erlebt, dass sie dann einen Termin mit einem Schuldnerberater hatten.
Das Geld sei knapp, hieß es dann, Ratenzahlung sei der einzige Weg, 20 Euro im Monat seien möglich. Dann begann die Ratenzahlung im ersten Monat. Und im selben Monat sammelte die gleiche Familie weitere Bußgelder von knapp 500 Euro ein.
Von Schultagen werde sich so, sagt Rempe-Thiemann, einfach freigekauft. Mit Raten in Höhe von 20 Euro im Monat.
Wenn eine Schule oder die Gesellschaft die Schulpflicht nicht erzwingen kann, wie verpflichtend ist dann die Schulpflicht? Jeder Tempoverstoß im Straßenverkehr oder jedes Schwarzfahren im öffentlichen Personennahverkehr wird konsequenter geahndet als das Schuleschwänzen.
Sie strahlt wie ein frischpolierter 3er BMW
„Die sind alle so nett“ sagt Frau Berti, ihre großen Augen strahlen durch die große Brille eine Wärme aus wie ein Heizpilz, und sie strahlt wie ein frischpolierter 3er BMW. Frau Berti ist eine der 54 Lehrer an der Schule und Klassenlehrerin einer siebten Klasse, in der alle so nett sind.
Auf ihrem Pult steht ein Gong, mit dem sie bei Bedarf für Ruhe sorgen kann. Und wenn der Unterricht um 7.50 beginnt, dann setzen sich die Schüler alle in einem Kreis zusammen und machen, um in den Tag zu starten, eine Art autogenes Training. Sie selbst macht seit über 10 Jahren Yoga. „Wir sind“, sagt Frau Berti, „doch alle immer nur außen. Wann sind wir denn schon einmal ganz bei uns?“
Ganz bei uns oder bei sich sitzen die Schüler im Kreis, haben die Augen geschlossen und hören die Stimme ihrer Lehrerin, die sie dazu auffordert, dem eigenen Atem durch den Körper zu folgen. Je früher man damit anfange, auf sich selbst zu achten und bei sich selbst zu sein, umso besser sei das, sagt Frau Berti.

Pflanzen auf Beton in einer Aula. Und Schüler natürlich. Ohne Gesichter. Und ohne richtige Namen in dieser Geschichte. © Tobias Großekemper
Später dann beginnt der Mathematikunterricht, am Ende der Woche steht noch eine Mathearbeit an. Ein Mädchen kann sich nicht konzentrieren. Warum das so ist, weiß sie auch nicht, sagt sie. Ein anderes Mädchen will trotz Hitze die Jacke nicht ausziehen, eine andere sagt irgendwann laut: „Wallah, ich muss lernen, wir schreiben Arbeit, ich kann nix.“
Die Fünf-Minuten-Pause beginnt, und Klassenlehrerin Berti fragt, wer auf die Toilette muss. Woanders wäre die Frage vielleicht ungewöhnlich, hier ist sie es nicht, denn die Toilettentüren sind regulär abgeschlossen und werden nur bei Bedarf geöffnet. Wären sie ständig offen, sagt der Schulleiter, wären sie nach drei Tagen zerstört. Und das Klopapier wäre weg.
„Seien Sie ein guter Mensch“
Am Donnerstagmorgen, als Uwe Paukstat das Tor verschließt, kommt ein großgewachsener Schüler ganz entspannt die Scharnhorststraße entlanggelaufen. Hätte er sich ein wenig beeilt, hätte er es vielleicht noch geschafft, pünktlich durch das Tor zu schlüpfen. Aber er beeilt sich nicht, er läuft gemächlich am Schultor vorbei, geht die vielleicht 75 Meter an der Außenwand der Schule entlang und verschwindet dann an einem zweiten Eingang, mehr eine Einfahrt. Auch sie ist mit einem gut 2,30 Meter hohen und massiven Metall-Zaun versperrt.
Man hört es kurz ein bisschen klappern, dann zwei auf Asphalt aufkommende Turnschuhe, dann spaziert der Schüler ganz entspannt über den Schulhof und verschwindet im Gebäude. Vor dem Haupttor stehen zwei Mädchen, sie sind deutlich kleiner und für sie stellt der Zaun eine unüberwindliche Hürde dar. „Können Sie mich reinlassen? Ich bin dreimal in Folge zu spät gekommen, ich krieg richtig Ärger. Seien Sie ein guter Mensch.“
Feueralarm-Knöpfe nur bei Feueralarm benutzen
Ebenfalls am Donnerstagmorgen ist dann doch der Junge ins Rektorat gekommen, der zwei Tage zuvor den Feueralarm ausgelöst hatte. Trägt einen grauen Hoodie, eine Jeans, die obligaten Sportschuhe, seine sind schwarz. Die Haare sind an den Seiten rasiert und oben länger, an der Oberlippe leichter Flaum.
