Zwillings-Zwist Wenn linke Politik die Geschwisterliebe auf die Probe stellt

Wenn linke Politik die Geschwisterliebe auf die Probe stellt
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Es herrscht eine goldene Regel bei den Dortmunder Zwillingsbrüdern Jan und Finn Siebert: Über Politik wird nicht diskutiert. Ein Artikel über die politische Entzweiung der beiden 39-Jährigen? Kein Interesse. „Ich glaube, wir würden uns danach nicht mehr so gut verstehen“, heißt es am Telefon.

Fünf Jahre zusammen bei den Linken

Jan Siebert, einstiges SPD-Mitglied, sitzt inzwischen im Vorstand der Dortmunder Linken und ist auch deren Bundestagskandidat für den westlichen Dortmunder Wahlkreis. Zwillingsbruder Finn Siebert saß schon um das Jahr 2010 als jugendpolitischer Sprecher im Landesvorstand der nordrhein-westfälischen Linken. Fünf Jahre, von 2018 bis 2023, machten die beiden Brüder, die nur ihre Bartlänge unterscheidet, gemeinsame Politik in der Linkspartei. Dann wechselte Finn Siebert zum Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) - und seitdem herrscht Funkstille.

Zumindest was das Politische angeht. „Manchmal werde ich gefragt, was beim BSW so los ist“, erzählt Jan Siebert. „Dann sage ich immer: Weiß ich nicht, ich rede zwar mit meinem Bruder, aber nicht über Politik.“ Sein Bruder Finn ist der inoffizielle Kopf der Dortmunder BSW-Truppe geworden. Offiziell noch gar nicht gegründet, hat sie bislang nur drei Mitglieder. Der Unterstützerkreis sei aber viel größer, versichert Finn Siebert. Ein Teil von ihnen verließ gemeinsam mit ihm im Oktober 2023 die Linken. Wenig später, am 16. Dezember 2023, stellten sich die Dortmunder Linken mit einem neuen Vorstand komplett neu auf. Das war auch der Moment für Jan Siebert: Erstmals erhielt er ein offizielles Amt im Parteivorstand. Er wurde Schatzmeister, weil er gut mit Zahlen umgehen konnte.

Seit BSW-Gründung aktiv geworden

Das trifft auf beide Brüder zu. Jan Siebert hat Volkswirtschaft studiert, einen Doktortitel erworben, und arbeitet nun in der Kommunalstatistik der Stadt Hagen. Finn Siebert dagegen hat es in die freie Wirtschaft gezogen. Nach seinem Informatik-Studium an der TU Dortmund arbeitet er inzwischen in der Cybersicherheit bei Materna. Beide sind in Dortmund geblieben.

„Bei den Linken waren die beiden nie die prägenden Gesichter“, sagt Utz Kowalewski, Dortmunder Linken-Urgestein und langjähriger Fraktionsvorsitzender. „Erst seit das mit Sahra eskaliert ist, sind beide so richtig aktiv geworden.“ Auf Mitgliederversammlungen habe Jan dafür geworben, in der Partei zu bleiben, Finn dagegen wollte die Leute mit zum BSW nehmen. Generell habe Finn oft etwas spontaner und emotionaler reagiert, während Jan der ruhigere und bedächtigere Bruder sei.

Kommen privat gut miteinander aus

Und so ist es auch Finn Siebert, der sich als erstes umentscheidet und doch für einen Artikel zum brüderlichen Streitgespräch antreten will. Nach ein wenig Bedenkzeit schlägt Jan Siebert ebenfalls ein. Zu dem abendlichen Termin bringt er seine beiden Kinder mit.

„Wir treffen uns schon noch häufig, für Spieleabende zusammen mit unseren Frauen, Fernsehabende, zum Biertrinken oder zusammen mit meinen Kids“, erzählt Jan Siebert. Oder für Besuche bei der Mutter in Selm. Die Eltern waren SPD-Mitglieder. „Politisch interessiert, aber nie aktiv. Am Abendbrottisch wurde da nicht viel über Politik diskutiert“, berichtet Jan. Mit fünf oder sechs Jahren nahmen die Eltern die beiden Zwillinge und ihre Schwester mit zur Demo 1991 gegen den Irakkrieg auf dem Dortmunder Friedensplatz. „Wir waren beide gegen den Irakkrieg.“

Linken waren zu ideologisch

Noch vor dem Abi traten beide in Parteien ein. Jan Siebert, wie seine Eltern, in die SPD. „Ich habe Gerhard Schröder lange abgekauft, dass er Gerechtigkeit schafft und Arbeitsplätze rettet“, sagt er. „Dass das dauerhaft nicht funktioniert, habe ich erst viel später gemerkt.“ Nämlich 2018, als er von der SPD zu den Linken wechselt. Finn Siebert war da längst bei den Linken. „Ich war 2002 in die damalige PDS eingetreten, weil ich wollte, dass sie im Bundestag bleiben“, sagt er. „Die SPD fand ich immer schrecklich, weil sie den Jugoslawien-Krieg unterstützt hatte und Schröder mit der Agenda 2010 die Arbeitslosenversicherung abgeschafft hatte.“

