Aufstieg durch Bildung für jedes Kind: Dieses große Versprechen ist eine Basis unseres Schulsystems. Aktuelle Zahlen aus Dortmund zeigen: Das ist eine Lüge.

Dortmund

, 02.07.2019, 03:55 Uhr / Lesedauer: 4 min

In Dortmund hängt der Erfolg in der schulischen Laufbahn extrem davon ab, in welchem Stadtteil ein Kind aufwächst. Dies ist im kürzlich erschienenen „Bericht zur sozialen Lage der Stadt Dortmund“ durch Zahlen belegt. Kinder aus sozial schwächeren Stadtteilen wie der Nordstadt oder Scharnhorst gehen seltener aufs Gymnasium als Kinder aus einkommensstärkeren Stadtteilen wie Kreuzviertel oder Höchsten.

Sind Dennis aus Scharnhorst oder Elif vom Nordmarkt etwa dümmer als Frederik aus dem Kreuzviertel oder Finn von der Kaiserstraße? Klare Antwort: nein. Die Unterschiede haben viele Ursachen.

Ungleiche Bildung führt zu ungleichen Lebenschancen

Die Zahlen zeigen, wie eng sozialer Status und Bildungschancen zusammenhängen. Daniela Stober-Schötteldreier ist kommissarische Leiterin der Kautsky-Grundschule in Scharnhorst-Ost - jenem Stadtteil mit der geringsten Zahl an Kindern, die es aufs Gymnasium schaffen. Sie sagt: „Das Elternhaus ist sehr prägend. Wenn die Eltern sehr ambitioniert sind und sich mit den Kindern hinsetzen und lernen, verbessert das die Chance. Wenn die Eltern wenig Ambitionen haben, ist das Kind auf sich allein gestellt.“

So bleibt auch zum Ende des laufenden Schuljahres an der Kautskystraße diese Wahrheit. Aus der 4a, 4b und 4c werden maximal fünf von 75 Kindern eine Empfehlung für das Gymnasium erhalten. Für die meisten Schüler bedeutet das: Sie starten den zweiten Schritt in ihrer Bildungsbiografie eine Stufe weiter unten als viele andere im Süden oder Westen der Stadt.

Dr. Oliver Döhrmann ist Geschäftsführer von Ruhrfutur, einer ruhrgebietsweiten Initiative, deren Hauptvision mehr Bildungsgerechtigkeit ist. „Wenn man Kinder in der Bildungsbiografie ganz früh in bestimmte Kategorien einsortiert, führt das zu ungleichen Lebenschancen. Nicht nur beruflich und ökonomisch, sondern bei der gesamten Teilhabe.“ Dies reproduziere sich über Generationen. „Und das Bildungssystem kann es nicht ausreichend ausgleichen.“

Die Zahlen

Der Bericht zur sozialen Lage in Dortmund vergleicht unter anderem den prozentualen Anteil der Übergänge von der Grundschule zum Gymnasium in den einzelnen Stadtteilen. Dieser Wert bewegt sich in Dortmund zwischen der Spitze von 86,1 Prozent in Brechten/Holthausen und 12,1 Prozent in Scharnhorst-Ost. Der Dortmund-Schnitt der Schüler, die aufs Gymnasium wechseln, liegt bei 38,5 Prozent.

Im Schuljahr 2016/2017, das Grundlage für den Bericht ist, sind in Dortmund 5486 Schüler aus den allgemeinbildenden Schulen entlassen worden. 175 Jugendliche haben die Schule ohne Abschluss verlassen, 240 mit einem Abschlusszeugnis der Förderschule. Der größte Teil der Jugendlichen (2044) verließ die Schule mit dem Mittleren Schulabschluss. 1983 Jugendliche machten das Abitur auf dem Gymnasium oder in der Oberstufe der Gesamtschule). Einen Hauptschulabschluss erreichten 686 Schüler (nach Klasse 10) beziehungsweise 181 Jugendliche nach Klasse 9.

Umgekehrt bilden sich die Unterschiede bei den Empfehlungen der Grundschüler zur Hauptschule an. In der Dortmunder City kam das bei der Erhebung 2017 kein einziges Mal vor. In Scharnhorst-Ost bei 41 Prozent der Kinder nach der vierten Klasse. Mehr als die Hälfte der Kinder mit einer Hauptschul-Empfehlung wechselt auf eine Gesamtschule.

Die Empfehlungen sind für Eltern nicht bindend. Häufig entscheiden sie deshalb auch auf Grundlage des Angebots an ihrem Wohnort. Das erklärt etwa, warum Brechten mit einer guten Anbindung an Schulen so gut abschneidet.

