Der Abschied schmerzt in den Ohren. Jedes Mal. Ein hohes Surren, das entsteht, wenn Zugräder auf stählernen Schienen in Fahrt geraten und der Fahrtwind an der spitznasigen Silhouette des ICE vorbei pfeift. Irgendwo an Gleis 11, das nur in Dortmund direkt an Gleis 16 grenzt.
Sie ist weg. Und ich bin wieder allein. Wie konnte das passieren? Wir haben 2023 und ich altes Trottelgesicht stecke schon wieder in einer Fernbeziehung. Mit 54 Jahren. Ist das ein Ablenkungsmanöver, mit dem ich mir beweisen will, dass ich innerlich immer noch 25 bin? Oder will ich meine persönliche Erfolgsquote bei Fernbeziehungen, die bisher im 50:50-Niemandsland festhängt, auf 67:33 hochtreiben?
„Fernbeziehung? Das ist aber in deinem Alter ein eher seltenes Beziehungsmodell“, hatte die Kollegin gesagt. Recht hat sie. Seit 1. März trennen meine Ehefrau und mich 478 Kilometer Luftlinie. Oder 631 Kilometer Autobahn. Meistens 6 Stunden und 48 Minuten Fahrtzeit mit dem Auto - Rahmedetalbrücke sei Dank. Oder eben 5 Stunden 50 Minuten mit dem ICE - oft länger, Deutsche Bahn sei Dank. Sie in München, ich in Dortmund. Zielmarke: Alle zwei Wochen ein Treffen, das länger als 48 Stunden dauert.
Immer eine Lösung auf Zeit
Ich habe mich nicht bei Tinder in eine Frau aus München verliebt. Ich bin nicht für die Bachelor-Arbeit nach Dortmund gezogen. Wir haben beide zeitgleich einen neuen Job angefangen. Ich ging nach Dortmund, sie blieb in München. Unsere Fernbeziehung wird nicht für immer eine solche bleiben. Denn das habe ich aus zwei Fernbeziehungen in meinen Zwanzigern gelernt: Solche Modelle sind immer temporär. Freiwillig oder unfreiwillig. Weil einer entweder nachkommt oder geht.
Meine Frau und ich haben in den letzten Jahren aus beruflichen Gründen viele räumliche Konstellationen angedacht und wieder verworfen. Dieses Mal sind wir uns sicher, dass es klappt. Für einen maximalen Zeitraum von bis zu - jetzt noch - 21 Monaten. Was uns, was mich so sicher macht? Wir haben viel darüber geredet, erste Erfahrungen gesammelt. Für mich habe ich acht Regeln gefunden, die ich befolge, damit meine Fernbeziehung funktioniert. Mit Mitte 50. Vielleicht bei anderen auch mit Mitte 20. Und für ganz Mutige vielleicht auch mit Mitte 70.

Tipp 1: Nutze die Technik!
Mitte der 80er gab es von „The Rah Band“ einen Song namens „Cloud across the Moon“. Er handelt von einem intergalaktischen Telefonat zwischen einer Frau auf der Erde und einen Mann im Raumschiff. Sie schildert, wie sehr sie ihn vermisst, als plötzlich die Verbindung abbricht. „Ich versuch’s wieder - nächstes Jahr“, sagt die Frau zum Schluss des Lieds.
So lief Kommunikation in der Pre-Internet-Ära. Mit 21 Jahren hatte ich ein halbes Jahr eine Very-Long-Distance-Beziehung. Meine Partnerin arbeitete im Kongo, Luftlinie 6377 Kilometer entfernt. Per Luftpost verabredete wir Termine, sie fuhr mit dem Fahrrad ins Nachbarland und wir telefonierten für ein halbes Vermögen einige Minuten. Die Beziehung hielt noch Jahre, heute lebt sie in Hombruch und war vor acht Jahren auf meiner Hochzeit.
Die Beziehung danach zerbrach an lächerlichen 370 Kilometern Distanz. Weil wir damals nicht die technischen Mittel von heute hatten. Mein erstes Handy war zu dieser Zeit ein 50 Zentimeter hoher Klotz, dem nach 20 Minuten Sprechzeit der Saft ausging. Für eine Fernbeziehung heutzutage sind Handys, ist Facetime ein Segen! Redet miteinander, schaut euch in die Augen, macht fettige Lippen-Abdrücke aufs iPad-Glas! Sprecht und seht euch möglichst jeden Abend oder Morgen. Am besten immer zur gleichen Zeit. So ein Ritual entlastet eure Seele.
Tipp 2: Gib immer 100 Prozent!
Eine Fernbeziehung hat Vorteile. Du kannst Rollen klarer voneinander trennen, die sonst im Alltag miteinander in Konflikt geraten. Du bist - zum Beispiel im Homeoffice - nicht gleichzeitig Journalist, Partner und der Typ, der demnächst den Müll runterbringen muss. Das heißt im Umkehrschluss: Du kannst in jeder Rolle 100 Prozent geben. Und das solltest du in Bezug auf Beziehung auch auf jeden Fall tun. Die knappe Zeit mit dem Menschen, den du liebst, ist kostbar - im diesem Fall auch, weil sie knapp ist. Sei aufmerksam, sei ganz Ohr. Facebook, Fußball und andere Freunde spielen am besten keine, ganz sicher aber eine sehr untergeordnete Rolle. Geh für diese Zeit keine anderen Verpflichtungen ein!
Tipp 3: Reden, reden, reden!
