Das war Dortmunds Demokratie-Hochburg zur Europawahl Kaum AfD-Wähler, hohe Wahlbeteiligung

Dortmunds Hochburg der Demokraten : Was sich aus Hombruch lernen lässt
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Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 6. Juli 2024, rund einen Monat nach der Europawahl. Wir haben das Stimmungsbild und den vor Ort Besuch von damals anlässlich der Bundestagswahlen, die am 23. Februar 2025 stattfinden, erneut veröffentlicht. Zeitliche Referenzen innerhalb des Textes wurden nicht aktualisiert.

Schwarzsehen fällt hier schwer. Dafür ist es viel zu bunt auf der Harkortstraße. Hier Geranien und Margeriten, da Tomaten und Gurken. Die Eiskugeln in den Waffelhörnchen sind pistaziengrün oder schlumpfblau. Und in den Stielgläsern auf den Bistrotischen leuchtet es orange. Nur die Kirschen, die Sophia (8) zwischen beiden Händen durch die Menschenmenge balanciert, sind fast schwarz: eine Zugabe des Markthändlers zu den gerade gekauften Erdbeeren.

„Ganz süß“, verkündet sie ihren Eltern, Lars (41) und Sarah (40) Hackstein. Die Drei mögen Hombruch. Besonders samstags, wenn Wochenmarkt ist. Und sonntags, wenn gewählt wird. Denn dann zeigt der Bezirk im Dortmunder Süden, dass es für den Abgesang auf die Demokratie zu früh ist - allen düsteren Diagnosen zum Trotz.

Hombruch ist in Dortmund die Hochburg der Demokraten. Nirgendwo sonst nutzen so viele Menschen traditionell ihr Wahlrecht. Das bestätigte sich einmal mehr am 9. Juni bei der Europawahl. Da lag die Wahlbeteiligung in Hombruch bei 71,29 Prozent: zehn Prozentpunkte über dem Dortmunder Durchschnitt: ein Wert, von dem Gelsenkirchen, Bochum und Duisburg nur träumen können und den selbst der Essener Süden nur leicht übertrifft. Der Blick der Öffentlichkeit fällt in der Regel aber nur auf die andere, die dunkle Seite. Dorthin, wo die Demokratie ein Ladenhüter geworden zu sein scheint wie in der Dortmunder Nordstadt. Dort haben gerade einmal 40 Prozent ihr Stimmrecht genutzt: ein Minusrekord unter den Reviermetropolen, den nur der Duisburger Norden noch unterbietet. In Marxloh war nicht einmal jeder dritte wählen gegangen.

Wählen gehen? Für Lars Hackstein, der am Niederrhein aufgewachsen ist und in Paderborn studiert hat, ist das keine Frage. „Klar“, sagt der Diplom-Wirtschaftsinformatiker, während er Erdbeeren und Kirschen im Korb verstaut. Schließlich gehe es um die Zukunft. Und die wünschen er und seine Familie sich in Freiheit und Frieden. Was sich vor Kurzem noch angehört hätte wie eine Floskel aus politischen Sonntagsreden, ist längst ein echtes Anliegen geworden. Nicht nur für die Hacksteins.

Infratest dimap hatten bei der Sonntagsfrage eine Woche vor der Europawahl ermittelt, welches Thema den Deutschen am wichtigsten sei. Ganz vorne mit 26 Prozent: die Friedenssicherung. Bei der Europawahl 2019 lag da noch der Klima-und Umweltschutz, der jetzt nur auf 14 Prozent kam. Nicht allein der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine belastet die Menschen, auch der Aufschwung der Rechtspopulisten in der Welt. Und vor der eigenen Haustür.

