Warnung vor Alkohol in der Schwangerschaft: Schon ein Schluck kann eine Behinderung auslösen

© Christin Mols

Warnung vor Alkohol in der Schwangerschaft: Schon ein Schluck kann eine Behinderung auslösen

rnFetale Alkohol-Spektrum-Störung

Ein einziges Glas Wein in der Schwangerschaft kann ein Kind für immer schädigen, warnt der Elternverein FASD. Doch: 60 Prozent aller Frauen trinken Alkohol in der Schwangerschaft.

Dortmund

, 23.12.2019, 11:30 Uhr / Lesedauer: 4 min

Eins vorweg: Es geht hier nicht allein um alkoholabhängige Frauen, die ihren Drang auch in der Schwangerschaft nicht unter Kontrolle haben. Und es geht auch nicht nur um Drogensüchtige, die ihr Verlangen bis zum nächsten Schuss mit Hochprozentigem betäuben. Nein. Es geht im Zweifel um ein Glas Wein, ein Sektchen, einen bunten Cocktail.

„Ein Schluck ist schon zu viel“, schreibt der Verein FASD Deutschland auf seinem Info-Flyer. FASD steht für Fetal Alcohol Spectrum Disorder, zu deutsch: Fetale Alkohol-Spektrum-Störung. Konsumiert eine schwangere Frau Alkohol, trinkt das ungeborene Kind in vollem Maße mit. Mehr noch: Da das Kind im Mutterleib nur sehr begrenzt Abbauenzyme zur Verfügung hat, ist es dem Alkohol viel länger ausgesetzt als seine Mutter. Das Ungeborene wird in seiner Entwicklung gehemmt und erfährt je nach Reifestadium und Alkoholmenge körperliche und kognitive Schädigungen.

Bei Kindern mit FASD funktionieren oft Organe wie Herz, Gehirn oder Lunge nicht richtig. Außerdem treten bei vielen Entwicklungsstörungen auf, sie haben Probleme in der Schule und sind auch als Erwachsene im Alltag auf Hilfe angewiesen.

Selbsthilfegruppe trifft sich im Mütterzentrum

All das braucht man den Frauen, die an diesem Mittwochvormittag im Mütterzentrum in der Hospitalstraße in Dorstfeld mit Kaffee und belegten Brötchen um einen Tisch herum sitzen, nicht zu erzählen. Sie kennen sich zum Thema besser aus als Experten, denn sie haben ein oder mehrere Kinder mit FASD in ihren Familien aufgenommen und bewältigen die Herausforderungen, die diese Behinderung mit sich bringt, jeden Tag aufs Neue.

„Der Aufklärungsbedarf ist noch riesig“, sagt Bettina Kremer. Viele Frauen würden die Gefahr unterschätzen. 2001 nahm die Mutter von drei leiblichen Söhnen ihr erstes Pflegekind auf. Zwei weitere folgten. Bei allen Dreien wurde später FASD diagnostiziert. Informationen dazu habe es zunächst kaum gegeben, sie suchte sich eine Selbsthilfegruppe und gründete 2016 schließlich ihre eigene: die uPS FASD (Unabhängige Pflegeeltern Selbsthilfegruppe FASD Dortmund).

„Das Mädchen lebt in seiner eigenen Welt. Sie erfindet Geschichten und hält sie selbst für wahr“, berichtet eine Teilnehmerin über ihre Pflegetochter. Eine andere sagt, man könne ihren Pflegesohn nicht außer Augen lassen: „In einem Moment schlägt er die Schranktür ein und kurz darauf ist er ganz lieb und kuschelbedürftig.“

Körperliche Anzeichen und Verhaltenauffälligkeiten

Die einen haben erst nach Jahren erfahren, dass das aufgenommene Kind FASD hat, andere wussten es schon sehr früh. Eine Frau erzählt: „Uns war klar, dass der Junge nicht ganz gesund sein könnte. Wir wussten, dass die Eltern Trinker waren. Mit 3,5 Jahren ließen wir ihn auf FASD testen.“

Mit der Diagnose seien sie und ihr Mann wie vor den Kopf gestoßen gewesen. Gleichzeitig habe sie etwas Gutes gehabt, denn sie brachte eine Gewissheit mit sich: „All die Zweifel, wir wären keine guten Eltern, waren zerschlagen. Wir haben nichts falsch gemacht. Und auch das Kind ist nicht schuld. Es ist nicht faul, es ist nicht ungezogen. Es hat FASD.“

Der Arzt, der die Diagnose gestellt hat, ist Dr. Reinhold Feldmann. Er hat eine FASD-Ambulanz in der Tagesklinik Walstedde in Drensteinfurt im Münsterland aufgebaut – eine von wenigen Stellen für die FASD-Diagnostik in Deutschland. Jährlich sehen er und sein Team etwa 2000 FASD-Fälle.

Der Psychotherapeut erklärt, dass sich FASD sowohl durch Verhaltensauffälligkeiten als auch durch körperliche Anzeichen bemerkbar mache. So seien bei den Kindern beispielsweise oftmals die Augen verhältnismäßig klein und die Oberlippe sehr schmal.

