Jede Stunde rennen Menschen durch den Dortmunder Hauptbahnhof, um noch rechtzeitig einen Zug zu erwischen. Aber wie viele von ihnen werden von der Polizei angehalten und kontrolliert, weil sie angeblich verdächtig vor jemandem wegrennen?
Solche Erfahrungsberichte hört man in allererster Linie von Menschen, die aussehen, als stamme ihre Familie aus Afrika oder dem Orient. Häufig ist in der Vergangenheit zu hören gewesen, dass es in der Nordstadt besonders häufig zu Kontrollen komme, bei denen sich die Verdächtigen fragen, warum sie ins Visier der Polizisten gerieten.
Laut Polizei Dortmund hatte im vergangenen Jahr fast die Hälfte aller Tatverdächtigen in der Stadt keinen deutschen Pass (46 Prozent). Dabei sind nur 21 Prozent der Bevölkerung Ausländer.
Schwerpunkt in der Nordstadt
Die Nordstadt ist beim Thema Staatsangehörigkeit besonders auffällig. Mehr als die Hälfte der Menschen dort (57 Prozent) hat keinen deutschen Ausweis, 78 Prozent tauchen als „mit Migrationshintergrund“ in der städtischen Statistik auf.

Auf der Internetseite der Polizei Dortmund steht unter dem Punkt „Schwerpunktthemen“ neben der Sicherheit im Straßenverkehr und der Bekämpfung des Rechtsextremismus „Nordstadt und kriminelle Strukturen“. Unter anderem hat die Polizei ihre Elektro-Taser zuerst in der Nordstadt getestet, weil man es dort mit besonders viel Widerstand bei Einsätzen zu tun habe, hieß es.
Das ohnehin wackelige Verhältnis zwischen Teilen der Nordstadt-Bevölkerung und der Polizei ist am 8. August 2022 von einem Erdbeben getroffen worden. An diesem Tag erschoss ein Polizist den 16-jährigen Senegalesen Mouhamed Dramé, der zuvor allein in einem geschlossenen Innenhof gedroht hatte, sich selbst mit einem Messer zu verletzen.

Wütende Proteste waren die Folge, hunderte Menschen gingen in den Tagen nach dem eskalierten Einsatz auf die Straße. Drei Monate später mobilisierten die Organisatoren im November sogar rund 2000 Demonstrierende. Die Polizeiwache Nord ist dazu aus Sorge vor Randale abgesperrt worden, 15 Einsatzkräfte standen zur Absicherung mit Helmen vor dem Haus.
Verschiedene Themenfelder überschnitten sich bei der großen Demonstration. „Stoppt Polizeigewalt“, war auf Bannern zu lesen, genau wie „Cops entwaffnen“ oder auch „Kapitalismus abschaffen“. Trauer und Wut über den spezifischen 8. August trafen auf generelle Ablehnung der Polizei aus dem linken Spektrum.
Gesprächsformat der Polizei
Die Polizei Dortmund hatte bereits im August reagiert. „Talk with a cop“ nannte sie eines von mehreren Gesprächsformaten - zum Start standen Beamte mit Kaffee und Keksen auf der Münsterstraße. „Wir wollen einfach mal mit Ihnen ins Gespräch kommen“, sagte ein erfahrener Bezirksdienstbeamter zu Passanten, die sich wunderten, was die Polizei dort mache.
Man habe „die kritischen Hinweise aus der Öffentlichkeit nach dem 8. August 2022 deutlich wahrgenommen und diese zum Anlass genommen, den Dialog in der Nordstadt weiter zu intensivieren“, sagt Polizeisprecher Torsten Sziesze ein Jahr danach.
Symptomatisch war die Reaktion, die Nordstadt-Anwohner Mohamed Haddad nach seinem „Cop-Talk“ geschildert hat. „Ich hab mich nie getraut, Polizisten anzusprechen“, sagte er: „Aber es war gut.“ Im freundlichen Austausch habe er sich nach der Gesetzesgrundlage für Videoüberwachung erkundigt.

Doch er sagte auch übers Personal, das nicht bei so einem Präsentationsstand eingesetzt wird: „Wenn ich die jungen Polizisten hier auf der Straße anspreche, würden die mir nicht antworten. Die sind härter.“ Respektlose Ansagen sind in der Vergangenheit häufig kritisiert worden.
Aber hat sich seit dem 8. August etwas nachhaltig in Dortmund verändert?
Die fünf Polizeikräfte, gegen die wegen des tödlichen Einsatzes Anklage erhoben wurde, sind nicht mehr in der Wache Nord eingesetzt. Dort „arbeitet derzeit ein neu aufgestelltes Führungsteam mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Geschehnisse auf“, teilt die Polizei mit. Man habe das Landesamt für Personal (LAFP) um „externe Moderation dieses Prozesses“ gebeten.
NRW-Innenminister Herbert Reul hat im März Maßnahmen vorgestellt, die als Lehre nach dem 8. August für ganz NRW gelten. Die Bedeutung von Kommunikation wird demnach in den Richtlinien stärker betont, Listen von mehrsprachigen Einsatzkräften werden erstellt und das jährliche Polizei-Einsatztraining ausgeweitet.
„Die Polizei lässt sich ein“
Jacques Armel Dsicheu Djiné ist im Kamerun aufgewachsen und für die Grünen in den Rat der Stadt Dortmund gewählt worden. Im November sagte er: „Ich würde niemals die Polizei rufen. Die Polizei ist nicht mein Freund. Das sage ich auch meiner Tochter.“
Im August 2023 findet Djiné, dass sich „ein wenig“ im Verhältnis zwischen Polizei und Bevölkerung getan habe, allerdings nicht auf großer institutioneller Ebene. „Die Polizei lässt sich offen ein und lässt zu, dass man über Tabus spricht“, lobt er. Er sehe auf jeden Fall Fortschritte, dass Gespräche mit verschiedenen Vereinen stattfinden, um mehr Kontakt zu pflegen.

