Gegen das Sozialbetrug-Klischee: Viele Rumänen und Bulgaren arbeiten hier in festen Jobs

© Dieter Menne

Gegen das Sozialbetrug-Klischee: Viele Rumänen und Bulgaren arbeiten hier in festen Jobs

rnZuwanderung

Arbeitsmigration aus Südosteuropa wird oft mit der Belastung des Sozialsystems gleichgesetzt. Doch der Werdegang von Ioan Costea (50) und die Zahlen des Jobcenters sagen etwas anderes.

Barop

, 01.12.2018, 12:00 Uhr / Lesedauer: 6 min

Die laminierten Hinweise an der Wand braucht Ioan Costea nicht mehr. „Keine schweren Gegenstände auf Dichtungen legen“; „VORSICHT beim Verpacken von Felgen“, steht da, auch mit Fotos erklärt. Das hat Ioan Costea längst verinnerlicht. Er ist der „Großmeister des Lagers“ – sagen seine Kollegen über ihn. Er weiß, wo und wie was hingehört. Das ist sein Job. Nun schon seit fünf Jahren.

Doch eigentlich ist das weißgetünchte, mit Kisten vollgestellte Reich von Ioan Costea gar kein Lager; denn er sorgt dafür, dass die Ware, kaum dass sie eingetroffen ist, auch schon wieder sein Reich verlässt. Just in Time nennt man das in der Logistik, soll heißen, die Materialien werden erst dann geliefert, wenn sie tatsächlich gebraucht werden. Costea arbeitet als Lagerhelfer bei der Außenhandelsfirma Ehrenberg/Choi GbR in Barop. Das Unternehmen exportiert Autoersatzteile ins Ausland.

Den richtigen Chef gefunden

Der Rumäne ist einer von knapp 9000 Menschen, die in den vergangenen Jahren aus Rumänien und Bulgarien nach Dortmund gekommen sind, um hier ein besseres Leben zu führen, als sie es in ihrer Heimat könnten. Der 50-Jährige ist auf diesem Weg schon weit gekommen – weil er seine Arbeit liebt, und weil er Yong-il Choi gefunden hat, seinen Chef, der seinen Fünf-Personen-Betrieb gemeinsam mit seiner Frau Irmgard führt.

Ioan Costea kontrolliert und sortiert die eintreffenden Autoteile und verpackt sie neu für den Endkunden. Zuweilen ist dabei nicht nur Sorgfalt, sondern auch Kraft gefragt.

Ioan Costea kontrolliert und sortiert die eintreffenden Autoteile und verpackt sie neu für den Endkunden. Zuweilen ist dabei nicht nur Sorgfalt, sondern auch Kraft gefragt. © Dieter Menne

Ioan Costea hatte in Mediasch im ehemaligen Siebenbürgen 18 Jahre lang in einer Fabrik zur Herstellung von Glaskristall gearbeitet, als die Firma erst privatisiert und dann vor sieben Jahren geschlossen wurde. Er stand plötzlich ohne Job da. Weil eine seiner Töchter bereits zwei Jahre in Deutschland lebte, verließ er mit seiner restlichen Familie – Frau und fünf Kinder – das Dorf Saros Pe Tarnave und folgten ihr.

Anfangs schlug er sich als Tagelöhner am Bau durch, schuftete und schlief mit seiner Familie auf dem Boden in einem Keller. Er bat seine Tochter, die in Menglinghausen wohnt, in der Nähe nach Arbeit für ihn zu fragen. So stand er eines Tages vor der Tür von Yong-il Choi, der ihm eine Chance als Mini-Jobber gab. Costea nimmt als Logistik-Drehscheibe die Waren entgegen, die vom Flughafen abgeholt wurden, kontrolliert und sortiert sie und packt sie um für den Endkunden, ehe sie für den Weitertransport wieder zum Flughafen gehen.

„Ich habe damals gesehen, dass da ein Mensch in Not war, und habe geholfen“, erinnert sich Choi. Er sei selbst ein Nicht-Inländer – das Wort hat er erfunden, weil er den Begriff Ausländer nicht mag – und habe selbst Not erfahren. Choi ist Koreaner, eigentlich von Beruf Architekt, aber nun seit 25 Jahren in der Import-/Export-Branche.