„60 Prozent aller Frauen trinken in der Schwangerschaft weiter“

„Beim Verhalten fällt auf, dass sie häufig unruhig und rastlos sind. Oft sind sie naiv, distanzlos, verleitbar, können Risiken nicht einschätzen und bringen sich nicht selten in Gefahr. Dazu kommt, dass sie aus Erfahrungen nicht lernen und die gleichen Fehler immer wieder machen.“ Für Eltern sei das oft zermürbend – wobei etwa 80 Prozent aller FAS-Kinder aus ihren Herkunftsfamilien genommen würden und bei Pflegeeltern aufwüchsen.

In Deutschland komme auf 330 Kinder ein Kind mit sichtbaren Anzeichen für FASD (Vollbild des Syndroms). Eine schwächere Schädigung weist bereits eins von 100 Kindern auf. Das ist viel, findet auch Dr. Reinhold Feldmann.

Er sagt: „60 Prozent aller Frauen trinken in der Schwangerschaft weiter. Dabei reicht es aus, wenn sich die Schwangere einmal eine Flasche Wein aufmacht. Es existiert kein risikoloser Alkoholgrenzwert in der Schwangerschaft.“ Jährlich kommen in Deutschland 6000 betroffene Kinder auf die Welt.

Abgesehen von der Erstdiagnose, kommen die Familien oftmals auch im weiteren Verlauf zu Dr. Reinhold Feldmann, um sich beraten zu lassen. Sie wollen wissen, welche begleitenden Therapien der Familie insgesamt Entlastung verschaffen könnten. Wie die Pflegeeltern in der Selbsthilfegruppe uPS berichten, fühlen sie sich in Dortmund oft allein gelassen und beklagen strukturelle Schwachstellen. „Beim Thema FASD hinkt Dortmund anderen Städten wie Düsseldorf hinterher“, sind sie sich einig.

Mit einer Plakat-Kampagne hat das Dortmunder Gesundheitsamt auf die oft unterschätzten Gefahren durch den mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft aufmerksam gemacht. Die Plakate hingen unter anderem in der U-Bahn-Station Kampstraße.

Mit einer Plakat-Kampagne hat das Dortmunder Gesundheitsamt auf die oft unterschätzten Gefahren durch den mütterlichen Alkoholkonsum in der Schwangerschaft aufmerksam gemacht. Die Plakate hingen unter anderem in der U-Bahn-Station Kampstraße. © Christin Mols

FASD-Netzwerk Dortmund gegründet

„Das Jugendamt setzt sich immer wieder auch mit dieser speziellen Thematik auseinander“, schreibt die Stadt auf Anfrage der Redaktion. Die Schwierigkeit dieser Spektrum-Störung liege in der breit gefächerten Ausprägung. „Jedes Kind muss individuell und inklusiv mit seinen Ressourcen und Herausforderungen betrachtet werden. Das Jugendamt Dortmund widmet sich dieser Thematik daher genauso wie anderen Beeinträchtigungen von Kindern.“ Über den Pflegekinderdienst Dortmund werden aktuell rund 40 Kinder mit FASD betreut.

Auf Initiative der Pflegeeltern wurde Ende 2018 das Dortmunder FASD-Netzwerk gegründet. Es setzt sich aus verschiedenen Vertretern von Fachkräften, Institutionen und betroffenen Pflegeeltern zusammen.

Unter der Federführung des Jugendamtes und der Lebenshilfe Dortmund soll das Netzwerk Informationen und Erfahrungen bündeln, Versorgungslücken und Handlungsbedarfe aufzeigen und neue Angebote entwickeln. „In der Öffentlichkeit muss dringend ein größeres Bewusstsein für FASD geschaffen werden“, sagt Melanie Schütte, Fachberaterin bei der Lebenshilfe.

120 City-Light-Poster in der Stadt

Ein besonderes Anliegen des Netzwerkes ist es, Fachkräfte unterschiedlicher Berufsgruppen für die Schwierigkeiten der Betroffenen im alltäglichen Leben zu sensibilisieren und dem Auftreten von FASD durch Aufklärung entgegenzuwirken. Erst im Herbst hingen – dank finanzieller Unterstützung der Sparkasse Dortmund – in der Stadt zwei Wochen lang insgesamt 120 City-Light-Poster in rund 25 U-Bahnhöfen, um auf die Gefahr von Alkohol in der Schwangerschaft aufmerksam zu machen.

„Das war eine tolle Sache“, sagt Bettina Kremer, die sich noch viel mehr Aufmerksamkeit für das Thema wünscht. Von ihren drei Pflegekindern leben aktuell noch zwei bei ihr.

Der Älteste ist inzwischen 19 Jahre alt und wohnt in einer FASD-Intensiveinrichtung. „Man muss viel Liebe in sich haben und fest im Leben gesattelt sein, um die Herausforderungen zu bewältigen und zwischendurch nicht zu verzweifeln“, sagt die 57-Jährige. Ihre Selbsthilfegruppe sei da eine gute Stütze.

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