Wir Männer gelten ja manchmal als maulfaul. Und genau daran scheitern die meisten Fernbeziehungen. Wir reden zu wenig und ruhen uns auf vermeintlichen Selbstverständlichkeiten aus. Denn nichts ist mehr selbstverständlich in einer Fernbeziehung. Routinen erodieren, Gewohntes wird exotisch, Außergewöhnliches alltäglich. Es passiert das Gleiche, was während der Corona-Pandemie mit vielen Arbeitssituationen passiert ist: Arbeitsstätte und Arbeitsplatz trennen sich und plötzlich wird vieles, was wir mit Leichtigkeit in der Büro-Kaffeeküche organisiert haben, ganz schwer. Weil sogenanntes hybrides Arbeiten anfällig ist für Missverständnisse. Man müsste überdeutlich werden, will es aber nicht - und in einer Beziehung, die hybrid wird und per Facetime gelebt wird, erst recht nicht. Wir erleben das was der Soziologe Niklas Luhmann einmal als „Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation“ bezeichnet hat. Was sie wieder wahrscheinlicher macht: Reden, reden, reden! Denn das schafft Vertrauen.
Tipp 4: Sei offen für Neues!
Wer sich in eine Fernbeziehung wagt, ist meist nicht besonders risikoavers. Er oder sie geht in eine andere Stadt, um etwas Neues, etwas anderes auszuprobieren. Diesen Spielraum muss man aber auch einem Partner, seiner Partnerin einräumen. Erst recht, wenn sie - wie meine Frau - nun ebenfalls einen neuen Job hat. Auch die Lebenssituation des Gegenübers verändert sich grundlegend, auch im Leben des anderen türmt sich Neuigkeit auf Neuigkeit. Und daraus wird wiederum auch Neues für die Beziehung entstehen. Halte die Ohren und Augen auf, sonst verpasst du den „neuen“ Menschen an deiner Seite!
5. Sei romantisch!
Eine Fernbeziehung eröffnet die Chance für die ganz große Geste. Komm mit Rosen zum Gleis. Oder ohne Hemd oder Bluse unter dem Mantel zum Bahnhof. Reserviere das Candle-Light-Dinner beim teuren Italiener. Oder mach aus der Alltags-Not eine Romantik-Tugend. Um auch familiären Verpflichtungen Raum zu geben, haben meine Frau und ich uns kürzlich am Wohnort meiner Mutter in Hessen getroffen - ich habe ein schönes Hotel (okay, es war das einzige am Ort) ausgesucht und den Abend hatten wir nur für uns.

Tipp 6: Planen, planen, planen!
Manchmal muss man aber auch ganz unromantische Dinge tun. In einer Fernbeziehung ist das lebens- und liebensnotwendig. Niemand hat etwas von einem romantischen Spontanbesuch, wenn gerade im Job deiner Partnerin die dreitägige Jahres-Inventur im Schraubenlager ansteht. Von schlimmeren Konstellationen ganz abgesehen. Deswegen: Synchronisiert eure Terminkalender, gebt so viel wie möglich preis und frei. Redet über Urlaube. Redet darüber, wenn ihr am Wohnort eures Partners Homeoffice machen müsst. Planung ist die heimliche Mutter der Romantik.
Tipp 7: Überfordere dich nicht!
Eine Fernbeziehung ist ein Kraftakt - organisatorisch und emotional. Und nicht immer läuft alles wie geplant, nicht immer ist alles toll. Sich voll auf den Partner zu konzentrieren und ansonsten 100 Prozent im Job zu geben, kann deine Sozialkontakte auf null sinken lassen. Lass das nicht zu. Denn Einsamkeit ist ein Wolf, der jede Nacht in deinem Garten ein Huhn reißt. Das ist kein armenisches Sprichwort, sondern der Appell, sich nicht zu überfordern, nicht in allen Bereichen perfekt sein zu wollen. Um es prosaischer zu formulieren: Wenn außer deinen Kollegen und der abwesenden Ehefrau dein einziger Gesprächspartner die mürrische Fleischereifachverkäuferin im Supermarkt nebenan ist, stimmt etwas nicht.
Tipp 8: Sei treu!
Gelegenheit macht Liebe. Oder das, was man dafür hält. Der letzte Tipp ist der elementarste: Nutze die Abwesenheit deines Partners nicht für Affären. Weder für One-Night-Stands, noch für vermeintlich romantische Schwärmereien. Ich telefoniere (fast) jeden Abend direkt vor dem Zubettgehen mit meiner Frau. Mein persönlicher Persil-Schein - „da weiß man, was man hat. Guten Abend.“ Oder um meine Frau zu zitieren: Bring mir ja keine Pott-Pflanze ins Haus!
Das Schöne an der Fernbeziehung: Nach dem Trennungsschmerz kommt die Wiedersehensfreude Die gleicht dem kurzen Erschaudern, wenn man den Vanillepudding aus Kinderzeiten wieder kostet. Oder den Schmeichel-Stein aus Teenager-Tagen wieder zwischen seine Finger gleiten lässt. Genau so fühlt es sich an, einen geliebten Menschen wieder in den Arm zu nehmen. Wiedersehen ist wie Heimkommen. Denn Heimat ist kein Ort.
Glücklich auch ohne Partner: Paartherapeutin Birthe Kottmann erklärt, ob das möglich ist
Ich kann auch ohne Partner in den Urlaub fahren: Janine Jähnichen (26) übers Reisen in Beziehungen
Marius (23) war Kandidat bei TV-Datingshow „First Dates“: „Von Minute eins an aufregend“