Nach Flucht aus Syrien Wie Ronny „Papa Karl“ traf und seine eigene Firma gründete

Wie Ronny Jazzaa aus Syrien „Papa Karl“ traf und Firmenchef wurde
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Es ist ein Tag im Herbst 2014, als die Familie Jazzaa im kurdischen Städtchen „Ras al Ain“ in Syrien ihren Sohn auf die erste Etappe der Reise nach Europa schickt: Ronny, damals 15 Jahre alt, sollte es nach Europa schaffen, raus aus Syrien, weg vom Krieg in eine bessere Zukunft.

Um es vorweg zu sagen: Ronny hat es geschafft. Der heute 25-Jährige lebt heute, 2023, in Hörde, führt ein eigenes Unternehmen. Es gelingt im Zuge der Familienzusammenführung, die Familie nachzuholen. Alles erreicht, könnte man meinen. Für Ronny längst noch nicht. Sein Kopf ist noch immer voller Ideen.

„Ich brauche immer neue Herausforderungen“, sagt er selbst. Die Herausforderung, von Syrien aus Europa und Deutschland zu erreichen, hat er gemeistert. Und das lässt andere Herausforderungen in ihrer Dimension deutlich schrumpfen. Aber von Anfang an.

Die Flucht

2014 verabschiedet die Familie ihren Sohn: Die Reise führt den 15-Jährigen nach Mersin an die türkische Mittelmeerküste. Der Junge jobbt 12, 13 Stunden am Tag. Nach zwei Monaten kommt die Familie nach. Ein Etappenziel.

Im Dezember 2014 dann der nächste Abschied von den Eltern und den sechs Geschwistern, ungewiss, ob man sich je wiedersehen wird: Ronny soll aufs Schiff Richtung Italien. „Es war schrecklich“, sagt Jazzaa heute über den Abschiedsmoment.

Schrecklich wird auch die Überfahrt. Ronny Jazzaa: „Wir hatten ein etwas größeres Schiff, das wohl sonst für Tiertransporte genutzt wurde. Wir waren 750 Menschen an Bord, hohe Wellen, das Essen knapp, eine Toilette. Die Frauen haben permanent geschrien, die Kinder geweint.“ Man braucht nicht viel Vorstellungskraft, um sich die Bedingungen auszumalen.

Jazzaa erzählt das alles ohne sichtbare Emotionen. Nur soviel: „Für mich war immer klar, entweder komm‘ ich an, oder ich sterbe.“ Er klemmt sich auf dem Schiff seine Kopfhörer auf die Ohren, um dem Elend wenigstens akustisch zu entgehen.

Wie Vieh unter Deck: Über 700 Menschen drängen sich auf dem Schiff. Zwei Wochen dauerte die Überfahrt.
Wie Vieh unter Deck: Über 700 Menschen drängen sich auf dem Schiff. Zwei Wochen dauert die Überfahrt. © Jazzaa

Währenddessen sorgt sich seine Familie in der Türkei fast zu Tode. „Wir waren etwa zwei Wochen unterwegs, mussten unsere Handys ausmachen, damit wir nicht zu orten sind“, erinnert sich Ronny heute. Nur zweimal auf der gesamte Fahrt dürfen sie die Handys benutzen. Die kurze Nachricht an die Familie: „Hallo, ich lebe noch.“

Ein Horror für den Rest der Familie, deren Sorgen auch nicht kleiner werden, als durch die Medien die Nachricht über ein aktuell gesunkenes Schiff geistert. Und tatsächlich ist es eines von insgesamt dreien, zu denen auch Ronnys Schiff gehört: „Eins ist gesunken, ein Schiff wurde aufgegriffen, eins ist durchgekommen“, erinnert er sich. Es war Ronnys Schiff, das durchkam.

Kurz bevor sie Sizilien erreichen, mischt sich der Kapitän unter die Menschen. „Er wollte wohl nicht erwischt werden“, sagt Jazzaa. Die Folge: Sie müssen einzeln von Bord, werden genau kontrolliert. Was die Flüchtlinge zunächst als freundliches Kümmern empfinden, dient wohl auch dem Ziel, den Schiffsführer ausfindig zu machen. Was am Ende gelingt.

Nach zwei Tagen haben alle 750 Menschen wieder festen Boden unter den Füßen, auch Ronny. Die Erinnerung an diesen Moment? „Unbeschreiblich“. Und: „Ich habe die erste halbe Stunde nicht gerade laufen können nach den zwei Wochen auf See.“

Es sei kalt gewesen, „ich habe gefroren, es kam wohl alles zusammen, ich war psychisch überlastet, schlecht ernährt“. Eine nüchterne Analyse Jahre später. Ein Anruf erlöst damals die Familie: „Die Mama hat wieder gelebt, ich habe die Seele wieder in ihren Körper gebracht“, sagt Jazzaa.

Ankunft in Italien: Zwei Tage dauerte es, bis alle von Bord waren. "Danach habe ich erst einmal zwei Tage geschlafen", erinnert sich Ronny Jazzaa heute.
Ankunft in Italien: Zwei Tage dauerte es, bis alle von Bord waren. „Danach habe ich erst einmal zwei Tage geschlafen“, erinnert sich Ronny Jazzaa heute. © Jazzaa

Der minderjährige Ronny wird in einen Bus nach Mailand verfrachtet. Bis hier hin habe ihn die Reise 7000 bis 8000 Euro gekostet. Von da an schlägt er sich alleine durch. Er will nach Deutschland, nach Dortmund, dort wo schon sein Cousin lebt. Angst verspürt er nicht: „Ich habe mir gedacht, ich hab‘ das Schlimmste hinter mir, was soll noch kommen. Und das schaff‘ ich auch noch.“ Punkt. „Einfach machen“, sagt er. Das gilt für ihn bis heute.

