Mehrere Dutzend beschriebene Ballons steigen am Stadtgarten in den Himmel. Sie tragen die Namen von Verstorbenen näher Richtung Wolken. Toni mit der großen schwarzen Sonnenbrille blickt ihnen nach. Mit einer Hand wischt er hinter dem schwarzen Glas der Brille her.
Der 57-Jährige kennt viele der Namen, die vom Wind fortgetragen werden. Wer wie Toni selbst drogenabhängig ist, der kennt die Gesichter der anderen Konsumenten und der kennt auch den Tod.
19 neue Namen sind in Dortmund hinzugekommen, seit sich Angehörige der Szene und von Hilfseinrichtungen hier zuletzt zum nationalen Drogentotengedenktag getroffen haben, wie jedes Jahr am 21. Juli. Es sind die offiziellen Zahlen, in den Kreisen der Drogenhilfe geht man davon aus, dass die eigentliche Zahl noch höher ist.
Ein Haufen Steine, eine Menge Namen
Die Namen weiterer Toter stehen auf kleinen weißen Steinen. Tanja, Pitt, Tomas, Beatrix, Udo, Detlef, Theo, Sascha, Flori, Lorenzo, Sevgi... Es ist ein ganzer Haufen.
Dass er sich im kommenden Jahr noch höher auftürmt, ist eine traurige Wahrscheinlichkeitsrechnung. Auch, weil in Dortmund vor ein paar Jahren eine neue Variable in die Rechnung eingeflossen ist: Crack.

Crack. Das ist mit Backpulver aufgekochtes Kokain. Geraucht üblicherweise in kleinen Pfeifen. Seinen Namen hat es von dem Geräusch, das entsteht, wenn die kleinen Natron-Kokain-Klumpen verbrennen. Es knackt.
Im Drogenkonsumraum am Grafenhof sind 2015 gerade mal 61 Konsumvorgänge mit Crack festgestellt worden. 2021 waren es 7316. In diesem Jahr werden es wohl 20.000. Jan Sosna, Leiter des Drogenkonsumraums, spricht von einem „Crack-Tsunami“, der Dortmund überschwemmt.
„Die drehen durch“
„Das Zeug ist die Hölle“, sagt Toni. Seit 30 Jahren ist er heroinabhängig. Damals war es sein Mittel gegen psychische Probleme. Heute ist Heroin sein Problem. Aber von Crack lässt er lieber die Finger. „Das macht dich krank.“ Suchtkrank, das weiß Toni selbst, ist er auch. Aber Crack, das sei einfach noch mal etwas anderes: „Die Leute werden gierig danach. Die drehen durch.“
Vor ein paar Monaten habe ihn einer angegriffen, als hier spät abends mal niemand anders da war. „Da vorne.“ Er zeigt auf die Wiese am Stadtgarten neben dem bunt bepflanzten Beet. „Der wollte mein Geld. Meine Finger hat er schon nach hinten gebogen und mich gewürgt. Der hätte mich umgebracht“, ist sich Toni sicher. „Der hätte mich für 20 Euro umgebracht.“
Er habe ihm das Geld gegeben. „Ich versuche, Ärger aus dem Weg zu gehen.“ Dem anderen Typen jetzt auch.
Mehr Crack-Konsumenten in der LWL-Klinik
Ob sich dieser Fall so zugetragen hat, lässt sich nicht nachprüfen. In der Szene kommt es aber immer wieder zu gefährlichen Körperverletzungen. Und es passt zum Effekt, den der Konsum von Crack hervorruft. „Kokain enthemmt, Menschen können aggressiv werden“, sagt Arne Lueg. Er leitet als Chefarzt die Suchtmedizin an der LWL-Klinik.
Dort begleitet man vor allem alkoholkranke Menschen bei ihrem Entzug, seit einigen Jahren werden zunehmend auch Crack-Konsumenten in der Klinik vorstellig. „Nach unserem klinischen Eindruck sind das aber eher Patienten, die wir schon kennen und die nun zusätzlich auch Crack konsumieren“, sagt Arne Lueg. Wenn zwei oder mehr Substanzen über einen längeren Zeitraum konsumiert werden, nennt sich das in der Fachsprache Polytoxikomanie, umgangssprachlich sagt man Mischkonsum.