Die Siebert-Brüder draußen mit Wahlplakaten in den Händen, Jan Siebert hat seinen Sohn auf einem Arm.
2019 machten Finn Siebert (links) und Jan Siebert (rechts) noch gemeinsam für die Linke Europawahlkampf. © privat

„Als mein Bruder 2018 zu den Linken gewechselt ist, dachte ich erst, dass es politisch ja ganz hilfreich sein könnte, als Brüder zusammenzugehören“, berichtet Finn. „Es hat sich aber schnell gezeigt, dass wir auf verschiedenen Flügeln stehen. Und das hing davon ab, wie wir zu Sahra Wagenknecht standen. Mir waren die eigentlichen Linken da längst schon zu ideologisch eingestellt. Sahra Wagenknecht hatte dagegen ein modernes Konzept: Dass man eine soziale Gesellschaft auch ohne Planwirtschaft haben kann, indem Unternehmen zur Hälfte auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehören.“ Schon 2011 hätten ihm diese Gedanken in Wagenknechts Buchs „Freiheit statt Kapitalismus“ imponiert.

Wagenknecht profitiert von Rassismus

Gerade diese Gerechtigkeitsthemen verdränge Wagenknecht aber, „indem sie auf den Rassismus in der Bevölkerung setzt“, meint Bruder Jan. Schon 2015 habe sie gegen zu viele Flüchtlinge gewettert, Wagenknecht unterscheide sich da nicht von Olaf Scholz, Friedrich Merz, der FDP oder gar der AfD, die allesamt abschieben wollen. „Wirtschaftsdemokratie ist zwar gut, aber Rassismus zu befeuern ist eine ganz schlechte Strategie“, meint Jan Siebert.

Damit ist der Bann der eigentlich eher zurückhaltend wirkenden Zwillinge gebrochen. Es gehe nicht um Rassismus, die Leute wollten Lösungen für das Migrationsproblem, meint Finn. Die Linken erteilten dagegen lieber Sprachverbote. „Ich kann nicht sehen, wo wir Sprachverbote haben“, entgegnet Jan. Das BSW nehme lieber Hunderte Todesopfer auf Autobahnen in Kauf, als sich für ein Tempolimit auszusprechen. „Aber die Todesopfer von Asyltaten, die interessiert das BSW dann plötzlich!“ Zudem ignoriere das BSW den Klimawandel, „sie haben kein Maßnahmenprogramm und lehnen alles ab!“ Zum Beispiel den CO2-Preis. Der funktioniere auch nur in der Theorie, glaubt Finn. „Die Leute gehen dann einfach seltener zum Friseur, das hat keine lenkende Wirkung. Die Linken machen sich zum Idioten von FDP und AfD, weil sie sich dafür einsetzen, dass alles teurer wird.“

Streitpunkte Gendern und LGBTQ

Die beiden Brüder haben ihren gegenseitigen Parteien vieles an den Kopf zu werfen. „Es ist bei den Linken nichts beschlossen worden, was nicht gegendert wurde“, erzählt Finn. „Wenn das jemand vergessen hatte, wurde man oberlehrermäßig daran erinnert.“ Jan kann sich an solche Situationen nicht erinnern. Ihm sei dagegen missfallen, dass Wagenknecht immer einen „sehr harten Ton“ gegen die von ihr sogenannten „skurrilen Minderheiten“, also Befürworter von LGBTQ, eingeschlagen habe.

Worin sich die beiden Brüder jedoch einig sind: Die Linke war lange viel zu sehr mit sich selbst und der innerparteilichen Wagenknecht-Gruppierung beschäftigt. „Wir beide haben bei den Linken immer eher gegeneinander gearbeitet“, meint Finn Siebert. Das gipfelte darin, dass die beiden Brüder gegeneinander für den Landesparteitag kandidierten. Beide bekamen gleich viele Stimmen. „Ich war froh, dass die Störenfriede irgendwann aus der Partei gegangen sind“, sagt Jan Siebert - und er schließt seinen Bruder ausdrücklich davon aus. „Dass er weggegangen ist, darüber habe ich mich natürlich nicht gefreut. Trotzdem glaube ich, dass er sich manches zu einfach macht und er bestimmte Dinge einfach ausblendet.“ Finn Siebert schaut nach vorne, kein Blick für seinen Bruder neben sich, er rutscht kurz ein wenig auf dem Stuhl hin und her und reibt die Daumen übereinander. „Es ist schon besser, dass wir nicht mehr in derselben Partei sind. Dass der Jan uns wählt, das habe ich aufgegeben.“