Immer mehr Bürger zeigen sich gegenseitig an. Die Zahl an Fremdanzeigen durch Privatpersonen hat sich seit 2016 mehr als verdoppelt. Das steckt hinter diesem Phänomen.
Seit 2016 erfasst das Ordnungsamt der Stadt Dortmund die Fremdanzeigen. Hierunter werden Hinweise von Privatpersonen über Verstöße gegen geltendes Recht verstanden, die nach einer Prüfung durch das Ordnungsamt bearbeitet werden.
Bürger übernehmen den Job von Behörden. Mit 5300 hat die Zahl der Fremdanzeigen 2018 ihre bisherige Rekordhöhe erreicht. 2016 gab es 2100 Anzeigen, 2017 war die die Zahl bereits auf 4700 gestiegen.
Die meisten Anzeigen gibt es gegen Falschparker auf Gehwegen, Radwegen oder an anderen nicht erlaubten Stellen. Aber das Phänomen beschränkt sich nicht auf die Verkehrsüberwachung.
„Grundsätzlich ist bei allen bußgeldrelevanten Verstößen, gleichgültig aus welchem Rechtsgebiet, die Erstattung von Fremdanzeigen möglich, etwa bei der Lebensmittelüberwachung oder dem Nichtraucherschutzgesetz“, sagt Stadtsprecher Maximilian Löchter auf Anfrage dieser Redaktion.
Der Weg zur Anzeige ist kurz
Ein wesentlicher Grund für die hohen Zahlen: Der Weg zur Anzeige ist kurz. Eine E-Mail an eine städtische E-Mail-Adresse ist ausreichend, wenn der Verstoß mit Fotos und genauen Daten dokumentiert ist.
Es geht sogar noch einfacher. Seit 2013 gibt es die Smartphone-App „Wegeheld“. Dahinter steht Heinrich Stößenreuther, der sich in Berlin seit einigen Jahren für eine Verkehrswende und eine moderne Radverkehrspolitik in „cleveren Städten“ einsteht.
Der Benutzer muss bei „Wegeheld“ den Zugriff auf Standort und Fotogalerie erlauben, einige Informationen ergänzen und bestätigen – dann gehen die Infos über die Verstöße anderer mit wenig Aufwand direkt an das lokale Ordnungsamt.
Was passiert, wenn mich jemand anzeigt?
Das Ganze lässt sich noch mit Sprüchen garnieren. „Sie haben eine komische Art, Ihren Führerschein gegen eine Monatskarte einzutauschen.“ Oder: „Nur bei Monopoly gibt es eine Parkstraße“.

So sieht eine Anzeige über die App Wegeheld aus. © Felix Guth
Stadtsprecher Maximilian Löchter sagt: „Sämtliche eingehenden Fremdanzeigen werden – unabhängig ihrer Herkunft – bei Vorliegen der Voraussetzungen bearbeitet.“ Die App hatte nach ihrem Erscheinen für Diskussionen über Denunziantentum und angemessene Reaktion auf Fehlverhalten gesorgt. Sechs Jahre später hat „Wegeheld“ viele Fans und sechsstellige Downloadzahlen.
Wird ein Auto beim Parken auf dem Radweg beweiskräftig fotografiert, bekommt der Halter Post mit dem Hinweis auf ein Verwarnungsgeld von bis zu 30 Euro. Der Fahrzeughalter kann dagegen Widerspruch einreichen – dann landen solche Fälle vor dem Amtsgericht.
Der Anzeigenerstatter taucht als Zeuge namentlich auf dem Bescheid für den Empfänger auf. Dies soll vor Denunziation, also Anschuldigung aus Rache oder persönlichen Motiven, schützen.
Was sind das für Leute, die andere anzeigen?
Anfang Februar meldet sich ein Mann in der Redaktion, der offen von sich sagt: „Ich zeige andere Leute an.“ Der Mann hat uns ausführlich seine Beweggründe und die Geschichte dahinter geschildert. Einen Tag später bittet er aus Sorge vor persönlichen Konsequenzen aber darum, seine persönliche Geschichte und Details nicht zu veröffentlichen.