So sitzt er im Schulleitungszimmer an dem großen Tisch, an dem nicht nur sein Fall, sondern eher grundsätzlich Regeln und Integration täglich neu verhandelt werden. Heute also die Regel, dass Feueralarm-Knöpfe nur bei Feueralarm zu bedienen sind.
„Wo warst du gestern?“
„Ich hab verschlafen und bin dann daheimgeblieben.“
„Hast du eine Entschuldigung dabei?“
„Nein.“
Der Junge sitzt nicht zum ersten Mal hier, seine Schulakte hat diverse Einträge, die Eltern waren zuletzt Anfang Mai zum Elterngespräch geladen, es ging damals um, pädagogisch ausgedrückt, extrem respektloses und regelverletzendes Verhalten. Anders formuliert: Er behandelt alle anderen wie den letzten Dreck.
Er bekommt vorgelesen, was er zuletzt selbst für sich als Regeln aufgestellt hatte. Da wollte er „etwas erreichen, Verantwortung tragen, aufpassen, respektvoll und pünktlich sein und grundsätzlich Regeln anerkennen“.

Rechnen mit Holzklötzchen im Mathe-Förderunterricht. © Tobias Großekemper
Hier und jetzt ist davon nicht so viel zu sehen, Schuld sind immer die anderen, der Schüler will nix getan haben, und alles soll nur ein Versehen gewesen sein. Wie er so vor dem Rektor der Schule auftritt – ablehnend, von sich weisend, tendenziell aufbrausend, dabei insgesamt drei erwachsene Männer im Raum – stellt sich zwangsläufig die Frage, wie er sich in einem Klassenraum voll mit Gleichaltrigen benimmt, vor sich eine Lehrerin.
Gelegenheit dazu bekommt er erstmal keine, heute und morgen ist er suspendiert, die Eltern werden Post im Briefkasten finden, darin einen Termin für das nächste Elterngespräch.
Vielleicht doch lieber Peitsche statt Zuckerbrot?
Wer so einem Gesprächsverlauf folgt, kommt zwangsläufig zu der Frage, ob Verständnis, Empathie, das Sehen des Jugendlichen hinter seinem Verhalten, ein Weg sein kann, um aus ihm einen sich an allgemeingültige Regeln haltenden Menschen zu machen. Oder, anders formuliert, ob nicht Peitsche statt Zuckerbrot irgendwann das Mittel der Wahl sein müsste.
Rempe-Thiemann glaubt, dass er zwei Möglichkeiten hat: Reden und Einsicht erzeugen oder Sanktionen erlassen. Der Schulleiter hält den ersten Weg für den einzig gangbaren. Würde er ständig sanktionieren, müsste er genauso ständig kontrollieren, ob seine Sanktionen auch durchgesetzt werden.
Er aber geht fest davon aus, dass die Kinder und Jugendlichen ihn mögen wollen. Und von ihm gemocht werden wollen. Weil er zuhört, weil er die Fragen stellt, die sonst nicht gestellt werden, weil er Vertrauen anbietet, das ansonsten Mangelware ist.
Ab in den Steinbruch
Rempe-Thiemann spricht irgendwann in diesen Tagen von einer australischen Studie, derzufolge Kinder bessere Schüler werden, wenn sie gesehen werden, weil man sie wahrnimmt, sich mit ihren Situationen auseinandersetzt. Das ist eine wesentliche Koordinate in seinem Lehrerleben.
Eine andere heißt Anton Makarenko, der bedeutendste Pädagoge der Sowjetunion, 1888 in der Ukraine geboren. Als sein Hauptwerk gilt der Roman „Ein pädagogisches Poem“, in der Makarenko über seine Arbeit als Heimleiter und -pädagoge in zwei russischen Heimen für schwer erziehbare Jugendliche schrieb. Makarenko, so steht es bei Wikipedia, „beabsichtigte eine Erziehung ohne die Gewalt der Prügelstrafe und ohne hierarchische Autorität seitens der Lehrer. Die Erziehung basierte auf einer Einheit von verinnerlichter Disziplin, Selbstverwaltung und nützlicher Arbeit.“
Und diese nützliche Arbeit wiederum bestand laut Rempe-Thiemann darin, dass die Jugendlichen erst in einen Steinbruch geschickt worden waren. Und dann, als sie platt waren, wurden sie erzogen und gelehrt. „Und das“, sagt Rempe-Thiemann, „sehr erfolgreich. Die Jugendlichen sind natürlich nicht als gesellschaftliche Eliten angesehen worden. Aber sie haben ihren Weg ins Leben gefunden. Und mehr können wir auch nicht erreichen.“
Steinbrüche hat die Hauptschule am Hafen nicht in Reichweite, dafür kommt regelmäßig der TSC Eintracht vorbei. Nach Borussia Dortmund ist das der größte Sportverein in der Stadt. Seit 2013 ist der Verein in einem Kooperationsmodell an der Schule aktiv. Die Sportler kommen zum offenen Ganztag, und die Kinder können zum Verein.
