Nazis töteten gezielt Kinder in Dortmund Historiker haben einen schlimmen Verdacht

Die geheime Tötungsmaschine von Aplerbeck
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„Sterbefall“ steht in altdeutscher Schrift oben auf dem roten Formular. Darunter das zuständige Standesamt: Dortmund-Aplerbeck. Es folgt der Name der Toten: Gerda. Geboren am 2. Februar 1942. Gestorben am 11. Mai 1943. Das Baby aus der Union-Vorstadt war evangelisch und Kind eines Eisenwerkarbeiters. Fast zynisch: Das vorgedruckte Wort „ledig“ ist unterstrichen. Dabei ist für Gerda in der Provinzialheilanstalt in Aplerbeck ein viel zu kurzes Leben brutal zu Ende gegangen. Sie litt an Microcephalie, einer Kleinköpfigkeit, und auch an Ruckkrämpfen und starb nach den Angaben auf dem Dokument durch „Status epilepticus“. Ein epileptischer Anfall.

Doch schon die Angabe zu Gerdas Todesursache vertuscht die Straftat. Die allgemein gehaltene Unterschrift „Ärzte der Provinzialheilanstalt“ täuscht über konkrete Täternamen hinweg. Denn alle Verdachtsmomente besagen: Gerda wurde ermordet. So, wie wohl mehrere hundert andere kleine und behinderte Kinder in den Anstalten in Aplerbeck und im sauerländischen Marsberg in jener Zeit - und geschätzt 5000 in weiteren 30 ähnlichen Einrichtungen reichsweit. Die Mörder: Ärzte und Krankenpflegerinnen. Ihr Mordwerkzeug: Tödlich wirkende medizinische Eingriffe und Injektionen. Direkter Auftraggeber war Hitlers Reichskanzlei in Berlin.

Hitlers Erlass:

Die Geschichte dieses brutalen und zielgerichteten Massenmordes ist heute großenteils aufgeklärt. Am 1. September 1939 überfällt die Wehrmacht Polen. Der 2. Weltkrieg beginnt. Am gleichen Tag ordnet der „Führer“ in einem persönlichen Erlass an: „Nach menschlichem Ermessen“ sei „unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod“ zu gewähren. Parallel wird ein „Reichsausschuss“ in der Berliner Reichskanzlei gebildet. Ärzte und Hebammen müssen ab sofort bei den Gesundheitsämtern neugeborene Kinder melden, die Behinderungen aufweisen. In Deutschland werden für diese Klientel „Kinderfachabteilungen“ gebildet.

Die bieten betroffenen Eltern zwar neuartige Heilmethoden und Betreuungen an. Doch stimmen die Eltern einer Einweisung nicht zu, drohen ihnen Sanktionen. Tatsächlich dienen die Abteilungen, die in Krankenhäusern und Heilanstalten gegenüber der übrigen Belegschaft völlig abgeschlossen arbeiten, der Tötung. Vom „Reichsausschuss“ erhalten sie in jedem Einzelfall die Anweisung dazu. Hitler will verhindern, dass „Ballast-Existenzen“ und unproduktive „Lebensunwerte“ die NS- „Volksgemeinschaft“ belasten. Euthanasie nennt das sein Regime. Zwei dieser „Kinderfachabteilungen“ arbeiten zwischen 1940 und 1941 im Sauerland und nach 1941 im Ruhrgebiet.

Der Erlass Hitlers vom 1. September 1939, mit dem er verklausuliert die Euthanasie gestartet hat.
Der Erlass Hitlers vom 1. September 1939, mit dem er verklausuliert die Euthanasie gestartet hat. © LVWL

Der Ermittler:

Frank Scheulen, 64, ist ein bei nordrhein-westfälischen Journalisten bekannter Staatsdiener. Sie schätzen seine Sachkunde und Freundlichkeit und kennen den auffallenden Schnauzbart. Seit kurzer Zeit ist Scheulen in Pension. 25 Jahre hat der Erste Kriminalhauptkommissar als Sprecher des Landeskriminalamtes gedient. Er weiß viel über aktuelle und historische Verbrechen in der Region und längst auch über die, die jetzt mehr als 80 Jahre zurückliegen.