Der Alltag in den Schulen

Daniela Stober-Schötteldreier ist an der Kautsky-Grundschule für 331 Schüler verantwortlich. „Es gibt Seiteneinsteiger, die leistungsstark sind und bei denen sich die Eltern über andere Wege Hilfe holen“, sagt sie. Doch der überwiegende Teil der Eltern stammt aus einem bildungsfernen Milieu. Eltern, für die Bildung in ihrem eigenen Aufwachsen nie eine große Rolle gespielt hat, geben das auch nicht an die Kinder weiter.

„Das betrifft nicht unbedingt nur Migrantenfamilien“, sagt die Scharnhorster Schulleiterin. Hinzu komme in Scharnhorst-Ost eine vergleichsweise hohe Zahl an Familien mit drei Kindern und mehr. Schule könne an sechs Stunden pro Tag nur bedingt in das eingreifen, was zuhause passiert. „Wir können Wert, Verantwortungsbewusstsein und Leistungsmotivation vermitteln. Aber wenn die Eltern nicht mitarbeiten, ist es Sisyphusarbeit.“

Dabei bemerkt Christoph Döhrmann von Ruhrfutur durchaus große Bereitschaft bei vielen Eltern, ihr Kind zu fördern. „Der gute Wunsch, dass es eigenen Kindern gut geht, ist extrem ausgeprägt.“ Schulen könnten seiner Ansicht nach viel systematischer mit Eltern arbeiten. Es gehe um niedrigschwellige, konkrete Angebote wie Eltern-Hospitationen im Unterricht.

Viele Zugewanderte hätten den Wunsch, dass ihre Kinder es gut machen. „Aber sie kennen oft das System gar nicht. Dafür müssen wir Brückenpersonen haben, auch in den Communities.“

Die Suche nach Lösungen

Die Ungerechtigkeit ist seit Jahren bekannt. Bei den Zahlen hat sich wenig bewegt, die Unterschiede zwischen einzelnen Stadtteilen sind eher noch größer geworden. Dabei passiert auf vielen Ebenen eine Menge, um die Nachteile auszugleichen. Ruhrfutur-Geschäftsführer Oliver Döhrmann sieht eine positive Entwicklung. „Niemand nimmt mehr die Haltung ein, dass man sich einfach nur anstrengen muss. Es ist viel rund um Bildungssystem aufgebaut worden und verschiedene Dinge fangen an zu greifen.“

An der Kautsky-Grundschule zeigt sich das etwas an einem stabilen Netzwerk mit anderen Jugendhilfeeinrichtungen. Verschiedenen Schulen, etwa das Heisenberg-Gymnasium, haben Mentoring-Programme und Sprachförderung etabliert. „Wir können anhand von Zahlen zeigen, dass sich durch Sprachförderung Übergangsquoten zum Gymnasium erhöhen. Das ist nicht mehr im Bereich des Zufälligen“, wird Sozialdezernentin Birgit Zoerner im Bericht zur Sozialen Lage in Dortmund zitiert.

In nahezu allen sozialen Aktionsräumen Dortmunds gibt es Hausaufgabenhilfe und Unterstützung für Eltern. Es gibt das Dortmunder Modell zur Sprachförderung. In die frühkindliche Förderung fließt mehr Geld als früher.

Dennoch ähneln sich an vielen Orten die Probleme: Bei der Gymnasiastenquote landen 24 von 39 Stadtteilen unter dem Schnitt. Die meisten von ihnen liegen nördlich des „Sozial-Äquators“ B1.

Im Bildungssystem konkurrieren viele Probleme um knappe Ressourcen

Eine weitere Schwierigkeit: Bildungsgerechtigkeit ist nicht das einzige Problem im Schulsystem. Es konkurriert in seinen Ressourcen mit maroden Schulgebäuden, Personalmangel bei Lehrern und allgemeinen Fragen nach sozialer Unterstützung.

Ruhrfutur-Leiter Oliver Döhrmann weist auf die „Folgekosten“ hin, die dieser Zustand produziere. „Wir verschenken unheimlich viele Potenziale. Die Leute werden nicht produktiv und dadurch unglücklich.“ Deshalb gebe es keine Alternative dazu, intensiver in Bildungsgerechtigkeit zu investieren. „Man darf eine Stadt nicht komplett gleich behandeln, sondern es muss eine möglichst fundierte Ungleichbehandlung erfolgen“, sagt Döhrmann.