Allein, dass so etwas funktioniert, dass also Kinder und Jugendliche Zugang zu einem Sportverein bekommen, der ihnen eigentlich schon wegen der Mitgliedsbeiträge die Tür vor der Nase zumachen müsste, ist, nun ja, sportlich. Aber es funktioniert. Auch, wenn man das manchmal nicht glauben möchte, weil das Elend dieser Welt sich dann doch wieder in der Schule zu versammeln scheint. Und man manchmal einfach nicht weiß, was man sagen soll und in diesem Moment der Schwäche dann doch wieder an den Rohrstock denkt, wohlwissend, dass der auf Dauer eben nichts besser, aber vieles schlimmer gemacht hat.

Schulhof ohne Schüler. Alles ganz friedlich hier. © Tobias Großekemper
Eine Woche nach dem ersten Termin in der Sache Schulhofraub sitzt dann der Haupttäter bei Rempe-Thiemann. Es ist Teilkonferenzzeit. Die Teilkonferenz ist das Gremium der Schule, das den Schulverweis aussprechen kann. Bis vor zehn Jahren musste bei einer solchen Konferenz das gesamte Kollegium anwesend sein, das erwies sich aber mit zunehmendem Anstieg der Konferenzzahlen als unpraktikabel.
Vier Vertreter der Schule sind heute hier, dazu die Mutter des Jungen sowie eine SPFH. Das steht für sozialpädagogische Förderhilfe, die Frau soll auch übersetzen. Und natürlich der Jugendliche. Ihm wird vorgeworfen, mit anderen zusammen zunächst eine Drohkulissse aufgebaut und dann die Taschen von zwei Fünftklässlern nach Geld durchsucht zu haben.
Bei „manchen“ Lehrern respektvoll
Wie jeder der 550 Schüler hat der Junge eine Akte, sie hat relativ weit hinten eine Seite für Einträge. Gut 500 Schüler haben auf dieser Seite keinen Eintrag. Bei dem Jungen, einem der körperlich größten in seiner Stufe, gibt es drei Seiten, zweieinhalb davon sind vollgeschrieben.
Die Sekretärin bedroht, Mitschüler verprügelt, Lehrer belogen, Kopfhörer „ausgeliehen und nicht zurückgegeben“, viereinhalb Wochen unentschuldigte Fehlzeiten im letzten Halbjahr. Über all diese Dinge und den Raub wird in den nächsten 45 Minuten gesprochen werden, und der Junge hat für alles die grundsätzliche Entschuldigung, dass es erstens immer anders war als dargestellt und zweitens andere Menschen oder Umstände verantwortlich waren. Er verhalte sich immer korrekt und gegenüber den Lehrern bei „manchen“ respektvoll.
Und bei den Schlägereien haben ihn die anderen aufgeregt.
Einmal, ein einziges Mal, räumt er ein, dass seine Mitschüler „Angst haben und sich schlecht fühlen“.
Willkommen in Babylon - nach dem Turmbau
Die Dolmetscherin ihrerseits hat leichte Probleme mit der Übersetzung. In der Familie scheint ein Sprachmischmasch aus mazedonisch, serbisch und roma gesprochen zu werden, deutsch vielleicht auch noch, aber nichts davon vollständig oder gut. Wie soll, fragt der Schulleiter mehr oder weniger rhetorisch, Erziehung gelingen, wenn eine Familie nicht richtig miteinander sprechen kann?
Eine Antwort darauf hat er nicht, vermutlich, weil es keine gibt.
Am Ende wird der Junge mehrfach gefragt, ob er klar und deutlich verstanden hat, was die Teilkonferenz beschlossen hat. Er sagt mehrfach Ja, und somit sollte er jetzt wissen, dass er sich erstens eigenständig bei einer Schulsozialarbeiterin melden soll und zweitens die Androhung eines Verweises von der Schule bekommen hat.
Da das etwas umständlich formuliert ist, erklärt es Rempe-Thiemann noch einmal anders: „Wenn wir uns beim nächsten Mal wegen so etwas hier sehen, verabschieden wir uns von dir.“ Was er nicht sagt, ist, dass dem die Bezirksregierung dann noch zustimmen müsste.
