Die Sauerlandlinie ist bei Lüdenscheid schon seit eineinhalb Jahren gesperrt. Abgerissen wurde die völlig marode Rahmedetalbrücke erst vor wenigen Wochen. Von einer neuen Brücke ist noch lange nichts zu sehen. 2026 soll sie fertig sein, eher wird es aber wohl 2028.
Jeden Tag quält sich der Verkehr von der Abfahrt Lüdenscheid-Nord/Schalksmühle durch die Stadtmitte von Lüdenscheid, um dann an der Anschlussstelle Lüdenscheid wieder auf die A45 aufzufahren. Auch wenn seit dem 10. Juni ein LKW-Durchfahrtsverbot für den Fernverkehr gilt und das die Staulängen vielleicht etwas mildert, Christoph Bexten ist froh, damit nichts mehr zu tun zu haben.
„15 Jahre bin ich zu meinem Arbeitgeber nach Werdohl gependelt. Jetzt kann ich in Dortmund arbeiten, das ist wunderbar“, sagt der 55-Jährige. Der Grund: „seine“ Firma ist mit einem Großteil ihrer Verwaltung aus dem Sauerland nach Dortmund geflohen.
Gereiztheit im Stauchaos
Christoph Bexten wohnt in Westrich und arbeitet in der Buchhaltung von VDM Metals, einem Industrieunternehmen für Nickellegierungen mit 2000 Beschäftigten und einem Umsatz von 1,2 Milliarden Euro im Jahr. „Die Pendelei war für mich immer schon anstrengend, aber ich hatte es mir ja so ausgesucht. Seit der Sperrung der A45 allerdings war es extrem anstrengend. Statt 50 Minuten brauchte ich für eine Strecke eineinhalb Stunden und mehr“, sagt Christoph Bexten.
Die psychische Belastung im Stau, eine Gereiztheit schon am frühen Morgen und im Hinterkopf die Gewissheit, dass das noch Jahre so sein wird. Die Arbeitstage, die er nicht im Homeoffice verbringen konnte, waren für Christoph Bexten - und genauso für etliche seiner Kolleginnen und Kollegen, die auch aus dem Ruhrgebiet kommen - schon stressig, bevor sie überhaupt begannen.

Problematisch wurde die A45-Sprerrung aber nicht nur für ihn, sondern auch für VDM Metals. „Als Weltmarktführer brauchen wir die besten Mitarbeiter. Die zu bekommen, wäre in Werdohl schwierig geworden. Wir hätten einige Beschäftigte nicht halten und neu gewinnen können, ohne diesen Standort hier in Dortmund“, sagte Dr. Niclas Müller, Vorsitzender der Geschäftsführung, bei der Eröffnung einer supermodern gestalteten, neuen Bürowelt im Westfalentower an der B1, der mit dem Bau der neuen Continentale-Unternehmenszentrale als höchster Büroturm in Dortmund gerade Konkurrenz bekommt.
2400 Quadratmeter hat VDM hier in der ersten und zweiten Etage schick mit Trennwänden aus Glas, schallisolierten „Telefonzellen“ sowie Besprechungs- und Begegnungsräumen mit viel Medientechnik gestaltet und für mehrere Jahre angemietet. 80 Arbeitsplätze für Büroangestellte aus Bereichen wie Personal, Recht und Marketing, die bisher in Werdohl gearbeitet haben, stehen zur Verfügung. Über 300 Menschen arbeiten insgesamt in der Verwaltung des Unternehmens, weshalb Niclas Müller sagt: „Das wird hier in Dortmund nicht der Nabel der Arbeitswelt bei VDM sein. Der Nabel sind unsere Produktionsstätten, wo richtig hart gearbeitet wird. Aber hier ist ein toller Standort entstanden, der Standards setzt.“
2400 qm Bürofläche gemietet
Für Christoph Bexten ist es vor allem ein Standort, der seinen Alltag erleichtert. „Von Westrich sind es 12 Kilometer, die ich jetzt auch mit dem Fahrrad fahren kann. Unterm Strich heißt das für mich: für den Arbeitsbeginn um 7.30 Uhr stehe ich eine Stunde später auf. Und entsprechend ist auch der Feierabend besser zu gestalten. Ich kann noch gut was in der Stadt erledigen oder mich mit meiner Frau verabreden. Das ist jetzt super easy“, so Christoph Bexten.

