„Durchaus ungewöhnlich“ Wie Experten die Anklage im Fall Mouhamed D. (†16) einordnen

„Durchaus ungewöhnlich“: Wie Experten die Anklage im Fall Mouhamed D. (†16) einordnen
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Die tödlichen Schüsse auf den 16-jährigen Mouhamed D. haben bundesweit viel Aufmerksamkeit erregt. Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg, hat den Fall von Anfang an verfolgt. Mit der Anklage gegen fünf Polizeibeamte sei der Fall nun in einer neuen Phase, sagt er gegenüber dieser Redaktion.

„Es ist richtig, dass der Fall nicht eingestellt worden ist und nun ein Richter über Schuld und Unschuld im juristischen Sinne entscheidet“, sagt Behr.

Er freue sich nicht, dass die einzelnen Beamten angeklagt werden, aber er sei froh, „dass wir in einem Land leben, in dem ein solcher Fall von einem Gericht entschieden wird.“

Nach seiner Auffassung seien die Anklage mit den unterschiedlichen Vorwürfen sehr differenziert ausgearbeitet worden und mit Blick ins Strafrecht folgerichtig. Der 29-jährige Schütze ist wegen Totschlags angeklagt, drei weitere Beamte, die Pfefferspray und Taser eingesetzt hatten, wegen gefährlicher Körperverletzung. Der Einsatzleiter muss sich wegen der Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung verantworten.

Auch auf den Kriminologen Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie an der juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, macht die Anklage den Eindruck, als sei sie gründlich und differenziert ausgearbeitet worden: „Es ist gut, dass es eine gerichtliche Aufarbeitung geben soll.“

Anklage „durchaus ungewöhnlich“

Ihn habe die Anklageerhebung aber durchaus überrascht, sagt Singelnstein: „Eine Anklage von Polizeibeamten durch die Staatsanwaltschaft ist durchaus ungewöhnlich. Von allen Verdachtsfällen unrechtmäßigen polizeilichen Handelns - das sind etwa 2000 im Jahr - kommen nur etwa 2 Prozent zur Anklage.“

Er finde sie deshalb alles andere als selbstverständlich. „Es hätte mich überhaupt nicht überrascht, wenn der Fall eingestellt worden wäre“, sagt der Kriminologe. Der öffentliche Druck und das Tondokument des Notrufs als zusätzlicher Beweis hätten sicherlich dazu beigetragen, dass der Fall vor Gericht verhandelt werden wird, sagt Singelnstein mit Blick auf den Notruf eines Einrichtungsmitarbeiters, den das Bundeskriminalamt analysiert hat, um den Einsatzverlauf nachzuvollziehen.

Polizeiforscher Rafael Behr sieht in den Gerichtsverfahren nun auch eine Chance: Durch die juristische Aufarbeitung könne bei einigen das Vertrauen in den Rechtsstaat wiederhergestellt werden, die dies zuletzt verloren hatten, glaubt er.

Da Mouhamed D. als Flüchtling aus dem Senegal nach Dortmund gekommen ist, war der Polizei bei Demonstrationen auch immer wieder ein rassistisches Motiv bei den tödlichen Schüssen unterstellt worden.

Polizeiforscher sieht kein rassistisches Motiv

Eine rassistische Komponente sieht Behr in dem Fall jedoch nicht. „Die könnte man annehmen, wenn Polizisten in anderen Situationen mit weißen Menschen anders reagieren würden. Das ist aber nicht der Fall“, sagt der Polizeiwissenschaftler.

Leider sei die Schusswaffe ein übliches Mittel, wenn Polizeibeamte mit Menschen zu tun haben, die mit Messern bewaffnet sind. Das werde auch immer wieder so trainiert. „Die Schusswaffe ist das einzige Mittel, ist die Erzählung der Polizei. Die ultima ratio wird nahegelegt“, sagt Behr.