Den „klassischen, reinen Crack-Konsumenten“ erlebe man in der LWL-Klinik eher selten. „Dortmund wird zunehmend mit Kokain konfrontiert. Das hat auch den Crack-Konsum in die Höhe schnellen lassen.“ Das Angebot in der Stadt sei groß, sagt der Leiter der Suchtmedizin, „es ist leicht und vergleichsweise günstig zu haben“.
Das ist nicht nur der fachliche Eindruck, sondern auch der Eindruck von Rafael. Er kennt die sogenannte Drogenszene seit Jahren aus der Innensicht. Rafael ist auch Experte, könnte man sagen. Seit 28 Jahren konsumiert er Heroin. Ein dünner Bart ziert die Oberlippe des kleinen Mannes, die Mütze sitzt ihm tief im Gesicht. Vor dem Drogenkonsumraum am Grafenhof stützt er sich auf seinen Gehstock.
Braunes und Weißes
Rafael ist 46 Jahre alt. Müsste man sein Alter schätzen, man würde ziemlich sicher daneben liegen. Es wirkt, als hätte ihm jedes Jahr Drogenkonsum einen zusätzlichen Jahresring ins Gesicht geschnitzt. „Früher war es verdammt schwierig, Kokain zu bekommen. Bis vor ein paar Jahren wurde hier noch hauptsächlich Braunes konsumiert, jetzt wird es immer mehr Weißes“, erzählt Rafael mit heiserer Stimme.
Wie viele Besucher des Drogenkonsumraums teilt er die Welt nicht in Schwarz und Weiß, sondern in Braunes und Weißes. Heroin und Kokain. Oder eben Crack.
Aber das Wort, das in der Stadt niemand gerne hört, sagt auch keiner der Konsumenten im Café Kick.
So hat es dessen Leiter Jan Sosna im Jahresbericht der Drogenkonsumräume in NRW aus dem Jahr 2021 festgehalten. Es sieht darin ein Indiz, „dass sogar innerhalb einer offenen Drogenszene das Image dieser Substanz äußerst negativ behaftet ist“.

Auch Rafael ist auf die Crack-Konsumenten nicht gut zu sprechen. „Seitdem hier so viel Weißes konsumiert wird, ziehen sich alle nur noch ab“, sagt er. „Dir wird schon für fünf Euro einer über den Schädel gezogen.“ Die Drogenszene sei noch einmal gefährlicher geworden.
Szene. Das klingt immer so, als würden Menschen mit gemeinsamen Interessen ihre Freizeit zusammen verbringen. Aber das Einzige, was hier alle verbindet, ist die Abhängigkeit. „Vertrauen konnten wir uns nie“, sagt Rafael, aber es sei nun noch einmal anders. Er hebt seinen Stock mit dem silbernen Knauf. „Ohne den hier gehe ich nicht mehr raus.“
Aber dass er herausgeht, sei wichtig für ihn, sagt Rafael. Wenn es den Konsumraum nicht gäbe, würde er zu Hause seiner Sucht nachgehen. „Ich würde vereinsamen.“ Auf der Straße zu konsumieren, kommt für ihn nicht infrage. Einigen sei das scheißegal. „Die nehmen den Scheiß überall.“
Polizei besorgt die Entwicklung
Crack, das sind kleine Kügelchen. Anders als der Cannabis-Konsument im Westpark haben die Konsumenten die Droge nicht in Tütchen bei sich. Oft sind es so kleine Mengen, dass sie bei Kontrollen schnell verschwinden können.