Yong-il Choi: Ich habe damals gesehen, dass da ein Mensch in Not war, und habe geholfen.“

Yong-il Choi: Ich habe damals gesehen, dass da ein Mensch in Not war, und habe geholfen.“ © Dieter Menne

„Natürlich hat Ioan anfangs viele Fehler gemacht“, erzählt Choi, „doch der Rest der Belegschaft hat das mitgetragen und die Aufgaben immer wieder mit Händen und Füßen erklärt.“ „Ja, ja, ich weiß“, habe Costea dann gesagt, sei in den Lagerraum gegangen und habe denselben Fehler wieder gemacht. Davon zeugen noch die laminierten Hinweise an der Wand.

Arbeitsstunden nach und nach aufgestockt

„Ioan,“ sagt sein Chef, „hat sich selbst nach oben gearbeitet.“ Die meisten Autoteile seien zwar leicht, aber wenn es schwer werde, packe Ioan zu. Der Mann ist von kräftiger Statur, kann was wegschaffen. Irgendwann kam Costea und sagte, er wolle mehr arbeiten. Erst 20 Stunden, dann 30 Stunden. „Jetzt warte ich darauf, dass er 40 Stunden arbeiten will“, sagt Choi.

Ein Hindernis für Costea, beruflich weiterzukommen, war der fehlende Führerschein. Auch hier half Choi finanziell. Die Theorieprüfung mit dem entsprechenden Unterrichtsmaterial kann man in jeder EU-Sprache absolvieren. Costea schaffte Theorie und Praxis und fährt inzwischen auch zum Flughafen. Deshalb seine Mehrarbeit.

Choi hätte die Kosten für den Führerschein gern von seiner Steuer abgesetzt. Was nicht möglich war. Möglich sei aber, so Frank Neukirchen-Füsers, Chef des Jobcenters Dortmund, Qualifizierungsmaßnahmen vom Staat finanzieren zu lassen – sofern der Chef seinen Mitarbeiter für diese Zeit freistellt.

Für die Mietkosten gebürgt

Anfangs fand Ioan Costea keine Wohnung. Einen Rumänen als Mieter wollte niemand. Bis Choi für ihn bürgte. „Ioan hat das zurückgegeben“, sagt sein Arbeitgeber, er sei pflichtbewusst. „Er ist immer da und hat uns nie im Stich gelassen.“ Aber eigentlich, fügt Choi hinzu, hätte das Vater Staat übernehmen müssen: „Wenn er ein Vater wäre, würde er das tun.“

Für Neukirchen-Füsers ist der Werdegang von Ioan Costea ein weiterer Beleg für seine Feststellung: „Es bedarf nicht nur motivierter Arbeitnehmer, sondern auch motivierter Arbeitgeber. Wir machen häufig die Erfahrung, dass diese Chancengeber vor allem in kleineren und mittleren Unternehmen zu finden sind. Der persönliche Bezug ist eine hohe Motivation zu helfen. Das Schöne ist, dass man in der Regel nicht enttäuscht wird.“

Frank Neukirchen-Füsers, Chef des Jobcenters Dortmund: „Wenn das so weitergeht, werden Arbeitslose in dieser Gruppe immer weniger.“

Frank Neukirchen-Füsers, Chef des Jobcenters Dortmund: „Wenn das so weitergeht, werden Arbeitslose in dieser Gruppe immer weniger.“ © Dieter Menne

Seit dem 1. Januar 2014 gilt mit der EU-Osterweiterung die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Sie wird oft mit Leistungsmissbrauch und Belastung des deutschen Sozialsystems gleichgesetzt. Doch die Zahlen widersprechen nicht nur wie in Costeas Beispiel dem gängigen Klischee.

Fast 9000 Rumänen und Bulgaren leben in Dortmund

Aktuell leben rund 602.000 Bürger in Dortmund., darunter 8960 Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Von ihnen erhalten 1800 erwerbsfähige Personen finanzielle Unterstützung, fast zwei Drittel, weil sie aufstocken müssen oder in Qualifizierungsmaßnahmen stecken. 655 sind arbeitslos. Doch diese Zahlen muss man näher beleuchten.