Deshalb sind hier die Dinge notiert, die allgemeine Erkenntnisse darüber zulassen, was Menschen wie ihn antreibt.
Der Mann im Rentenalter erzählt, er handle aus einem starken Ungerechtigkeitsempfinden. „Wenn jemand ungerechtfertigt auf einem Behindertenparkplatz steht, kann ich nicht daran vorbei gehen.“
Wenn er unterwegs sei und Falschparker sehe, dokumentiere er das. Dann setze er sich an den Computer und schreibe E-Mails. „Es können zehn bis zwölf pro Tag sein“, sagt er.
Manche Anzeigensteller schützen sich mit Pfefferspray vor persönlichen Attacken
Persönliche Konsequenzen, auch körperliche, habe er schon mehrfach gespürt, wenn er falsch parkende Fahrzeuge fotografiert hat und deren Besitzer damit nicht einverstanden waren. Pfefferspray und Trillerpfeife gehören deshalb neben Kamera und Zollstock zu seiner Ausrüstung.
Es gebe einen Kreis von mehreren Hundert Dortmundern, die Fremdanzeigen schreiben, teilweise sei man untereinander bekannt. Unter diesen Personen sind Männer und Frauen, Studenten und Rentner.
Der Drang, die Regelverstöße anderer zu melden, hat oft eine Vorgeschichte. Das können persönliche Schäden sein, die Menschen wegen falsch geparkter Autos erlitten haben. Oder biografische Ereignisse, die zu einem besonders starken Drang nach Gerechtigkeit führen.
Fahrradfahrer-Initiative sieht Anzeigen als „Notwehr“
Innerhalb der auch in Dortmund aktiven Fahrradfahrer-Initiative „Velo City Ruhr“ sind die Anzeigen gegen Radwegeparker ein Thema. In einem Blogbeitrag heißt es: „Anzeigen sind nur eine Notlösung, aber solange der Staat nicht genug unternimmt, sind sie eine sinnvolle Notlösung.“ Für das Klima auf den Straßen sei es nicht zuträglich, „wenn Autofahrer massenhaft gewohnheitsmäßig Radwege zuparken und Radfahrende, die sich nicht mehr anders zu helfen wissen, ebenso massenhaft Anzeigen schreiben müssen“.
Hier sei der Staat gefragt, der die Verkehrsüberwachung personell entsprechend ausstatten müsse. „Solange das nicht passiert, bleibt uns nur die Notwehr.“ Es folgen Hinweise zur Rechtslage und verschiedene vorgefertigte Textbausteine für die Anzeige.
Fremdanzeigen machen Arbeit und bringen Geld
Die Fremdanzeigen machen dem städtischen Ordnungsamt zusätzliche Arbeit. „Die Fremdanzeigen werden zusammen mit den Verwarnungsgeldern der Außendienstkräfte vom Innendienst der Verkehrsüberwachung bearbeitet“, sagt Maximilian Löchter.
Aber sie sind für Städte auch eine Einnahmequelle – auch, wenn eine Übersicht der genauen Einnahmen nicht möglich sei. Insgesamt hat die Stadt Dortmund durch Bußgelder im ruhenden Verkehr im vergangenen Jahr 1.562.259 Euro eingenommen.
„Die Einnahmen aus den Fremdanzeigen fließen gemeinsam mit den Einnahmen aus den Verwarnungsgeldern in den städtischen Haushalt ein. Eine Trennung oder Aufteilung ist nicht möglich“, erklärt Maximilian Löchter.
Manche treibt die Hoffnung auf eine Verkehrswende an
Es ist zu vermuten, dass die Zahl der Fremdanzeigen nicht abnehmen wird. Viele der Anzeigensteller handeln aus Überzeugung und der Hoffnung, dass sich langfristig das Verhalten von Autofahrern ändert - wenn auch nur an einzelnen Stellen.
Bewegungen wie die von Wegeheld-Gründer Heinrich Stößenreuther oder Velo-City Ruhr befinden sich noch im Wachstum. Die Diskussion über die Verkehrswende ist intensiver geworden und wird erhalten bleiben.
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