Wie die Dortmunder Polizei mitteilt, falle die Droge Crack bei Einsätzen „nicht signifikant auf“. Auf Platz 1 liegt Cannabis, dann folgen Amphetamine, auf dem dritten Platz ist Heroin. „Gleichwohl beobachten wir in unserem Netzwerk in Dortmund mit Sorge eine Entwicklung, bei der Crack als gefährliche Droge von schwer suchtkranken Menschen häufiger konsumiert wird als in früheren Jahren“, teilt die Polizei schriftlich mit.
„Die Herstellung und der Konsum von Crack finden weitestgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Insofern lässt sich die Ausbreitung nicht mit von uns erhobenen Statistiken darstellen.“
Laut des aktuellen REITOX-Berichtes der Deutschen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht lag der Straßenverkaufspreis für ein Gramm Kokain in Deutschland im Jahr 2021 durchschnittlich bei etwa 75 Euro, für ein Gramm Crack bei circa 63 Euro.
Aus der Drogenhilfe in Dortmund ist zu hören, dass der Straßenverkaufspreis für ein Gramm Crack aktuell bei 60 Euro liegt. Verkauft werde aber meist nicht pro Gramm, sondern in kleineren Konsumeinheiten, sogenannten Bubbles. Sie umfassen ein zehntel bis ein halbes Gramm.
Wie ein Zug, der durch den Kopf rast
„Was du in Dortmund kaufen kannst, ist kein Kokain, das ist Rotze“, sagt Rafael. Ein Kumpel von ihm habe beim Arzt mal ein Drogenscreening gemacht. „Speed, Pillen, der hatte alles im Blut, aber kein verdammtes Kokain“, erzählt Rafael.
Aber hat er es mal ausprobiert? Crack?
Ja, sagt Rafael.
Wie fühlt es sich an?
„Wie ein Zug, der durch deinen Kopf rast, während dir gleichzeitig jemand einen Stecker mit 4.000 Volt in den Arsch steckt.“
Der Suchtmediziner Arne Lueg drückt es etwas nüchterner aus: „Durch das Inhalieren gerät der Wirkstoff über die Lunge direkt in die Blutbahn. Der Effekt tritt praktisch sofort ein.“ Lueg zeichnet, was dann im Körper passiert: „Der Blutdruck geht hoch. Schweiß bricht aus. Die Pupillen weiten sich. Große Mengen Dopamin werden ausgeschüttet. Man ist euphorisiert. Eine übersteigerte Selbstwahrnehmung kann die Folge sein.“

Dieser Zustand der Euphorie hält aber nur kurz an. „5, 10, höchstens 15 Minuten. Sobald das Dopamin nachlässt, setzt ein starkes Craving ein“, sagt Arne Lueg. Ein starker Suchtdruck. Es sei das Initialsymptom für den direkt einsetzenden Entzug. Je länger man die Droge konsumiert, umso stärker fällt er aus.
Darauf folge eine Phase, die Konsumenten ähnlich einer Depression beschreiben. „Man muss nachlegen“, sagt Lueg, „sich darum kümmern, wieder etwas zu bekommen. Das führt zur Vernachlässigung anderer Dinge, die für den Lebenserhalt notwendig werden. Eine Verelendung der Menschen ist die Folge.“
Sie mergeln aus. Das Schlafbedürfnis wird reduziert. Das kann Psychosen oder paranoide Warnvorstellungen auslösen. „Ein starkes Angst- und Anspannungsgefühl breitet sich aus“, erläutert der Suchtmediziner.
„Würde nicht wollen, dass meine Kinder das sehen“
Vor dem Drogenkonsumraum hat Carlos dem Gespräch mit Rafael gelauscht. Er trägt dunkle Kleidung, Farbtupfer sind die rot, gelb, grünen Perlen in seinen schwarzen Rasta-Locken. Ein freundlicher Mann. Bei vielem, was Rafael gesagt hat, hat der 48-Jährige zustimmend genickt. Vor allem, als Rafael betonte, wie wichtig der Konsumraum für ihn sei. „Ich habe auch Kinder, ich will nicht in der Öffentlichkeit konsumieren, ich würde auch nicht wollen, dass meine Kinder das sehen“, sagte Carlos.
17 Jahre war der 48-Jährige weg vom Heroin, vor etwa fünf Monaten sei er rückfällig geworden. Auch er habe Crack schon „ein oder zweimal“ konsumiert. Sein Urteil zur Droge lautet: „Crack ist der Abgrund. Es sind ein paar Sekunden Kick, wie eine Explosion von Gefühlen. Dann ist es purer Stress. Man lebt zu schnell. Das ist, was ich bei mir gesehen habe, und das ist, was ich bei den Jungs sehe, die das nehmen.“