Denn Nicht-Inländer, so würde Yong-il Choi sagen, sind weniger lange arbeitslos als Deutsche und legen eine höhere Dynamik beim Einstieg in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen hin. Der Chef des Jobcenters untermauert das mit weiteren Zahlen. So ist der Anteil der versicherungspflichtigen Beschäftigungen seit 2015, als die Arbeitnehmerfreizügigkeit richtig durchschlug, bis Oktober 2018 in Dortmund insgesamt um 10 Prozent gestiegen. Bei Menschen aus Bulgarien und Rumänien waren es 127 Prozent. „Das sind in konkreten Zahlen 1999 versicherungspflichtig Beschäftigte – mehr als überhaupt von ihnen beim Jobcenter gemeldet sind“, betont Geschäftsführer Neukirchen-Füsers.

Die Dynamik bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung

Die mit Akademikern besetzten Stellen sind in Dortmund insgesamt seit 2015 um 21 Prozent nach oben gegangen, um 39 Prozent bei den Bulgaren und Rumänen, viele davon sind dringend gesuchte Krankenhaus-Ärzte. Die Zahl der versicherungspflichtig beschäftigten Fachkräfte nahm insgesamt um 8 Prozent zu, bei den Rumänen und Bulgaren um 126 Prozent. Auch den allgemeinen Anstieg bei den sozialversicherungspflichtigen Jobs für Helfer und Angelernte mit 28 Prozent toppen die Rumänen und Bulgaren deutlich mit einem Plus von 193 Prozent. Der Jobcenter-Chef: „Wenn das so weitergeht, werden Arbeitslose in dieser Gruppe immer weniger.“

„Immer wieder wird angesichts der Zuwanderung aus Südosteuropa die Frage gestellt, was kostet das unsere Gesellschaft, aber nie wird darauf geguckt, was es uns bringt“, sagt Neukirchen-Füsers, „ was diese Menschen in Sozialkassen einzahlen, davon profitieren auch die Pflege- und Krankenversicherung.“ Zudem würde durch Rumänen und Bulgaren der Bedarf am Arbeitsmarkt auf allen Qualifizierungsebenen von Bürgern der EU-Osterweiterung abgedeckt.

Netzwerke helfen

Die Menschen wollten in der Regel hierbleiben und sich eine bessere Zukunft aufbauen. Die Dortmunder Politik stehe dem Jobcenter hilfreich zur Seite, um Strukturen und Netzwerke aufzubauen, die das ermöglichen. Dazu zählt das vom Europäischen Sozialfonds geförderte Landesprogramm „Starke Quartiere – starke Menschen“. Es dient unter anderem zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung.

Das Programm richtet sich nicht zwingend an HartzIV-Bezieher, sondern ist offen für alle EU-Bürger, die es brauchen – primär sind das solche, die aufgrund von massiver Armut und Perspektivlosigkeit ihre Heimatländer verlassen mit der Hoffnung, sich in Dortmund über Arbeit in die Gesellschaft integrieren zu können.

Im Trägerverbund aus Jobcenter, Caritas, Diakonie, den Qualifizierungs- beziehungsweise Beschäftigungsgesellschaften Dobeq und GrünBau bieten Integrationslotsen Beratung und Unterstützung an.

Beim Jobcenter gibt es zwei Arbeitsmarktintegrationslotsen, eine von ihnen ist Dr. Laura Maibaum. Sie sitzt im Aktionsbüro am Borsigplatz und erfährt dort täglich, wie viel Beratungsbedarf die Zugewanderten haben, sowohl diejenigen, die erst gerade angekommen, aber auch die, die schon länger hier sind. „Die Bürokratie erschließt sich ihnen nicht auf Anhieb“, sagt die Integrationslotsin: „Wir fragen ihre Motive ab, stellen klar, was die Rahmenbedingungen sind, fragen nach Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie der Berufserfahrung.“

Lotsen für die Arbeitsmarktintegration

Die Arbeitsmarktintegrationslotsen bieten Orientierung, informieren als Dolmetscher in der Muttersprache über Sozialversicherung, Arbeitszeit und Urlaub. Das soll Schwarzarbeit verhindern und die Zugewanderten davor schützen, Opfer von Ausbeuterstrukturen zu werden. Deshalb gibt es auch einen Schnellvermittlungsdienst mit fairen Angeboten für Tagesjobs. Er ist der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt.