Den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit kennen sie hier alle
Meistens jucken Suspendierungen niemanden. Manchmal wird sich, sagt Rempe-Thieman, aber auch von außen eingeschaltet. So wie einmal, als ein Schüler trotz Ansprache und selbstaufgestellten Regeln und Empathie nicht im Ansatz zu bändigen war und auf einer Klassenfahrt über Tische und Bänke ging. Der Vater wurde daraufhin angerufen, damit der seinen Sohn abholte, was der Vater verweigerte.
Stattdessen kam er später in die Schule, begleitet wurde er von einem Mann, der sich als „Dortmunder Urgestein“ bezeichnete und darüber hinaus angab, beste Kontakte zum OB zu haben. Die marokkanische Familie des Jungen, sagte der Mann, sei ein Muster an Integration und werde an der Schule schlecht behandelt. Der Subtext, der hier mitschwang, war: Das Verhalten ist ausländerfeindlich. Den Vorwurf der Ausländerfeindlichkeit kennen sie an der Schule recht gut, der wird regelmäßig auch gegen Kollegen erhoben, die selbst einen Migrationshintergrund haben.
Ein Standpunkt für alle Urteile
Der Vorwurf ist also nicht neu. Das Absurde an der Situation ist für Rempe-Thiemann nicht unbedingt der Vorwurf. Das Absurde für ihn ist, immer wieder Menschen zu begegnen, die einen ganz festen Standpunkt haben und von da aus alles beurteilen, womit sie in ihrem Leben konfrontiert werden.
Vielleicht ist es dieser Geist, der die Schule am Hafen laufen lässt. Eben nicht von einem festen Standpunkt zu schauen, sondern sich zunächst auf den Gegenüber einzulassen und dann zu schauen, was man gemeinsam erreichen kann. Jedes Kind, das hierher kommt, ist eine Blackbox, bei der man nicht weiß, was in ihr drinsteckt und warum das Kind so ist, wie es ist. Keine Erziehung? Ein Trauma? Verminderte Intelligenz oder eine Krankheit? Gewalterfahrungen? Vernachlässigung?
Das zu überprüfen, dazu sitzen sie hier. Ein ganzes Kollegium, fünf Sozialarbeiter, was für deutsche Verhältnisse schon viel ist, aber immer noch zu wenig ist. Fünf Sozialarbeiter, von denen der Schulleiter sagt, dass er direkt kündigen würde, würde man diese Stellen streichen. Fünf Sozialarbeiter, die pro Schuljahr auf gut 300 Kontaktaufnahmen zum Dortmunder Jugendamt kommen.
So geht eine Woche dahin in der Hauptschule am Hafen. Eine Woche, in der häufig gesagt wird, dass es eigentlich schade sei, dass man im Sommer vorbeischaue. Im Winter, dann, wenn die Kinder und Jugendlichen eigentlich nur in geschlossenen Räumen unterwegs sind, dann sei hier noch einmal deutlich mehr Druck auf dem Kessel.
Rund 15 von 550 Schülern saßen bei Rempe-Thiemann und Zabel am großen Tisch in ihrem großen Zimmer. Diverse Teambesprechungen liefen hier. Und die Zukunft von diversen Kindern war hier Thema. So wie jede Schulwoche. Und jedes Schuljahr. An dessen Ende dann im Schnitt 95 Prozent der Kinder einen Abschluss haben und elf Prozent auf eine weiterführende Schule gehen.
„Sie werden“, sagt der Schulleiter, der sich noch einmal an den Pädagogen Makarenko erinnert, „nicht die späteren Eliten stellen und durch Steuerbetrügereien Millionen erschleichen. Aber sie werden ihren Weg gehen können.“
Neulich hat Rempe-Thiemann zufällig einen ehemaligen Schüler wiedergetroffen. Das war auch so ein Kandidat, bei dem Hopfen und Malz verloren war. „An den hat hier wirklich niemand mehr geglaubt. Der junge Mann, jetzt Anfang 30, hat eine Ausbildung gemacht, später Elektrotechnik studiert und hat jetzt einen soliden Job, eine solide Familie und ein solides Leben“, und während der Schulleiter das erzählt, schmunzelt er leicht. Und ein bisschen stolz.
Makarenko wäre vermutlich zufrieden gewesen.
Ich wurde 1973 geboren und schreibe seit über 10 Jahren als Redakteur an verschiedenen Positionen bei Lensing Media. Als problematisch sehen viele meiner Kollegen oft die Länge meiner Texte an. Aber ich schreibe am liebsten das auf, was ich selber bevorzugt lesen würde – und das darf auch gerne etwas länger sein.