Rafael und Carlos sprechen einen dieser Jungs an, der ein paar Meter weiter steht. Er könne doch mal erzählen, wie es sei, wenn man regelmäßig Weißes rauche. „Kann ich sofort machen“, sagt der dürre Mann. Er ist vielleicht Anfang oder Mitte zwanzig. Er wirkt nervös. „Aber weißt du, ich muss erst rauchen. Ich muss mich gesund machen.“ Er sagt es fast schon flehend. „Danach komme ich wieder und du kannst mir Fragen stellen. Ok? Aber ich muss da jetzt erst rein. Ja? Dann komme ich wieder.“ Er meint das Café Kick. Der junge Mann verschwindet durch das Tor. Er kommt nicht wieder.
Später steht er im Innenhof des Cafés. Seine Augen wandern wild umher, suchend. Offenbar finden sie nichts. Wie die Augen des Mannes scheint auch seine Aufmerksamkeit nur flüchtig an der Welt um ihn herum klebenzubleiben.
„Die leben nur noch für den Dreck“
Thomas schaut ihn sich an. Er schüttelt den Kopf mit den grauen Haaren und den eingefallenen Wangen: „Der könnte dir keinen Satz zu Ende zuhören. Die leben nur noch für den Dreck, den die sich reintun. Da spielt nichts anderes mehr eine Rolle.“ Wahrscheinlich wiegt Thomas in etwa so viel wie der junge Mann. Er trägt ein kariertes Hemd und Jeans. Auf der Nase sitzt eine Brille.
In den Drogenkonsumraum kommt der 56-Jährige immer, wenn es ihm psychisch gerade mal wieder nicht so gut geht. Ansonsten versucht er, sich von Drogen fernzuhalten, so weit wie es geht und so gut es geht. Er bekommt sonst nur wieder Lust zu „Naschen“, wie er es nennt.
Vor 20 Jahren ist Thomas in die Heroin-Abhängigkeit gerutscht. Vorher hatte er versucht, seine psychischen Probleme im Alkohol zu ertränken. Aber die Probleme schwammen weiter oben. Thomas nahm immer härtere Drogen, um sie unter die Oberfläche zu drücken. Letztlich Heroin.
„Das macht dich gierig“
Heroin sei scheiße, da wolle er nichts schönreden, „aber wenn man es konsumiert hat, dann hat man erst mal genug. Dann ist man satt. Bei Crack kriegst du nicht genug. Das macht dich gierig. Zum Glück gibt mir das nichts.“
Die Leute würden für fünf Minuten „Turn“ ihr Leben in die Pfandleihe schleppen. „Ein Gramm Crack kannst du in zwei Stunden wegmachen. Dann brauchst du neues.“ Wenn das Geld weg ist, versuchen es viele zu erbetteln. Auch Klauen ist eine Option. Für die Kriminalstatistik würden keine Täterprofile erhoben, heißt es von der Dortmunder Polizei, viele Ladendiebstähle hätten aber mit Beschaffungskriminalität zu tun.

Ein Mann zieht am Café Kick mehrere T-Shirts aus einem Beutel und zeigt sie ein paar anderen. Eine Möwe, das Emblem der Marke Hollister ist darauf aufgestickt. Ein Mitarbeiter sieht es. „Willst du mich verarschen? Meinst du, ich bin blind? Deinen Mist verkaufst du hier nicht.“ Die klare Ansage wirkt. Die Männer gehen.
„Packen wir es an“
Aber so einfach ist das mit dem generellen Problem nicht. Man kann es weder wegschreien noch totschweigen. In Dortmund sind gerade einige Menschen auf einem gefährlichen Weg. Um es mit Carlos‘ Worten zu sagen: Sie leben zu schnell.
„Packen wir es an“, endete Jan Sosna seinen Beitrag, in dem er schon im Jahr 2021 vor einem „Crack-Tsunami“ warnte.
Es sollen nicht noch mehr Namen auf Ballons am Stadtgarten in den Himmel über Dortmund steigen.
Toni wird auch im kommenden Jahr wieder herkommen. An diesem 21. Juli 2023 schaut er den Ballons hinterher. Er habe jetzt schon etwas länger eine Freundin, erzählt er. Sie nehme keine Drogen und akzeptiere, wie er sei. „Sie ist toll“, sagt Toni. Dann ergänzt er, als könne er das gar nicht glauben: „Hübsch ist sie auch noch.“ Zu schnell soll das Leben nicht enden.
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