„Wenn man aber über eine unabhängige Beschwerdestelle spricht, heißt es, dafür sei man nicht zuständig, das könne man nur weitergeben“, erzählt Djiné. Dabei seien solche Schritte wichtig, damit die gegenseitige Annäherung langfristig etabliert bleibe.
Die Polizei Dortmund wirbt zu diesem Thema, das behördeneigene Beschwerdemanagement zu nutzen. Inzwischen ist die Internetseite https://dortmund.polizei.nrw/artikel/beschwerden-complaints-des-plaintes auf Englisch und Französisch übersetzt.
„Ich bin selbst noch vor ein paar Wochen am Bahnhof kontrolliert worden“, erzählt Djiné. Weiterhin sieht er strukturellem Rassismus in der Polizei gegeben. Der Lokalpolitiker appelliert, „dass die Mehrheitsgesellschaft ein Auge darauf hat, dass die Institutionen ihre Aufgaben richtig machen“.

Torsten Seiler ist der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Dortmund. Er findet: „Die Einsätze verlaufen in großen Teilen in einer guten Atmosphäre und werden auch von dem Vertrauen getragen, das die hier lebenden Menschen durch ihre persönlichen Erfahrungen der Dortmunder Polizei entgegenbringen.“
Sprich: Die Mehrheit der Menschen mache gute Erfahrungen mit der Polizei. „Jeder Einsatz, jede Unterstützung und Hilfeleistung, aber auch jedes konstruktive Gespräch über den 8.8.22 ist ein Baustein des Vertrauensverhältnisses zwischen der Polizei und der Bevölkerung“, so Seiler. Trotz hoher Einsatzbelastung nähmen seine Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit für die Menschen in Dortmund gerne wahr.
Auch Behördensprecher Torsten Sziesze sagt: „Von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Polizeiwache Nord wird immer wieder deutlich gemacht, dass die Bürgerinnen und Bürger unvermindert mit ihren Problemen, Sorgen, Nöten und Sachverhalten die Wache Nord aufsuchen.“

Der gebürtige Kameruner William Dountio ist Jugend-Basketballtrainer beim SV Derne und gehört zum Organisationsteam der Protest-Demos. Er sagt: „Veränderung ist immer eine Frage der Zeit.“
Dountio meint zu den vergangenen Monaten: „Einzelne Beamtinnen und Beamte sind vorsichtiger aufgetreten. Aber die Polizei als Institution hat nichts Wesentliches verändert.“ Sicherlich gebe es viele Polizisten, die mit guten Gedanken in ihre Einsätze gehen. Von seinen Basketballern höre er aber auch, dass schon Elfjährige von Polizisten rüde verbal angegangen würden.
„Kleine Schritte sind gemacht“
Dass gegen fünf Polizeikräfte nach dem Tod von Mouhamed Dramé Anklage erhoben wurde, sei ein Erfolg für die Protestbewegung. „Kleine Schritte sind gemacht“, findet Dountio. Bis zu einem wirklich guten vertrauensvollen Verhältnis sei aber noch einiges an Weg zu gehen.
„Das Ziel der Polizei Dortmund war, ist und bleibt die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Menschen“, sagt Behördensprecher Sziesze: „Nicht nur in der Nordstadt.“ Dazu werde man weiterhin auf Kontakt und Kommunikation setzen.

Und Polizeipräsident Gregor Lange ergänzt: „Nach dem tragischen Einsatz vom 8. August 2022 geht es uns darum, als Polizei allen Menschen in Dortmund Sicherheit, Ansprechbarkeit und Offenheit zu vermitteln.“ Er sei froh, „dass sich viele wichtige, ehrenamtlich tätige Migrantenverbände mit uns in einen Prozess der Annäherung und des Vertrauensaufbaus begeben haben.“
Şaziye Altundal-Köse begrüßt als Geschäftsführerin des Verbunds der sozial-kulturellen Migrantenvereine (VMDO) sehr, dass Lange zügig das Gespräch gesucht habe. „Dies war eine schnelle, richtige und wichtige Entscheidung, um das teilweise gänzlich verloren gegangene Vertrauen der Bipoc-Communities in die Polizei aufzubauen“, sagt sie. „Bipoc“ steht für Schwarze, Indigene und People of Color.

Der Dialog mit der Polizei bedeute einen Fortschritt, „allerdings zeigt sich auch, dass es seitens der Polizei noch einen erheblichen Bedarf im Bereich interkultureller Sensibilisierung gibt“, so Altundal-Köse, die ebenfalls für die Grünen im Dortmunder Rat sitzt.
Forderungen wie eine unabhängige Stelle für Beschwerden über die Polizei oder Studien zu strukturellem Rassismus seien Sache der Landesregierung: „Hier wünschen wir uns stärkeres Engagement auch der Dortmunder Polizei-Verantwortlichen auf der Landesebene.“ Oft seien nur kleine Schritte möglich, weil auf andere Ebenen verwiesen werde.
Eine Video-Doku zum Thema sehen Sie unter rn.de/dortmund
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