Die Erstklässler verhalten sich, wie sich Erstklässler verhalten, wenn sie etwas aufführen. Die einen gehen voll in ihrer Rolle auf, die anderen sind hoch motiviert, aber ein bisschen überfordert von den Tanzschritten, wiederum andere machen nur mit, weil sie es müssen. Ihren Einsatz zur Hintergrundmusik aus den Boxen haben sie knapp verpasst, aber es erwartet ja auch niemand Perfektion von Sechsjährigen. Die Eltern freuen sich in jedem Fall.
Diese Kinder treten auf keinem Stadtfest auf, es ist auch nicht die Eröffnung einer neuen Turnhalle oder eines Spielplatzes, zu der sie eingeladen wurden. In weißen Blusen und gebügelten Hosen tanzen und singen sie vor den Trümmern einer Schule, die sie nie besuchen werden. Ein Gymnasium, das am 4. März 2022 von russischen Raketen zerstört wurde, mitten im Stadtzentrum von Schytomyr in der Ukraine.
Mehr als ein Jahr später, am 20. Juni 2023, verabschieden die Kinder sich mit ihrem Tanz von dem Schulgebäude. Zuvor hatten Abiturienten die Namen ehemaliger Schüler vorgelesen, die im Krieg gefallen sind. Symbolisch haben sie ein letztes Mal die Schulglocke geläutet.
Nach der Schule in den Krieg
Ich fahre noch regelmäßig an meiner alten Schule vorbei. Manchmal mit einem nostalgischen, manchmal mit einem mulmigen Gefühl. Aber der Schrecken waren damals gemeine Mitschüler und unfaire Lehrer. Keine Luftangriffe von der Armee des Nachbarlands.
Ich habe keine Vorstellung davon, wie es ist, wenn die Jugend von einem auf den anderen Tag endet, weil Russland in dein Land einmarschiert. Vielleicht genau so: Du stehst mit deinen Freunden unter dem zerstörten Vordach deiner alten Schule und liest Namen von toten Soldaten vor. Kinder, die nicht ganz verstehen, was hier passiert, tanzen und singen. Statt ins Ausland oder an die Uni ziehen deine Freunde nach dem Abschluss in den Krieg.
„Ein Willkommensgruß“
Unser erster Tag in Schytomyr beginnt nach einer kurzen Nacht. Wir waren gerade im Hotel angekommen, um 2 Uhr morgens, nach über zehn Stunden Fahrt, als der Luftalarm ausgelöst wurde. „Ein Willkommensgruß“, sagte unsere Übersetzerin Natalya später zynisch. Ich hatte keine Angst – ich wollte nur eine Dusche und ins Bett.
Im Luftschutzbunker des Hotels hielt ich es nur für eine halbe Stunde aus. Dann machte ich es wie fast alle anderen Hotelgäste – und ging schlafen. Krieg ist unbequem, habe ich in dem Moment gelernt. Es heißt, nachts verschwitzt und übermüdet in einem Keller zu sitzen und zu wissen, dass man in wenigen Stunden aufstehen und zur Arbeit gehen muss.
Geschlafen habe ich dann trotzdem nicht mehr als drei Stunden. Es ist nicht einfach, einzuschlafen, wenn man gerade seinen ersten Luftalarm erlebt und ignoriert hat.
Nachrichten zum Frühstück
Am Morgen läuft im Frühstücksraum des Hotels laut der Fernseher. Hotelgäste bleiben davor stehen, den Teller vom Buffet halb gefüllt, um sich die Interviews mit Soldaten und die Bilder von zerstörten Gebäuden anzuschauen. Offenbar wurde der Alarm nach Angriffen auf Kiew und Lviv ausgelöst - beide Städte sind nicht weit entfernt von uns, an Lviv waren wir wenige Stunden zuvor vorbeigefahren.
Angst habe ich auch in diesem Moment keine. Vielleicht, weil ich genug über den Krieg gelernt habe, um zu wissen, dass ein Luftalarm bei allem, was den Ukrainern gerade in anderen Teilen des Landes sonst jeden Tag passiert, an Luxus grenzt.
Nach dem Frühstück laufen wir zum Rathaus. Wie viele Verwaltungsgebäude in Schytomyr ist der Eingang mit Sandsäcken verbarrikadiert, jemand hat eine Plane darüber gelegt. „Damit es schöner aussieht“, sagt Natalya. Wir quetschen uns an den Sandsäcken vorbei ins Rathaus, hier ist wieder Tagesbetrieb eingekehrt. Vitalii, ein Stadtmitarbeiter, erzählt uns später, dass er hier zu Kriegsbeginn eine Woche lang geschlafen hat, mit seinem Gewehr im Arm.
Die Ukrainer haben sich an den Krieg gewöhnt. Als wäre es ein interessanter historischer Fakt erzählen sie uns, auf welchen Dächern schon Soldaten auf den Angriff Russlands gewartet haben und wo die Straßensperren in den ersten Kriegswochen standen.
Tanzende Kosaken und Soldaten
Bei der Konferenz im Rathaus gibt es eine Rückkopplung, als zwei Mikrofone gleichzeitig benutzt werden, ein dumpfes Dröhnen ist zu hören. Kurzzeitig verändert sich etwas in den Augen der Ukrainer im Raum, Viktor Kliminskyi, der Stadtsekretär, steht schon halb auf. Dann wird klar: Kein Alarm, nur ein technischer Defekt. Krieg macht schreckhaft, lerne ich in dem Moment.
Die Ukrainer haben sich an den Krieg gewöhnt, akzeptiert haben sie ihn nicht. Der Leiter einer Tanzschule erzählt uns später am Tag, dass seine Akademie im Herbst 50 Jahre alt wird. „Also nach dem Sieg“, sagt er. Dann treten seine Tanzschüler auf. Sie erzählen Geschichten von heroischen Soldaten, liebenden Müttern, einer freien Ukraine. Am Anfang berührt es mich, wie diese Jugendlichen ohne Jugend das harte Los ihres Landes im Tanz verarbeiten, als irgendwann Kosaken und Soldaten laut rufend im Kreis stampfen, muss ich mir das Lachen verkneifen.
Um ein wenig zu arbeiten, setze ich mich zwischen zwei Terminen in ein Café in der Fußgängerzone. Die Sonne scheint, die Menschen plaudern, an der Theke tut sich jemand schwer, sich zwischen Flat White und Cappuccino zu entscheiden. Auch das ist Krieg, lerne ich in diesem Moment.
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