Fabian Ritter fährt für das perfekte Foto in den Krieg „Manche, die sterben, hätte ich gern besser gekannt“

„Manche, die sterben, hätte ich gern besser gekannt“
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Der gesamte Saal ist still, als dem Dortmunder Fabian Ritter die Stimme wegbricht. Er steht auf einer Bühne im Landtag NRW. Tränen sind in den Augen des Fotografen zu sehen. Soeben hat er 10.000 Euro mit einem Foto gewonnen, das an die Wand projiziert wird – für alle sichtbar. Es sind keine Freudentränen. Als er den versammelten Menschen die Geschichte hinter dem Foto erzählt, herrscht eine Totenstille im Saal.

Zwei junge Menschen sind auf dem Gewinnerbild zu sehen. Ivan und Lena. Er hält sie im Arm, während sie mit einem verzweifelten Blick an der Kamera vorbeischaut. Ein intimer Moment eines Paares, das seit seinem 18. bzw. 17. Lebensjahr verliebt ist. Als Ivan auf Druck seiner Eltern in die Heimat zurückgeht, um in einer schwierigen Lage im Familienbetrieb auszuhelfen, bricht für die beiden eine Welt zusammen. Ivan kommt aus der Ukraine und nun geht er zurück in das Land, das 2022 von Russland überfallen wurde. Für Lena, die in Düsseldorf lebt und bleiben muss, zählt nur eins: Sobald sie 18 ist, will sie hinterher, die Risiken sind ihr egal.

Diese Reise hat Fabian Ritter im Sommer 2024 bis zum Schluss zusammen mit dem Spiegel als Fotograf begleitet. Das Siegerfoto und gleichzeitig Foto des Spiegelartikels zeigt die Szene, in der Lena sich von Ivan verabschiedet. Lena steigt kurz darauf in den Bus, es geht zurück nach Deutschland. Plötzlich: Luftalarm über Lviv. Der Bus fährt zügig ab, derzeit keine Einschläge in der Nähe der Fahrtstrecke erwartet. Zu dem Zeitpunkt wissen Ivan und Lena nicht, ob sie sich jemals wiedersehen.

Ivan und Lena am Busbahnhof in Lviv in der Ukraine.
Ivan und Lena während der letzten Minuten der Verabschiedung auf ungewisse Zeit am Busbahnhof Lviv, Ukraine in den Morgenstunden des 23. Juni 2024. Mit diesem Foto macht Fabian Ritter den ersten Platz beim „Pressefoto NRW 2024“. © Fabian Ritter / DER SPIEGEL

Das Glück des Friedens

Die Geschichte von Ivan und Lena ist nicht die erste oder die einzige, die Fabian Ritter erlebt und fotografiert hat. Etwa ein Drittel seines Jahres lebt und arbeitet er im Kriegsgebiet. Er begleitet dort vor allem junge Leute, dokumentiert ihren Alltag in Kriegszeiten. Die Bilder kommen an. Ritter veröffentlicht seine Werke in internationalen Medien wie dem Guardian oder beim Time Magazine. Er gewinnt viele Preise.

„Der Krieg brach aus und ich hatte einen Auftrag in Polen, an der ukrainischen Grenze. Ich sollte die Flüchtlingsströme fotografieren.“ Der Moment, der seine Karriere und sein Leben daraufhin prägen sollte, passiert in einem Shopping-Center nahe der Grenze. „Die Geflüchteten saßen in Massen auf dem Boden des Einkaufscenters, fast niemand wusste, wohin es weitergeht.“ Eine Ausnahme-Situation, sagt Ritter.

Er hat zu dem Zeitpunkt schon seine Stärke entdeckt, schwere menschliche Schicksale authentisch festzuhalten und zu porträtieren. Seine größte Arbeit war bislang ein fotografischer Essay über den rassistischen Anschlag in Hanau. Ab Februar 2020 hat er Angehörige, Familien der Ermordeten und auch die Stadtgesellschaft immer wieder begleitet, verteilt über den Zeitraum von einem Jahr. Die Bilder bekamen große Resonanz, unter anderem im ZEIT Magazin. Doch mit Beginn des Ukraine-Krieges wurde es anders.