Scheulen erinnert sich: „Es war im Herbst 1989. Ich war 29 Jahre alt, hatte schon sieben Jahre beim Staatsschutz gearbeitet. Da sollte ich zu meinem Abteilungsleiter kommen. Da geht einem durch den Kopf: Was hast du falsch gemacht?“ Statt des erwarteten Rüffels gibt es Lob für die bisher getane Arbeit - und einen Auftrag: Der Beamte soll als verantwortlicher Ermittler klären, ob es zwischen 1940 und 1945 in den zur Nazizeit sogenannten Heilanstalten von Aplerbeck und Marsberg zu Massenmorden an Klein- und Kleinstkindern gekommen ist. „Ich habe die Übernahme des Auftrags abgelehnt. Das tut man selten. Aber im Bereich der Tötungsdelikte hatte ich einfach keine Erfahrung. Diese Bedenken wurden dann weggewischt“.

In Scheulens Büro wird es 1989 bald eng. 25 bis 30 Pappkisten mit Dokumenten und alten Fotos stapeln sich. Die Kartons, die fünf Jahrzehnte in teils feuchten Kellern und Dachböden des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe (LWL) gelagert haben, geben einen muffigen Geruch ab. Aber es sind die Fotos der Opfer, die dem Fahnder die nächsten Jahrzehnte in Erinnerung bleiben. Bis heute.

Frank Scheulen vom Landeskriminalamt NRW war damals der Ermittler in Sachen Aplerbeck und Marsberg.
Frank Scheulen vom Landeskriminalamt NRW war damals der Ermittler in Sachen Aplerbeck und Marsberg. © privat

Die Akten:

Neben dem Polizeipräsidium in Münster befindet sich in der Jahnstraße das Archiv des Landschaftsverbandes. Jens Gründler arbeitet beim LWL als verantwortlicher Historiker für Sozialgeschichte. Er hat aus den Regalen die Akten der Opfer der Anstalten von Aplerbeck und Marsberg herausgesucht und legt uns die Dokumente mit den roten Totenscheinen vor. Den von Doris aus Gelsenkirchen, katholisch, im Oktober 1939 geboren und im Mai 1944 gestorben, erkrankt an „Idiotie“ und angeblich verstorben durch epileptischen Anfall.

Den des nur zehn Monate alt gewordenen Heinrich aus Dortmund-Rahm. Wieder taucht die Diagnose „Idiotie“ auf. Heinrich soll eine Bronchitis nicht überlebt haben. In diesem Stapel ist auch der Zettel über das Ableben von Gerda, der Eisenwerkerstochter aus der Union-Vorstadt, zu finden.

„Getötet wurde mit Beruhigungsmitteln“, sagt Gründler, „mit einem Sedativum, in der Regel Luminol und so überdosiert, dass die Kinder vor sich hin dämmerten und an Herzstillstand und Lungenentzündungen starben“. Ein heimtückisches Mordwerkzeug: An sich harmlos, war der missbräuchliche Einsatz des Medikaments kaum nachweisbar. Luminol wurde als Beruhigungsmittel genutzt.

Überdosiert in Kombination mit zeitgleicher Unterernährung führte es jedoch zur Lungenentzündung und binnen Stunden zum Tod. Lag bei behinderten Kindern dagegen Epilepsie vor, löste ein plötzlicher Entzug Dauerkrämpfe und Komplikationen aus. Auch sie starben daran. Nazi-Ärzte hatten die gewünschten tödlichen Wirkungen 1940 in Leipzig an 60 Patienten ausprobiert.

Die Rede Karl Teppes:

Es ist 1983. Die Vielzahl der dokumentierten Sterbevorgänge und der zugehörigen Patientenakten weckt in LWL-Landesdirektor Herbert Neseker einen Verdacht. Konnten das wirklich nur natürliche Todesfälle gewesen sein? Noch ahnt niemand, dass es im Dritten Reich einen tausendfachen Mord an Kleinkindern und sogar Babys gab. Neseker beauftragt das Provinzialinstitut, die wissenschaftliche Forschungseinrichtung des Landschaftsverbandes, mit der Untersuchung der Verbandsgeschichte.

Institutsleiter Karl Teppe sorgt im Sommer 1989 für den großen Schock. Er sagt in einem Vortrag, es könne zwischen 1939 und 1945 in den Häusern des Verbandes zu Tötungshandlungen gekommen sein. Eine Informationsbroschüre des LWL spricht später von einem „Massenmord auf dem Dienstweg“.

Der Landschaftsverband, der die Brisanz der Rede erfasst, informiert am 18. August 1989 die Zentralstelle zur Bearbeitung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen bei der Staatsanwaltschaft in Dortmund. Die Anklagebehörde beauftragt das Landeskriminalamt in Düsseldorf mit Ermittlungen. Sie werden gegen Dr. Sengenhoff und andere wegen Mordes und Beihilfe zum Mord geführt. Aktenzeichen 45Js 44/89.

