Gerd Adlung mit dem Schreiben, das seinen Eintritt bei den Grünen bestätigt. Er ist einer von 79 Dortmundern, die seit Jahresbeginn bei den Grünen eingetreten sind, davon 14 mit über 60 Jahren. © Gaby Kolle
Parteimitgliedschaft
Grüne in Dortmund wachsen rasant – Darum tritt ein 70-Jähriger noch ein
Die Grünen in Dortmund wachsen rasant. Die Partei gilt nach wie vor als „jung“ – doch selbst ein 70-Jähriger ist jetzt neu bei den Grünen eingetreten. Das steckt dahinter.
Gerd Adlung hat die grüne Haltung in seiner DNA – und ist trotzdem erst mit 70 Jahren in die Partei eingetreten. Wie seit Anfang des Jahres weitere 78 Dortmunder. Sie haben die Partei der Grünen auf 443 Mitglieder gepusht. Ein Zuwachs um 21,7 Prozent.
Doch warum tritt man noch mit 70 in eine Partei ein? Eigentlich ist Gerd Adlung, Pensionär und Radfahrer, nie ausgetreten. War schon 1989 Mitglied. Nur irgendwann Anfang der 90er-Jahre waren die Mitgliedsbeiträge nicht mehr abgebucht worden. Da war die Sache für ihn erst mal erledigt.
Beim Germanistik- und Soziologie-Studium in Hamburg von 1970 bis 1975 erlebt Gerd Adlung hautnah den Geist der Veränderung, der durch die Republik weht: Man diskutiert Alternativen für die Wirtschaft, lebt in Wohngemeinschaften, stellt Autoritäten infrage, hinterfragt den Konsum als nicht sinnerfüllend und hört Rockmusik.
Bei der Demo in Brokdorf dabei
„Dann folgte eine Politisierung“, erinnert er sich, ausgelöst durch Drohworte der damaligen Zeit wie Waldsterben, Kalter Krieg, Atomenergie, Unterdrückung der Frau, Hunger und Elend in der Dritten Welt. Bürgerinitiativen entstehen in der Mitte der Siebziger gegen geplante Atomkraftwerke wie Brokdorf und den Schnellen Brüter in Kalkar. „1981 war ich bei der Demo in Brokdorf dabei“, berichtet Adlung. Man machte Opposition gegen den konventionellen Politikbetrieb und suchte nach alternativen Lebensformen. „Die Zielsetzung der Alternativbewegung hat damals mit meinen Werten zusammengepasst.“
1981 kam Gerd Adlung nach Dortmund. Die Grünen waren ein Jahr zuvor gegründet worden, Adlung war noch kein Mitglied, doch er arbeitete damals im Ortsverband Innenstadt mit. „Dort saßen christlich Bewegte, Linksradikale, aber auch Waldschrate“, erinnert er sich lächelnd. Lebendige Diskussionen drehten sich um Zukunftsfragen.
Familie und Beruf hatten Priorität
Als Gerd Adlung dann 1989 bei den Grünen eintrat, hat er schon nicht mehr aktiv mitgearbeitet. Die Familie und der Beruf als Lehrer an den Kaufmännischen Schulen II, heute Karl-Schiller-Berufskolleg, hatten Priorität. Der Kurswechsel in der Verteidigungspolitik der rot-grünen Bundesregierung, der sich spätestens seit 1999 mit dem Bundeswehr-Einsatz im Kosovo und 2001 in Afghanistan manifestierte, und die Agenda 2010 taten in seinen Augen ihr Übriges, eine Parteimitgliedschaft als wenig sinnvoll zu erachten.
Bis zu diesem Jahr. Am 11. Januar ist er wieder eingetreten, „als guten Vorsatz fürs neue Jahr“; denn Deutschland und die Welt stehen wieder vor drängenden Fragen: Klimawandel, Artensterben, Verkehrs- und Energiewende, Flüchtlings- und Migrationspolitik, Folgen der Digitalisierung, Sicherung der Demokratie gegen Rechts, Auseinanderfall der europäischen Wertegemeinschaft . . . „Es herrscht große Verunsicherung“, sagt er, „man kann die Augen vor der Erderwärmung nicht mehr verschließen, auf allen Ebenen wird nach Alternativen gesucht.“
Niveauvolle Ratlosigkeit
Die Ziele der Grünen haben ihn erneut überzeugt, aber auch wegen ihrer Spitzen Annalena Baerbock und Robert Habeck ist er wieder eingetreten. „Mir gefällt der Politikstil von Habeck, die niveauvolle Ratlosigkeit, wenn er komplexe Sachverhalte als Fragen formuliert.“ Auch dass die Partei für ihr neues Grundsatzprogramm 2020 Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen auffordert, sich zu beteiligen.
Wenn das schon ein guter Grund war, bei den Grünen wiedereinzutreten – das war es nicht allein. Adlung ist seit 2013 pensioniert. Nach 40 Jahren Berufstätigkeit habe er auch ein neues Aufgabenfeld gesucht, „um sinnerfüllt alt zu werden“. Und über Generationen hinweg neue Anregungen zu bekommen und eigene Erfahrungen einzubringen. Soziale Einbindung ist das Stichwort.
So sehr er auf einer Linie mit der Bundespartei ist – mit den Grünen in Dortmund und seinem Ortsverband Innenstadt-Ost fremdelt Adlung noch. Der Einfluss der Grünen vor Ort sei gering, meint er. Auch wenn es Fortschritte gebe, gefühlt habe sich etwa an der Verkehrssituation für Radfahrer nichts geändert.
Großer Aufbruch hat Bremsspuren
Sein großer Aufbruch bei den Grünen hat schon Bremsspuren. Er dachte, bei den 14-tägigen Treffen ginge die Post ab. Doch dort geht es nicht um Mikroplastik und Klimawandel, sondern eben auch um das Aufstellen von Bänken und Entfernen von Graffiti. Die tiefere Ebene ist mühselig. Das brauche Geduld und langen Atem, sagt er. Doch ein Wahlamt komme für ihn nicht mehr infrage. „Da sind die Alten im Vorteil. Wir wollen nichts mehr werden. Das entlastet.“
Auch die Grünen, einst vor allem eine junge Bewegung, sind in die Jahre gekommen, alt geworden. Von den 79 Neumitgliedern in Dortmund sind 32 über 50, 14 sogar über 60 Jahre alt. Schon seit 2004 gibt es die „Grünen Alten“. Ein Arbeitskreis zu Problemen der Alternden Gesellschaft – dort könnte sich auch Gerd Adlung wiederfinden.
Er habe keine Lust mehr, sich aufzureiben, sagt er. Ihm geht es darum, Projekte mit Gleichgesinnten zu begleiten und zu unterstützen, Entwicklungen mitzubekommen und andere zu motivieren, sich als älterer Mensch nicht zurückzuziehen. „Wir haben ein goldenes Zeitalter gehabt“, sagt er. „Da kann man etwas zurückgeben.“ Und mit Blick auf den Klimawandel: „Schließlich haben auch wir daran unseren Anteil.“
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