„Es war irgendwie kurz vor Mitternacht und ich traf dort eine WG, die zusammen geflohen war. Schnell merkte ich: ‚Okay, wir hätten auch locker zusammenwohnen können, irgendwie so von der Stimmung zwischen uns.‘“

Fabian Ritter habe sich mit vielen Gleichaltrigen unterhalten. Habe sich in ihnen gesehen. „Manchmal hörte ich Klingeltöne. Lieder von Bands, die ich selbst gern höre.“ Immer öfter habe er Gemeinsamkeiten mit jenen gefunden, die er eigentlich nur fotografieren sollte. Man freundete sich teilweise an, so gut es auf die Schnelle möglich war.

An diesem Tag, kurz vor Mitternacht, auf dem Boden eines Einkaufszentrums habe Ritter sich selbst in diesen Menschen gesehen. Und die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren ist. Das kann er bis heute schwer ertragen, sagt er, und es prägt seine Arbeit bis heute.

Recht und Unrecht

Ungerechtigkeit. Immer wieder kommt Fabian Ritter bei einem Treffen im Café Kompott in der Dortmunder Innenstadt darauf zu sprechen. Der Treffpunkt ist seine Idee, er lobt die authentisch ukrainische Küche. In diesem friedlichen, aber geschäftigen Café erzählt er, wie Ungerechtigkeiten auch sein Leben seit 2022 prägen. Gleichzeitig seien sie jedoch auch seine treibende Motivation, er hat es sich freiwillig so ausgesucht.

„Durch meine vielen Aufenthalte in der Ukraine habe ich dort inzwischen Bekannte, Mitbewohner und Freunde.“ Ritter geht während seiner Arbeitsaufenthalte in der Ukraine beruflich wie privat abends auch auf Feiern, Konzerte. Er schätzt die ukrainische Kultur, die Architektur, das Essen, die Menschen. In den mehr als zwei Jahren seit Kriegsbeginn fühlt er sich der ukrainischen Jugend näher als je zuvor. „Es gibt auch viele Momente, in denen man fast nicht bemerkt, dass Krieg ist. Eine 24/7 Beschäftigung mit dem Krieg halten die Menschen auch dort auf Dauer nicht aus. Auch sie suchen sich Ruhepausen, Ablenkung.“

Kinder spielen auf zerstörten Autos in der Ukraine.
Kinder spielen auf zerstörten Autos in der Ukraine. © Fabian Ritter // DOCKS Collectiv

Doch schildert der Dortmunder auch, dass der Krieg niemals komplett weg sei. „Ich gehe auf Geburtstagsfeiern – von jungen Leuten. Und nicht selten ist ein halbes Jahr nach solchen Feiern jemand der Gäste“, Ritter muss schlucken, „tot. Und viele, die sterben, hätte ich gern besser gekannt, mich nochmal länger mit ihnen unterhalten.“

Ebenso junge Gesichter sehe er immer häufiger bei Beerdigungen in dem osteuropäischen Land, die er nicht ebenso nicht nur beruflich, sondern manchmal auch als Privatperson besucht. Diese seien an der Tagesordnung: „Zuletzt war ich in Lwiw auf einer Doppelbeerdigung. Aus Kapazitätsgründen. Eine Beerdigung pro Tag und Kirche reicht in Großstädten leider manchmal einfach nicht mehr“, sagt er, „Das zeigt die schreckliche Dimension der Todesfälle und den hohen Preis, den die ukrainische Gesellschaft für ihre Freiheit zahlt.“

Die Ungerechtigkeiten beginnen jedoch nicht erst mit dem Tod: „Ich hatte einen guten Freund. Wir wollten uns nach Langem mal wieder treffen“, erinnert sich Ritter. „Ich musste das Treffen wegen meines Zeitplanes nach hinten verschieben. Es kam nie zustande. Er wurde eingezogen.“ Ritter zögert. Dann fügt er hinzu: „Vielleicht war es eine Fehlentscheidung von mir, zu verschieben, aber es ging nicht anders.“ Er hat seinen Freund und ehemaligen Mitbewohner trotz Kriegsdienst noch einmal wiedersehen können, auch wenn es schwierig gewesen ist, „sogar für mich als Fotojournalist“. Der Normalfall sei das aber nicht. Wer spontan eingezogen wird, ist oft sehr schwierig zu treffen, da enorm viele Verpflichtungen und Limitationen an der Tagesordnung stehen.

