Bach, Mozart, Mendelssohn-Bartholdy – die Liste der Komponisten, mit denen man den Hörder Musiker Friedrich Eduard Wilsing in Verbindung bringen kann, liest sich namhaft. Durch neuerliche Entdeckungen zu Wilsings Biografie verdichtet sich das Bild eines musikalischen Genies, das zu Unrecht ein Schattendasein neben seinen bekannten Kollegen fristet.
2016 stieß Gerhard Stranz (73), Sozialarbeiter im Ruhestand, zum ersten Mal auf den romantischen Komponisten Eduard Wilsing. Als einer von 300 Sängern wirkte er an der Wiederaufführung des Stücks „De Profundis“ aus der Feder des gebürtigen Hörders im Dortmunder Konzerthaus mit. „Das war ein beeindruckendes Erlebnis, an einem 16-stimmigen Vokalwerk beteiligt zu sein“, erzählt Gerhard Stranz.
Bach war ein großes Vorbild
Aus Interesse hätte er sich dann an den Hörder Heimatforscher Willi Garth gewandt, der zum 200. Geburtstag Wilsings 2009 eine Schrift über das bis dato schlecht dokumentierte Leben des Hörder Komponisten und späteren Wahlberliners verfasst hatte.
Damals fing er Feuer, so Stranz. Durch seine Nachforschungen hat der 73-jährige Rentner nun dazu beigetragen, eine bewegte Lebensgeschichte und ein mindestens 88 Stücke – Symphonien, Orgelwerke, Klavierstücke, Lieder und Oratorien – umfassendes Werk ans Licht zu bringen. Eine Konzertmatinee vom Verein Hörde international e.V. im Bürgersaal am 19. Februar (Sonntag) um 11.30 Uhr soll erneut den Stellenwert des Komponisten betonen.

Zu Eduard Wilsings Person gibt es unterschiedliche Überlieferungen. Als Junge und junger Mann wird er als Freigeist und Schulschwänzer beschrieben, der sich lieber bis über beide Ohren in Bachnoten vergrub, als das Stadtgymnasium Dortmund zu besuchen. Bei einer ersten Anstellung als Organist in Wesel soll er sich 19-jährig mit dem gesamten Weseler Presbyterium zerstritten haben. In seinen älteren Jahren wird er dann als eher zurückgezogen beschrieben und so hadernd, dass er zu guter Letzt sogar Teile seines Werks verbrannt haben soll.
Laut Gerhard Stranz stimmen diese Darstellungen nur in Teilen. Das Ergebnis seiner Nachforschungen zeichnet ein anderes Bild. Eduard Wilsing wurde 1809 als eines von neun Kindern einer Klavierlehrerin und eines evangelischen Pfarrers in Hörde geboren. Bereits mit sechs Jahren konnte er Klavierspielen und fertigte die ersten eigenen Kompositionen an.