Über Alternativen zur Schusswaffe werde abseits des Tasers, der auch eine tödliche Wirkung haben kann, und Pfefferspray nicht nachgedacht. Dabei gebe es bereits deeskalierende Alternativen bei den Spezialkräften, die etwa Distanzstangen mit sich führen, sagt der Polizeiforscher. Mit diesen könnten Menschen mit Messern auf Distanz gehalten werden. Er plädiert deshalb für eine bessere Ausbildung und angemessenere Ausrüstung der Beamten.

„Die Polizisten waren in einer Dilemma-Situation, aus der sie nicht mehr herausgekommen sind, weil sich die Situation hochgeschaukelt hat. Polizisten sind darauf trainiert, Situationen schnell zu lösen und nicht abzuwarten.“ Das sei auch ein Grund, warum es in diesem Fall zu einer Eskalation geführt habe.

Nach Angaben des zuständigen Oberstaatsanwaltes Carsten Dombert war die Situation beim Eintreffen der Beamten statisch. Der 16-jährige Mouhamed D. habe mit einem Messer in einer Ecke gehockt. Erst der Einsatz von Pfefferspray und Taser hätten eine Reaktion des Jugendlichen ausgelöst. Bislang ist allerdings noch unklar, wohin und wie schnell sich Mouhamed D. bewegt hat.

Die eingesetzten Beamten hätten letztlich selbst zur Eskalation beigetragen, „wenn auch unbeabsichtigt“, ist sich Rafael Behr sicher. „Der aufgenommene Anruf belegt, dass die Schüsse nur 0,7 Sekunden nach den Tasern angefeuert worden sind“, sagt der Polizeiwissenschaftler.

„Das war Tohuwabohu“

„Das war Tohuwabohu. Da sind irgendwelche Sicherungen durchgebrannt. Jedenfalls war das kein schulmäßiges Vorgehen und offenbar auch keine klassische Notwehrsituation“, sagt Behr. Es gab bei diesem Einsatz keine individuellen Motive, ist er sich sicher.

Auch für den Schützen sei der Fall tragisch, sagt Behr. „Der arme Kerl ist ja nicht mit Vorsatz in den Einsatz gegangen. Er hat sich bestimmt morgens beim Zähneputzen nicht vorstellen können, dass er abends zurückkommt und einen Menschen erschossen hat.“

Die Polizisten hätten alle dienstlich gehandelt. Das sei bei dem Prozess auch zu bewerten, sagt Behr und betont, dass die Anklage nicht mit der Verurteilung der Beamten gleichzusetzen sei. Das unterstreicht auch Tobias Singelnstein. Freisprüche seien allgemein relativ selten. „Bei Verfahren wegen Körperverletzung im Amt kommen sie allerdings deutlich häufiger vor als im Durchschnitt“, sagt der Kriminologe.

Rafael Behr mahnt zu einer ausgewogenen Betrachtung des Falls. „Man darf sich jetzt nicht auf die möglichen Höchststrafen, die im Gesetz angelegt sind, für die Polizisten versteifen“, sagt Behr. Man müsse die Situation der Beamten vor Ort beachten.

Kritik an Politik

Mit NRW-Innenminister Herbert Reul geht der Polizeiwissenschaftler aber hart ins Gericht. Nach Auffassung von Behr habe er sich „in diesem Fall maximal blamiert“, wenn man bedenke, wie widerspruchsfrei er die erste Version der Polizei wiedergegeben habe.

„Der Fall zeigt, dass die Politik gut daran tut, sich mit vorschnellen Beurteilungen solcher Fälle zurückzuhalten“, sagt Singelstein. „Die Polizei hat in solchen Fällen als Beteiligte keinen neutralen, unabhängigen Blick auf das Geschehen. Sie ist durch ihre eigene Rolle beeinflusst und hat gleichzeitig eine relativ starke Deutungsposition“, sagt der Kriminologe.

„Die Salamitaktik, mit der nach und nach mehr Details ans Licht gekommen sind, haben dem Vertrauen in die Polizei sehr geschadet“, sagt auch Behr. „Wer weiß, was gewesen wäre, wenn wir kein objektives Beweismittel gehabt hätten, wie das Telefon, das noch mitlief.“

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