Die Ruhe nach dem Sturm

Die Erfahrungen sind nicht leicht zu verarbeiten, sagt der Fotograf. Müsste er das ganze Jahr den teils schweren Alltag in der Ukraine im Krieg als Fotograf begleiten, würde er möglicherweise daran zugrunde gehen. Umso mehr freue er sich, mit seiner Arbeit Preise zu gewinnen. Preisgelder und Stipendien sind eine tolle Bestätigung der eigenen Arbeit und helfen, dass ich mich auch in Zukunft, mit der nötigen Tiefe, freien Projekten widmen kann“, erzählt er.

Junge Studenten der Kyiv Polytechnic University bei einem Militärtraining im Schnee.
Junge Studenten der Kyiv Polytechnic University nehmen am 19. November 2022 an einem Militärtraining im Schnee teil. Viele von ihnen zum ersten Mal. © Fabian Ritter // DOCKS Collectiv

„Ich glaube, Dortmund ist nicht immer der Ort, wo man komplett abschalten kann“, sagt er und lacht, „aber klar, man hat immer seine Oasen, und da weiß ich ganz genau, wo die in Dortmund liegen“. Besonders wichtig seien für ihn die Verbindung und der Austausch mit den vier anderen Menschen, mit denen er das Fotografie-Kollektiv 'Docks' gegründet hat. Es ging aus ehemaligen Studienfreunden hervor, die sich schon beim gemeinsamen Fotografie-Studium an der Fachhochschule in Dortmund zusammengefunden haben.

Ein anderer Wohlfühlpunkt für Ritter ist die Musik. Schon früh habe er leidenschaftlich fotografiert und musiziert. „Ich hatte aber mit der Kamera mehr Talent“, sagt er. Heute freut er sich über jedes Konzert, das er besuchen kann, deutsch, englisch wie ukrainisch. Ritter hört am meisten Indie-Rock, aber auch andere Genres, wie beispielsweise die ukrainische Rapperin „Alyona Alyona“, die er direkt empfiehlt.

„Was ich aber am meisten an meinen Pausen in Deutschland schätze, ist, einfach mal schlafen zu können ohne Luftalarm und dass die Infrastruktur funktioniert. Wasserversorgung, funktionierende Heizung, Elektrizität sind leider in der Ukraine alles andere als selbstverständlich“, sagt er mit gehobenen Augenbrauen.

Was bringt die Zukunft?

„Und ich denke, wir sollten als Gesellschaft wirklich viel dafür tun, dass wir auch in Zukunft die Menschen in der Ukraine entschieden unterstützen“, sagt Fabian Ritter. Die Menschen sollten außerdem genau hinschauen; auf Dinge, die bereits mitten in Europa passieren: auf hybride Kriegsführung, Spionagefälle, politische Einflussnahme, Sabotageakte. Und besonders den brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine, der sich oft auch rücksichtslos und systematisch gegen die Zivilbevölkerung richtet. Mit seinen Fotografien, meistens aufgehängt am Alltagsleben und Schicksal der Jugendlichen, möchte er dazu beitragen, dass dieser Krieg in Europa und seine Folgen nicht vergessen werden.

„Gerade in Deutschland können wir die kleinsten Probleme sehr gut hochschaukeln“, sagt Ritter. Vor seiner Kamera würden wiederum Menschen landen, die sich freuen würden, nur die Probleme zu haben, die wir in Deutschland haben. „Mit den Fotos möchte ich diese Probleme und Schicksale sichtbar machen. Und gleichzeitig an alle appellieren, hinzusehen. Dass man sich der Privilegien bewusst wird, die wir in anderen Ländern Europas haben. Dass wir glücklicherweise in Frieden leben können. Und deshalb dürfen wir nicht vergessen, was tagtäglich nur etwa 1000 Kilometer entfernt von uns an Ungerechtigkeiten geschieht.“

Doch es gibt sie noch, sagt Fabian Ritter, die guten Enden, auch wenn es wenige seien. Wie er uns verrät, leben Ivan und Lena, das junge Paar auf seinem Siegerfoto, inzwischen in Sicherheit in Düsseldorf. Ivan hat einen schweren Fluchtweg auf sich genommen, hat dabei sogar einige tiefe Schnitte in den Armen von seiner Flucht querfeldein davongetragen. Doch sind der junge Ukrainer und die Düsseldorfer Schülerin nach etwa einem halben Jahr endlich wiedervereint.