Damit stehen Fragen im Raum: Dortmund galt schon immer als ein Tatort von NS-Verbrechen. Tage vor Kriegsende haben sie in der Bittermark und im Rombergpark fast 500 Menschenleben gefordert. Die nur knapp vereitelten Pläne des südwestfälischen Gauleiters, auf der tiefsten Sole der Schachtanlage Gottessegen 30 000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene einzumauern, zu ertränken und zu ersticken, sind in den einschlägigen Primavesi-Akten hinterlegt.

Auch die Euthanasie an Erwachsenen in Aplerbeck ist bekannt, von wo aus Behinderte ins hessische Hadamar in den Gaskammer-Tod geschickt wurden. Jetzt kommt dieser weitere Vorgang dazu: Wie viele Euthanasie-Tötungen an Kleinkindern und Säuglingen hat es in Aplerbeck und Marsberg gegeben? Wer war es, der 50 Jahre zuvor solche Massaker beging?

Dr. Jens Gründler vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Dr. Jens Gründler vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe © LVWL

Die genaue Zahl der Opfer ist Spekulation. Gründler verweist auf den ehemaligen LWL-Institutsleiter Bernd Walter, der für Marsberg eine Zahl von 60 Kindern ausgemacht hat, „bei der er mit Sicherheit davon ausgeht, dass sie umgebracht wurden“. Für Dortmund habe der Experte 260 oder 270 Mordopfer genannt. Kripomann Scheulen zitiert dagegen aus eigenen Unterlagen. „Nach unseren Ermittlungen sind von November 1940 bis 31.12. 1941 in der Anstalt Marsberg 80 Kinder verstorben“.

Genaue Tötungszahlen seien nicht verifizierbar. Für Dortmund liegen dem Landeskriminalamt die Daten des Standesamtes Aplerbeck für die Anstalt vor. 155 Todesfälle bei Kindern bis sechs Jahren zwischen November 1941 und Mai 1945. „Allein 1943 sind von diesen Kindern 78 gestorben. Das war eine sehr hohe Zahl“ - und damit ein zugespitzter Verdacht.

Vergebliche Fahndung:

Die Fahndung nach möglichen Tatverdächtigen erweist sich für das Landeskriminalamt als Herausforderung. Die zwei Dutzend Kisten in Scheulens Büro warten im Herbst 1989 auf Bearbeitung. „Wir haben zusammen mit der Staatsanwaltschaft in Dortmund überlegt: Wie gehen wir mit diesen Massendaten um?“, sagt Frank Scheulen, als er uns die Geschichte seiner zweijährigen Ermittlungen erzählt. „Ich habe einige Karteikästen beschafft, das war unsere damalige Excel-Tabelle“.

Bald gewannen er und ein ihm zugeordneter Kollege erste Erkenntnisse. In Aplerbeck und Marsberg hatten jeweils mehrere hundert Bedienstete gearbeitet. Das ergaben Listen, beschrieben eher in alter deutscher Handschrift als mit Schreibmaschine. „Wir haben versucht, diese Personen zu identifizieren und ihren aktuellen Aufenthaltsort zu finden. Unser Ziel war es, alle zu vernehmen, die wir 89/90 noch als lebend erkennen konnten. Als Zeugen oder wie auch immer“.

Dr. Werner Sengenhoff war Anstaltsarzt in Aplerbeck und später in Marsberg.
Dr. Werner Sengenhoff war Anstaltsarzt in Aplerbeck und später in Marsberg. © LWL-Archiv

Sie fragten bei Einwohnerämtern an, „Personenstandsurkunden über Heiraten und Sterbefälle sollten uns zugesandt werden“. Sie befragten in Paderborn katholische Ordensschwestern, die einst in Marsberg tätig waren, stießen unter ihnen auf „ganz fitte“ und welche, die sich nicht mehr erinnern konnten. Ohne jedes Ergebnis.

„Parallel haben wir einen Blick in die Patientenakten geworfen. Das war etwas, was mich mitgenommen hat. Die Akten über ganz kleine Kinder, auch Säuglinge, die körperlich missgebildet waren. Wir haben überlegt, ob wir die Akten durch Gerichtsmediziner überprüfen lassen“. Da habe die Staatsanwaltschaft in Dortmund entschieden, abzuwarten, „wie wir mit dem Personal weiterkommen“. Auch auf Exhumierungen sollte nach so langer Zeit verzichtet werden.