Oft ist allerdings der Beratungsbedarf komplexer als nur die Vermittlung eines Tagesjobs. Es geht auch um Fragen der Sprachförderung, Kinder, Schule, Krankheit, Sozialversicherung und des Wohnens. Hier greift die Netzwerkarbeit im Trägerverbund. „Wir können das weiterleiten, das verzahnt sich“, sagt Maibaum. Auch potenziellen Arbeitgebern werde Hilfe etwa in Form von Dolmetscherdiensten angeboten. „Wir telefonieren hin und her.“ Das stabilisiere die Menschen, sagt Neukirchen-Füsers. Und je schneller die Leute Arbeit fänden, um so schneller integrierten sie sich.

223 Männer und Frauen seit Mai 2015 vermittelt

Die hohe Motivation von Rumänen und Bulgaren, die Zeit als Geringverdiener hinter sich zu lassen, bestätigten auch die anderen Träger, sagt der Teamleiter der Integrationslotsen, Mario Diener. Die Arbeitsmarktintegrationslotsen haben seit der Beginn ihrer Tätigkeit im Mai 2015 bis Oktober 2018 insgesamt 223 rumänische und bulgarische Kräfte vermittelt – in Tagesjobs und sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen.

Natürlich gebe es auch Leistungsmissbrauch bei dieser Personengruppe, räumt Neukirchen-Füsers ein. „Da reagieren wir auch drauf.“ Fallzahlen hat er nicht. Der Sozialbetrug basiert auf Scheinfirmen mit Schein-Minijobs. Wer eine Arbeit nachweisen kann, etwa einen Minijob für 450 Euro im Monat, kann einen Antrag auf „Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“ stellen. Das Jobcenter stockt dann das kleine Einkommen aus dem Minijob auf. Allerdings sind Bulgaren und Rumänen, die Scheinanträge stellen, meist selbst Opfer skrupelloser Geschäftemacher, an die sie den Großteil des Geldes abführen müssen.

Costea: „Jeder Wald hat seine kaputten Bäume“

In Dortmund guckten schon bei der Antragstellung Spezialisten, die sich mit den Anträgen im EU-Ausland auskennen, genau hin, versichert der Leiter des Jobcenters. Man arbeite in solchen Fällen auch eng mit dem Zoll zusammen. „Was wir nicht wollen ist, dass Menschen aus dem Ausland organisiert hierhergebracht werden und Leistungen an diese Organisationen abführen müssen“, sagt Neukirchen-Füsers. „Wir vermitteln direkt in richtige Mini-Jobs. Unser Bestreben ist, die Verhältnisse in gute Verhältnisse zu ändern. Im besten Fall nimmt das die Entwicklung wie bei Ioan Costea.“

Der sagt dazu: „Jeder Wald hat seine kaputten Bäume.“ Auch in Deutschland gebe es Menschen, die nicht arbeiten wollten. Rumänen und Bulgaren seien hier, um ihr eigenes Brot zu verdienen. Ioan Costea fühlt sich gut im Kreis seiner Kollegen bei Ehrenberg/Choi. Für ihn sei seine Arbeit so etwas wie Familie, sagt er: „Man hat keine Lebensgrundlage, wenn man keine Arbeit hat.“ Yong-il Choi schmunzelt:„Dann bin ich dein Onkel.“

Freuen sich über das mutmachende Beispiel von Ioan Costea (l.) : (v.l.) Dr. Laura Maibaum, Mario Diener, Frank Neukirchen-Füsers, Ying-il Choi und Irmgard Ehrenberg.

Freuen sich über das mutmachende Beispiel von Ioan Costea (l.) : (v.l.) Dr. Laura Maibaum, Mario Diener, Frank Neukirchen-Füsers, Ying-il Choi und Irmgard Ehrenberg. © Dieter Menne

Schlagworte: