Die Verkehrswende ist eine Herausforderung: Der Stadt fehlen Radwege, Car Sharing, moderne Bahnen und günstiger öffentlicher Nahverkehr. Es gibt Lösungen, für die es sich zu streiten lohnt.

Dortmund

, 22.04.2019, 17:52 Uhr / Lesedauer: 3 min

Kennen Sie – vorausgesetzt, Sie nähern sich dem Rentenalter – noch die Aktion Roter Punkt? Das war so eine Art Fridays For Future der Nach-Achtundsechziger. Die Rückblende ins Frühjahr 1971 weckt die Erinnerung an Transparente, Sprechchöre und blockierte Straßenbahnschienen durch eine Horde von Trägern grüner Parkas mit bunten Buttons. Den Ärger mit der Polizei nahmen die Langhaarigen gerne in Kauf für die laute Forderung, alle Menschen sollten auf öffentlichen Verkehrsmitteln zum Nulltarif reisen.

Manche Eltern und Lehrer hielten uns deshalb für Kommunisten („Geht doch rüber!“). Die kommunalen Verkehrsbetriebe in der Bonner Republik schalteten auf Durchzug. Sie hatten zuvor ihre Tarife um bis zu 30 Prozent hochgeschraubt und dachten nicht daran, das zurückzudrehen. Bis auf Null schon gar nicht. Die ganze Kampagne, bei der Dortmund neben Hannover der bundesweite Hot-Spot war, geriet zum Flop.

Die große Umverteilung bei der Mobilität muss beginnen

Ein halbes Jahrhundert später reden wir von der Verkehrswende. Klimawandel, Stickoxid- und Feinstaubdebatte und nicht zuletzt die Überfüllung des städtischen Raumes zwingen zur großen Umverteilung im Bereich der Mobilität. Erste Dieselautos sind aus deutschen Stadtkernen ausgesperrt. Große europäische Städte wie London, Bergen und Mailand kassieren Straßenzoll, auch kleinere denken darüber nach.

Selbst New York plant die City-Maut und will die Einnahmen dem Ausbau und dem Erhalt der U-Bahn spendieren. Die Lobby der Radfahrer erwartet von der Lobby der Autofahrer, beim gemeinsam zur Verfügung stehenden Platz bitte etwas zu rücken.

Die Dortmunder To-Do-Liste ist lang

Die Verkehrswende kann aber nur Erfolg haben, wenn die neue Fortbewegung im Alltag so praktikabel ist wie die alte. Mindestens. Die Dortmunder To-Do-Liste ist lang. Beim Test der 14 Großstädte in Sachen Rad-Infrastruktur, den der Allgemeine Deutsche Fahrradclub ADFC durchführte, umkurvt die Stadt gerade knapp die Note „mangelhaft“.

Beim Städteranking Car-Sharing sorgt der Platz 95 nicht für Feierlaune. Park-and-Ride-Plätze? Zu wenige und zu schwer zu finden. Wer kann als Auswärtiger schon den am Clarenberg erreichen, der sich nach enger Zufahrt und schlecht ausgeschildert zwischen Sportplatz, Bäumen und Betonsilos versteckt? Auf vielen Strecken der Stadtbahn ruckeln noch die Oldtimer der Helmut-Schmidt-Jahre. Auch die modernen Baureihen rollen nicht im Fünf-Minuten-Takt. Dabei wäre der einer 600.000-Einwohner-Kommune angemessen.

Quer durch Paris zu fahren ist günstiger als die Fahrt durch Dortmund

Neben Ausbau von Kapazität und Infrastruktur unseres öffentlichen Verkehrs ist aber der Fahrpreis ein Thema mit hohem Wirkungsgrad. Zu Recht. Wieder der Vergleich: Was kostet es den Dortmunder auf Paris-Besuch, einmal quer durch die Stadt mit dem Bus oder der Metro zu fahren? 1,90 Euro. Zuhause zahlt er bei weniger Strecke und gedehnterem Takt seit dem 1. Januar 2,90 Euro. Selbst Berlin unterbietet das um zehn Cent.

Sie werden einwenden: Städte und Verkehrsverbünde machen eben solche Tarife. Richtig. Muss das bleiben? Nein. Wer den großen Umbau wagt, sollte alte Regeln kippen können.

Planen wir also die Revolution. Ein bundeseinheitliches Ticket, das auf allen öffentlichen Verkehrsmitteln die Fahrt zum halben Preis erlaubt. Eines, das für den gelegentlichen ICE nach München Hauptbahnhof genau so gilt wie für die tägliche DSW-21-Kurzstrecke von Reinoldikirche zum Gerichtsviertel.

Geht das, fragen Sie? Gut sogar. Als in den 1980er-Jahren Umweltgefahren durch den Sauren Regen Schlagzeilen machten, dachten unsere Schweizer Nachbarn um. Sie entsorgten den Tarif-Wirrwarr und führten das Halbtax-Abo ein. Jeder Schweizer, der gegen Zahlung von 168 Franken im Jahr mitmacht, reist überall für die Hälfte.

Die Schweiz ist ein Vorbild dafür, wie man Bahnfahren zum Massenphänomen macht

In Zügen der Schweizer Bundesbahnen, auf den zahlreichen Privatbahnen, in Trams der Verkehrsbetriebe von Zürich, Basel und Bern oder quer durch die Berge mit den Bussen der Alpenpost. Ein Top-Angebot. Längst ist das dort Massensport. Von sechs Millionen Eidgenossen nutzen heute 2,5 Millionen dieses Angebot.

Ein Halbtax-Abo wäre gut für Deutschland und für Dortmund. Es mag schwer sein, das kompetent umzusetzen. Es mag die Rechte von Zweckverbünden, Kommunen und Ländern einschränken und ihnen die Tarifhoheit wegnehmen. Es mag eines Systems bedürfen, die zentral eingesammelten Gelder gerecht und nach Bedürfnis und Leistung in den Regionen zu verteilen. Es würde viel Krach geben.

Na, und? Grundlagen wie die Bahncard50 gibt es längst, und Zukunft wird immer herausfordernd sein für Politik und Verwaltung. Eine neue Rote-Punkt-Bewegung 2019, erfolgreicher als unsere von 1971, könnte die Hunde zum Jagen tragen.

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