Die Luminol-Spur:

Die Sichtung der Personalakten und die Rückantworten der Meldeämter ergaben: Viele der als Zeugen oder Beschuldigte Gesuchten lebten nicht mehr. Auch der in der Ermittlungsakte mit Namen genannte Werner Sengenhoff, ein NSdAP-Mitglied seit 1931, der als Arzt in Marsberg die Kinderfachabteilung betreute, war Ende 1941 zur Wehrmacht gewechselt und im Dezember 1944 gestorben.

Scheulen hat sich an dessen Marsberger Grabstein überzeugt. Gegen Tote kann nicht mehr ermittelt werden. Doch in Patientenakten finden die LKA-Beamten eine wichtige andere Spur. Der ehemalige Ermittler: „Behandlungsschritte waren eingetragen, teilweise verabreichte Medikamente. Oft tauchte Luminol auf. Aus anderen Verfahren war bekannt, dass Luminol eingesetzt wurde, um Kinder zu töten“.

Die Übereinstimmung ergab einen ersten Hinweis auf die Mordwaffe. Gereicht hat das nicht. „Unsere Fragen zu den Patientenakten waren ja: Ist ein Kind auf natürlichem Weg verstorben, aufgrund einer Erkrankung oder schwacher Abwehrkräfte? Oder ist das Kind gestorben, weil man ihm die Überdosis Luminol verabreicht hatte? Das war nach 50 Jahren nicht mehr zu klären“.

Beim Landschaftsverband teilt Jens Gründler solche Vorsicht: „Die Aufnahme in die Kinderfachabteilung war nicht zwangsläufig ein Todesurteil. Es gibt Kinder, die das überlebt haben. Und es gibt Kinder, bei denen man davon ausgehen muss, dass sie natürlich verstorben sind“.

Dieser in Aplerbeck ausgestellte Totenschein stammt aus dem Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe in Münster.
Dieser in Aplerbeck ausgestellte Totenschein stammt aus dem Archiv des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe in Münster. © LVWL-Archiv

Eine Dienstreise:

Noch 1989 kommt Frank Scheulen die Zeitgeschichte zur Hilfe. Am 9. November fällt die Mauer. Die Ostgrenze öffnet sich. Die DDR ist kein abgeschottetes, westdeutschen Ermittlern gegenüber feindlich gesonnenes Land mehr. „Über Nacht waren für uns neue Möglichkeiten da. Wir wussten, in Potsdam gibt es ehemalige Stasi-Archive, die Informationen über Hitlers Reichsausschuss und die Kinderfachabteilungen hatten“.

Eine Dienstreise ist fällig. Der Düsseldorfer LKA-Mann erinnert sich nur mit gemischten Gefühlen an die Autofahrt, die er wenige Wochen nach der Einheit 1990 mit dem zuständigen Dortmunder Oberstaatsanwalt Klaus Schacht unternommen hat. Scheulen war beim Staatsschutz tätig. Diesen Beamten war jeder Kontakt mit oder in die DDR untersagt gewesen. Aus Gründen der persönlichen Sicherheit. Nach Berlin war er immer nur geflogen. Jetzt also: Im Auto durch den neuerdings nicht mehr existierenden eisernen Vorhang. „Beklemmend“ sei das gewesen. „Beruhigt“ hat ihn erst die Rückfahrt, als er in Helmstedt alten bundesdeutschen Boden erreichte.

Dabei war der Ost-Ausflug erfolgreich. In Potsdam sind sie auf geöffnete Tresore und frei zugängliche Regale gestoßen. Schacht und Scheulen konnten Einblick in die Stasi-Papiere zu den Euthanasiefällen der Nazizeit nehmen. „In diesen Archiven gab es Unterlagen, aus denen man ersehen konnte, dass der Reichsausschuss Weihnachtsgratifikationen an die Bediensteten der Kinderfachabteilungen gezahlt hatte“. Scheulen sagt den Satz so, als könne er das nicht fassen: „Im Grunde genommen: Weihnachtsgeld für Tötungshandlungen“.

Zwei Beschuldigte:

150 Blatt hatte die Akte mit der Signatur Nr. 62 Ka 1 242. Sie trug die Aufschrift „Kanzlei des Führers. Reichsbeihilfen für den Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingt schwerer Leiden“. Die Namen der Geldempfänger waren enthalten.

Der vom Dr. Sengenhoff natürlich, der 400 Reichsmark erhalten hatte. Aber auch die von „braunen Schwestern“, die nach Marsberg und Aplerbeck unmittelbar durch den „Reichsausschuss“ abgeordnet worden waren und die möglicherweise tödliche Behandlungen vorgenommen hatten.

So hatten die Pflegerinnen Bock und Bielefeld, geht aus den heute im Bundesarchiv liegenden Unterlagen hervor, je eine zweistellige Reichsmark-Gratifikation bekommen. Nach der Erwähnung von Luminol in den Patientenakten war das eine zweite wichtige Fährte. Würde wenigstens sie die Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und LKA weiter bringen?

Scheulen machte mehrere Frauen ausfindig. Die Pflegerin Bock in Dortmund konnte er nicht mehr vernehmen. Sie starb vorher, hatte sich aber zuvor gegenüber einem Autor auf vage Andeutungen eingelassen: „Luminal war viel da, sehr viel“. Und auch: „Es war da etwas. Eine dunkle Sache. Aber es ist nicht zu greifen“. 1991 saßen zwei andere Pflegerinnen Scheulen gegenüber. „Die eine Dame, in Marsberg tätig, hat zwar ausgesagt, aber keine Erinnerung an eigene Tötungsdelikte. Sie hat alles auf andere geschoben. Die andere, aus Aplerbeck, lebte bei Hannover. Wir sind hingefahren. Sie verweigerte die Aussage“.

Die Gesamtbilanz seiner Bemühungen stimmt ihn nicht erst heute nachdenklich: „Zwei Beschuldigte. Zwei Pflegerinnen. Keine Ärzte. Eine dürftige Ausbeute angesichts der Vielzahl von Personen“, sagt Ermittler Scheulen. Aber „damit mussten wir umgehen. Im Herbst 1991 habe ich den Schlussvermerk geschrieben“. Oberstaatsanwalt Schacht hat das Verfahren 1993 eingestellt. Keine Anklage.

In diesem Gebäude war zur Nazizeit die Kinderfachabteilung der "Heilanstalt Aplerbeck" untergebracht.
In diesem Gebäude war zur Nazizeit die Kinderfachabteilung der "Heilanstalt Aplerbeck" untergebracht. © Gelsenzentrum e.V.

Eine neue Fährte:

Auch kein Ende? Da ist eine Vermutung. Sie hat sich in den letzten Jahren entwickelt. Danach könnte die Zahl der Opfer der Kinder-Euthanasie höher als bisher angenommen liegen. Sie stammt aus den Etagen des Landschaftsverbands Westfalen Lippe in Münster. Als Historiker Jens Gründler darüber berichtet, erwähnt er noch einmal die gemeinsame Geschichte der beiden Anstalten im Sauerland und auf Dortmunder Stadtgebiet.

1940 und 1941 wurden kleine Kinder unter dem Arzt Dr. Sengenhoff in Marsberg gemordet. Dann machten sich Gerüchte über die Tötungen in der ländlichen Gegend breit. Aus Sengenhoff wurde im Straßengespräch der „Dr. Sensenhoff“. In Münster hielt Kardinal Graf Galen von der Kanzel aus die Predigt „Jesus weint“. Er beklagte darin mit gezielten Worten ihm bekannt gewordene Morde an erwachsenen Behinderten.

Das machte die Lage für die Nazis ungemütlich. Sie schlossen in der zweiten Jahreshälfte 1941 die Marsberger „Kinderfachabteilung“. Doch alles passierte nur, um unter weit größerer Geheimhaltung die gleiche Tötungsmaschine in Aplerbeck weiterzubetreiben.

Dann erzählt Gründler von Auffälligkeiten: „Die Kinderfachabteilung in Marsberg wird offiziell geschlossen. Aber die Kinder werden nicht nach Aplerbeck verlegt, das Wissen um die Tötungen in Marsberg soll nicht sofort die Runde machen. Man belässt sie in Marsberg. Und dort sterben sie in den folgenden Jahren weiter.“

Das finde sich in den Akten. Die roten Scheine seien fast vollständig überliefert. Wie diese Kinder starben? Warum? Wer verantwortlich war? Das ist unklar, „Sengenhoff war ja nicht mehr da“. Gründler: „Diese Fragen haben sich gestellt, obwohl oder weil gerade das Narrativ in Marsberg hieß: Der Widerstand sorgte dafür, dass das Sterben aufhörte“.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 24. November 2024.