Von da an ist sein Handy das, wovon alles abhängt. Der Jugendliche studiert damit Fahrpläne, bucht Fahrkarten, liest Landkarten. Wo was ist in Europa, davon hat der 15-Jährige damals keine Ahnung. „Nein, ich hatte keinen Plan von Europa“, lacht Jazzaa heute.

Ronny Jazzaa auf dem Weg nach Mailand.
Ronny Jazzaa auf dem Weg nach Mailand. © Jazzaa

Er weiß aber: Er darf nicht auffallen. In Italien besorgt sich Jazzaa neue Kleidung. Er ist nie mit viel Gepäck unterwegs, um nicht als Flüchtling identifiziert zu werden. Er sieht aus wie viele andere auch. Er reist in kleinen Etappen, Stück für Stück.

Um die Schweiz zu meiden, weil er dort strenge Grenzkontrollen fürchtet, reist er zunächst nach Nizza, dann nach Paris, weiter nach Straßburg. Und dann mutet es nach den ganzen Dramen der Flucht surreal an: „Ich bin einfach über eine schöne, kleine Brücke gegangen“, erinnert sich der heute 25-Jährige. Und ist in Deutschland, in Kehl, auf der anderen, deutschen Rheinseite und ruft seinen Cousin Abbas in Dortmund an. Fertig. „Ich durfte ja nicht auffallen“, sagt Jazzaa. 150 Euro hat er da noch in der Tasche.

Ronny Jazzaa in Frankreich, auf seiner Etappe von Paris nach Straßburg.
Ronny Jazzaa in Frankreich, auf seiner Etappe von Paris nach Straßburg. © Jazzaa

In Deutschland

In Deutschland verliert Jazzaa kein bisschen von seiner Zielstrebigkeit. „Ich hatte keinen Tag Ruhe, immer ackern“, berichtet er. So wie er es wollte. „Ich habe mir gleich ein paar Sprach-Apps runtergeladen. Ich wollte das alles unbedingt alles auf einmal lernen.“ Manchmal wird dem 15-Jährigen sein eigenes Tempo fast ein bisschen viel: Beim Einkaufen versucht er, alles mithilfe seines Handys zu übersetzen. „Da konnte es auch schon mal sein, dass ich für eine Tüte Pommes ne Stunde im Laden war“, lacht er.

Dass er sein Maß schnell gefunden hat, dafür ist der Dortmunder Karl Heinrich Meyer maßgeblich verantwortlich. Der 74-Jährige wird sein Vormund und ehrenamtlicher Betreuer. Dass er im Laufe der letzten Jahre viel mehr als das geworden ist, merkt man schnell: „Papa Karl“ nennt Ronny den 74-Jährigen heute. „Ich habe viel, so viel von ihm gelernt, ich wollte immer sein wie er“, sagt Jazzaa.

Meyer hat viele Minderjährige betreut. „Das waren meine besten Jahre“, sagt er heute. Als er Ronny das erste Mal trifft, gleich nach seiner Ankunft, da „war ich fix und fertig“, sagt der 25-Jährige heute selbst.

Gemeinsam bringen die beiden Ronnys Leben in Deutschland auf Kurs: Es geht zunächst in eine WG, dann in eine eigene Wohnung. Nach Sprachkursen besucht Jazzaa die Anne-Frank-Gesamtschule – macht Abitur. Will zunächst Polizist werden, entscheidet sich dann doch für ein Bauingenieur-Studium. Zwei Semester absolviert er, dann kommt Corona, er verliert ein bisschen die Begeisterung.

Er lernt über Bekannte einen Mann kennen, der eine Firma für Innenausbau hat, Wände einziehen, Laminat verlegen, tapezieren. Er kümmert sich um den Bürokram, bekommt Spaß an der Sache. Nach einem Jahr geht man getrennte Wege.

Also macht sich Ronny Jazzaa allein ans Werk, macht Weiterbildungen in Sachen Brandschutz und gründet „Ronia Bau“, heute mit Sitz an der Speicherstraße im Hafen. Innenausbau samt Brandschutz, alles aus einer Hand. Neun Mitarbeiter hat er heute, 20 sollen es mal werden. Und er sei, so berichtet er, für dieses Jahr ausgebucht.

Ronny Jazzaa (Mitte) mit einem Teil seines Ronia-Bau-Teams.
Ronny Jazzaa (Mitte) mit einem Teil seines Ronia-Bau-Teams. © Jazzaa

„Es ist verrückt“

Es läuft. Und wenn nicht, so gilt für den 25-Jährigen die Maxime: „Wenn’s nicht geklappt hat, ändere die Strategie, nicht das Ziel.“ Und davon hat er noch ein paar. Gerade sucht er einen Geschäftsführer für seine Firma. Damit Zeit bleibt, um sein Studium wieder aufzunehmen. Oder doch vielleicht irgendwann Polizist zu werden.

Ronny hat es geschafft – wie seine Familie auch: Auch die lebt inzwischen in Hörde; zwei Brüder arbeiten in der Firma mit, eine Schwester studiert Architektur, die anderen gehen zur Schule. Seit 2021 hat er die deutsche Staatsbürgerschaft. Hätte er sich das alles am ersten Tag seiner Flucht so vorstellen können? „Nein, es ist verrückt.“

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