Gerne befasste er sich mit einer Sammlung von Abschriften von Bach-Noten, die der Urgroßvater mütterlicherseits, seinerseits Kantor, aus seiner Zeit in Weimar mitgebracht hatte. Heute sind diese Abschriften die ältesten erhaltenen Dokumente etlicher Bachwerke und im Bach-Archiv in Leipzig ausgestellt. Mit dabei ist eine Komposition von Eduard Wilsing, die dieser in Jugendjahren in den Anhang einer der Abschriften notiert hatte.
Frühe Gewissheit
Kränklich soll Wilsing in jungen Jahren gewesen sein, weshalb die Eltern ihn für das Besuchen des fußläufig fünf Kilometer entfernten Stadtgymnasiums Dortmund in die Familie Bennekämper gaben, die ihr Haus in der Nähe der Schule auf dem Westenhellweg hatte. Doch anstatt gewissenhaft die Schulbank zu drücken, verfolgte der junge Eduard andere Pläne.
Die Bibliothek der musikalisch gebildeten Bennekämpers war gut bestückt und statt seine Nase in Schulbücher zu stecken, wandte sich Wilsing auch hier lieber Bachnoten zu. Gedeckt wurde er bei seiner frühen Abkehr von einer herkömmlichen Schullaufbahn von seinen Gasteltern und dem liberalen Schulreformer und -direktor des Stadtgymnasiums Dortmund Johann Wilhelm Kuithan.
Über eine Zwischenstation in Soest kam Eduard Wilsing dann als 19-Jähriger nach Wesel, wo man ihm eine Stelle als Organist an der Mathena-Kirche angeboten hatte. Kurz bevor er seine Stelle jedoch antreten konnte, wurde diese an einen anderen Bewerber vergeben. „Der war mit zwei Mitgliedern des Presbyteriums verwandt“, erzählt Gerhard Stranz.
Erst nachdem Wilsing geklagt hatte, bekam er die Stelle doch noch. Bis dahin hielt er sich mit Klavier- und Gesangsunterricht über Wasser. Dabei baute er ein Netzwerk auf, das ihm auch in späteren Jahren noch nützlich sein sollte. Immer wieder wurde von Zeitgenossen sein hohes musikalisches Können und Talent betont.
Auf Augenhöhe mit Mendelssohn
Einem Freund aus Wesel folgte Eduard Wilsing dann Anfang der 1830er-Jahre auf dessen Einladung hin nach Berlin. Hier bekam er erstmalig auch echten Kompositionsunterricht bei Ludwig Berger, der auch Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel unterwiesen hatte.
Neben seiner Tätigkeit als Musiker, Musiklehrer und Komponist, half Wilsing Verlegern dabei, Noten zu transkribieren. So entdeckte er die Noten zum Weihnachtsoratorium von Bach wieder und setzte sie für Klavierbegleitung und Chor aus, was die Grundlage zur Wiederaufführung des vergessenen Werkes 1857 durch die Singakademie Berlin führte.
Die Gewissheit, dass die Wiederentdeckung des Weihnachtsoratoriums, das heute wieder fest zum Kanon der Kirchen, Chöre und Konzerthäuser zählt, auf Eduard Wilsing zurückgeht, ist eine der neueren Erkenntnisse von Gerhard Stranz. Generell ist die Quellenlage zu Wilsing nicht umfangreich. Neben der Schrift von Willi Garth hatte der Dortmunder Kulturjournalist Willy Fentsch 1909 zum 100. Geburtstag Eduard Wilsings eine Biografie verfasst.
88 Werke aufgetaucht
In Fentschs Biografie ist die Rede von lediglich zehn Werken, die der Komponist hinterlassen haben soll. Angeblich litt Eduard Wilsing zum Ende seines Lebens unter einer Geisteskrankheit und verbrannte einen Großteil seines Werks. Gerhard Stranz hat mittlerweile 88 erhaltene Werke gefunden. „Ich bin mir sicher, dass er nichts verbrannt hat“, sagt er. Mit Förderungen im fünfstelligen Bereich durch den Kulturetat der Stadt Dortmund, hat er sich dafür eingesetzt, dass die Wilsing-Noten auch für heutige Musiker verständlich aufgeschrieben werden.
Von der Qualität her seien die Stücke hervorragend, erklärt Gerhard Stranz. Eduard Wilsings Tonsprache sei „unmittelbar auf die Seele gerichtet“. Auch Robert Schumann, damals Herausgeber der „Neuen Zeitschrift für Musik“, zeigte sich beeindruckt. Über das Oratorium „De Profundis“ schrieb Schumann, dieses Werk gehöre zu den „größten und gewaltigsten Meisterwerken, die unsere Zeit hervorgebracht“. Bei der Besprechung von Wilsings Werk zog Schumann auch immer wieder Parallelen zu dessen großen Vorbild Johann Sebastian Bach.
Geringere Bekanntheit
Warum also ist Eduard Wilsing im Vergleich zu Zeitgenossen wie Mendelssohn-Bartholdy, Chopin oder Schumann so viel weniger bekannt? Laut Gerhard Stranz liegt es einmal daran, dass Wilsing keine „Rampensau“ gewesen sei. Obwohl er gut im kulturellen Leben Berlins im 19. Jahrhundert mitmischte, fehlte ihm außerdem ein Klangkörper, mit dem er seine Stücke umsetzen konnte. Die Musik allerdings sei faszinierend. „Ein Knaller“, wie Gerhard Stranz meint. Irgendwo zwischen melancholischer Geistlichkeit und hoher Meisterschaft im Tonsatz, sei sie stets transparent und zugänglich.

Die Konzertmatinee am 19. Februar soll dies erfahrbar machen. Hier werden die Mezzosopranistin Pia Viola Buchert und die Pianistin Tatjana Dravenau die hebräischen Gesänge Wilsings ur-aufführen. Der Eintritt für die Matinee ist frei. Gäste werden gebeten, sich per E-Mail anzumelden unter: wilsing@hoerde-international.de. Eine weitere Uraufführung ist für 2024 geplant – da soll Wilsings Symphonie vom Jugendsymphonie-Orchester im Konzerthaus gespielt werden.
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