Seine Kollegin Silke van Os aus dem Marketing ist genauso happy. Die 55-Jährige wohnt in Duisburg und pendelte zehn Jahre lang regelmäßig nach Werdohl. Statt zwei Stunden ist sie jetzt im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) für eine Strecke nur noch eine Stunde unterwegs. „Für mich ist das ein absoluter Gewinn an Lebensqualität. Ich engagiere mich in Duisburg in einer Nachbarschaftsinititive. Das kann ich jetzt stärker tun. Außerdem kann ich jetzt abends Sport machen oder Freunde treffen“, so Silke van Os.
VDM Metals wird wahrscheinlich nicht das einzige Unternehmen bleiben, das ganz oder teilweise nach Dortmund kommt. Für die Wirtschaft in Südwestfalen ist die Sperrung der A45 nach wie vor eine Katastrophe. Nach einer regionalwirtschaftlichen Analyse der IW Consult GmbH addieren sich die negativen Effekte der Brückensperrung bei einem Zeitraum von fünf Jahren auf mindestens 1,8 Mrd. Euro. Die drittstärkste Industrieregion Deutschlands leidet und hat Schwierigkeiten ihre Arbeitskräfte zu halten oder neue zu gewinnen.
Firmen bangen um Mitarbeiter
Zahlen über Kündigungen oder eine wachsende Zahl offener Stellen aufgrund des Wegfalls der wichtigsten Verkehrsader Südwestfalens liegen zwar nicht vor, Dr. Fabian Schleithoff von der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer zu Hagen (SIHK) sagt aber: „In meinen täglichen Gesprächen mit betroffenen Unternehmen wird mir häufig davon berichtet, dass ein nicht unerheblicher Teil der Mitarbeiter bereits gekündigt hat oder an eine Kündigung denkt. Die frei gewordenen Stellen wieder nachzubesetzen, ist dann mindestens genauso so schwer. Einige Unternehmen berichten von der Einrichtung von Ersatzstandorten. Da wo es möglich ist, werden auch Coworking Spaces stärker durch die Unternehmen genutzt.“

Die SIHK prüft unter anderem die Anträge für einen A45-Kredit mit Tilgungsnachlass vor. Das ist ein Förderprogramm des Landes NRW, das vor wenigen Tagen um zwei Jahre verlängert wurde. Unternehmen sind antragsberechtigt, wenn sie entweder 20 Prozent Umsatzrückgang oder 20 Prozent Kostensteigerung vorweisen können und dies im Zusammenhang mit der Brückensperrung steht.
„Für dieses Förderprogramm gibt es eine sehr große Nachfrage. Als SIHK haben wir bis dato circa 80 Betroffenheitsbestätigungen ausgestellt. Das ist ein klares Zeichen für die betriebswirtschaftlichen Auswirkungen der Sperrung. Eine Rückkehr zur Normalität ist für viele Unternehmen erst nach Fertigstellung des Brückenneubaus möglich“, sagt Fabian Schleithoff.
Unterstützung des Landes NRW
Das NRW-Wirtschaftsministerium versucht derweil Unternehmen in der Region auch auf andere Weise zu unterstützen. Ein Beispiel dafür ist das Projekt „Hub45“. Um der Abwanderung von Fachkräften entgegenzutreten, wird seit Anfang 2023 das Projekt „Hub45 – Neue Orte des digitalen Arbeitens“ mit mehr als einer halben Millionen Euro gefördert. Mit dem Projekt soll der Aufbau von Coworking Spaces in der Region der gesperrten A45 koordiniert werden.
VDM hat den zusätzlichen Bürostandort in Dortmund selbst finanziert, nutzt also keine Landesmittel, ist aber mit seinem Ausweichquartier durchaus Vorbild für das Projekt. Mehr als 100 Unternehmen haben sich dafür auch bereits in Düsseldorf gemeldet. Aktuell, so heißt es aus dem Ministerium, werde der Bedarf an dezentralen Arbeitsplätzen ausgewertet, den interessierte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber angemeldet haben.
Dass der Dortmunder Arbeitsmarkt von den Problemen der Mitarbeitergewinnung bei Unternehmen im Raum Lüdenscheid, Altena, Werdohl profitiert, ist zu vermuten, lässt sich aber nicht belegen. Arbeitsagentur-Chefin Heike Bettermann sagt: „Konkret bei den Stellenausschreibungen oder in der Arbeitsvermittlung stellen wir bisher keine Auffälligkeiten fest. Das kann zum einen daran liegen, dass die Sauerländer Unternehmen für Dortmund kaum neue Stellen ausschreiben und/oder diese nicht bei uns melden, oder auch daran, dass Beschäftigte, die sich in Dortmund neu orientieren, unsere Unterstützung nicht in Anspruch nehmen.“

Negativ betroffen ist auf jeden Fall die Logistikbranche in Dortmund. Auch die Logistikkette von Dortmunder Firmen leidet. Bis zu 200 Kilometer Umweg müssen LKW von und nach Dortmund teilweise fahren, um Güter zu transportieren. „Die Sperrung der A45 ist weiterhin eine Vollkatastrophe“, sagt Spediteur Stefan Windgätter. Er führt nicht nur das gleichnamige Unternehmen in Lindenhorst, sondern ist auch Vorstandsmitglied im Verband für Verkehrswirtschaft und Logistik. „Für uns ist die Herausforderung seit dem 10. Juni mit dem Durchfahrtsverbot für LKW in Lüdenscheid noch einmal größer geworden. Bis dato hatten wir es mitunter so organisiert, dass wir ganz früh durch Lüdenscheid gefahren sind. Das ist nicht mehr erlaubt, wir müssen also Umwege fahren. Das bedeutet mehr Dieselverbrauch, mehr CO2-Ausstoß - und die Kunden müssen es bezahlen“, so Stefan Windgätter.
IHK-Kritik an LKW-Verbot
Die IHK zu Dortmund kritisiert die weitere Beschränkung regionaler Wirtschaftsverkehre denn auch deutlich. „Mit dem Durchfahrtsverbot entsteht die Gefahr, das bereits jetzt stark angespannte Wertschöpfungsnetzwerk zu zerstören – mit weitreichenden Folgen für alle Produktionsstufen“, heißt es in einem gemeinsam mit anderen Kammern verfassten Positionspapier.
Mit dem neuen Lkw-Durchfahrtsverbot werde deutlich, dass nur ein zügiger Ersatzneubau der Rahmedetalbrücke und eine Ertüchtigung der umliegenden Infrastruktur (Stichwort Altena B236) der regionalen Wirtschaft helfen und zu einer wirklichen Entlastung für die Bürger von Lüdenscheid und der umliegenden Kommunen führen wird.
Inwieweit die A45-Sperrung Firmen in Dortmund und der Region beeinträchtigt versucht der bei der IHK zu Dortmund angesiedelte Verkehrsverband Westfalen e.V. gerade mit einer Umfrage herauszufinden. Die Fragen lauten: Ist die Verlässlichkeit im Warenverkehr eingeschränkt? Oder: Haben Sie Umsatzeinbußen?
An seiner modernen Bürowelt im Westfalentower hält VDM selbst dann vielleicht fest, wenn die A45 wieder frei ist. Unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten und im Sinne einer Vermeidung von Verkehren ist schließlich auch nach der Eröffnung der neuen Rahmedetalbrücke das Arbeiten in Dortmund für die Beschäftigten aus dem Ruhrgebiet attraktiv. Und außerdem: man möchte das Szenario nicht beschwören, aber eventuell gibt es ja noch weitere Brücken, die erneuert werden müssen.
- Die IHK zu Dortmund möchte gegenüber den politischen Entscheidungsträgern deutlich machen, wo den Betrieben aufgrund der A45-Sperrung „der Schuh am meisten drückt“. Zu diesem Zweck führt der Verkehrsverband Westfalen e.V. in Zusammenarbeit mit der IHK bis zum 11. August online eine Unternehmensbefragung durch. Daran können Firmen teilnehmen unter: https://forms.office.com/e/NSp3qfd7h9
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 24. Juli 2023.
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