Die Schule der Demokratie

Ob in Ungarn, Italien, den Niederlanden, ganz aktuell auch in Frankreich und vielleicht bald wieder in den USA mit Donald Trump: Fast in der gesamten westlichen Welt zeigen sich insbesondere junge Leute von der Demokratie enttäuscht. In immer mehr Ländern bilden Rechtspopulisten die Regierung oder sind an ihr beteiligt. Eine Entwicklung, die vor Deutschland nicht haltmacht. Inzwischen kann die AfD auf eine stabile Wählerschaft zählen, nicht nur im Osten, wo sie bei der Europawahl nahezu flächendeckend am besten abschnitt. Auch im Westen legte sie kräftig zu. Insgesamt kam sie im Ruhrgebiet mit 14,9 Prozent der Stimmen zwar nur auf den dritten Platz hinter CDU und SPD und in Dortmund sogar nur auf den vierten hinter den Grünen. Doch sowohl in Scharnhorst als auch in Mengede und Huckarde landete die als rechtsextremistischer Verdachtsfall geltende Partei in der Nähe der 20-Prozent-Marke, in Eving und Lütgendortmund bei gut 17 Prozent: alles Stadtbezirke, in denen kaum mehr als jeder zweite dazu Berechtigte ein Kreuz auf dem Stimmzettel machte. Also ganz anders als im Bezirk Hombruch, wo die Schule der Demokratie steht.

In Barop, gleich neben der fast 700 Jahre alten Margarethenkapelle, liegt sie: die Ostenberg-Grundschule: „eine Schule für alle, die Vielfalt schützt und lebt“, wie es im Leitbild heißt. „Wir lernen, eigene Wege zu geh´n / und sind im Miteinander stark“ singen die Mädchen und Jungen hier in ihrem Schullied. Das macht Mut für die Zukunft. Den braucht Barbara Brunsing (63) auch gerade.

Barbara Brunsing und Ingo Börnig stehen zusammen an der Spitze des Ortsverbandes der Grünen. Im der Ostenberg-Grundschule haben sie eine herbe Niederlage einstecken müssen - und zugleich einen schönen Erfolg der Demokratie feiern können.
Barbara Brunsing und Ingo Börnig stehen zusammen an der Spitze des Ortsverbandes der Grünen. In der Ostenberg-Grundschule haben sie eine herbe Niederlage einstecken müssen - und zugleich einen schönen Erfolg der Demokratie feiern können. © Sylvia vom Hofe

Die Zweite Bürgermeisterin der Stadt Dortmund steht etwas verloren auf dem freien Platz zwischen Klettergerüst und Schultür. Ihr macht es Mühe, zu lächeln. Zu frisch sind noch die Erinnerungen an den Wahlsonntag im Juni, als sich die Grundschule ihren Beinamen verdiente: Schule der Demokratie. Zu widersprüchlich sind die Gefühle.

In keinem anderen der 386 Wahllokale im Stadtgebiet haben so wenige die AfD gewählt wie in ihrem Wahlbezirk: gerade einmal 3,6 Prozent. Barbara Brunsing könnte das feiern, wenn nicht gleichzeitig die Grünen, ihre Partei, so abgestürzt wären. 15,1 Prozent der Stimmen bekamen sie stadtweit - das ist ein Minus von zehn Prozentpunkten. In Hombruch muss sich das noch schlimmer anfühlen.

Bei der letzten Europawahl 2019 knallten noch die Sektkorken. Damals hatte fast jeder dritte (27,2 Prozent) grün gewählt. Brunsings Partei landete auf Platz eins. Und jetzt: Platz drei, fast gleichauf mit den „Sonstigen“. Eine Klatsche, von der man sich nicht so leicht erholt.

„Damit müssen wir jetzt umgehen“, sagt sie mit einem Seufzen: ein Satz, der in der Politik immer zu hören ist, wenn man nicht so recht weiter weiß. Zusammen mit Ingo Börnig (54), ihrem Co-Vorsitzenden im Grünen-Ortsverband Hombruch, konzentriert sie sich erst einmal auf die Analyse: Genauso wie die SPD hätten auch die Grünen besonders stark ans Lager derer verloren, die dieses Mal gar nicht zur Wahl gegangen sind, während die AfD es am besten verstanden hat, bisherige Nichtwähler an die Wahlurnen zu rufen. Was die beiden besonders schmerzt: Dass sie gerade bei den Jugendlichen, für die die Berliner Ampel-Regierung vor allem auf Drängen der Grünen das Wahlalter auf 16 herabgesetzt hatte, nicht punkten konnten. Im Gegenteil.

Bei ihnen waren konservative bis rechte Parteien besonders gut angekommen. Vielleicht, weil sich AfD und Co. stärker als andere auf TikTok tummeln, der Nachrichtenquelle Nummer eins, wie die gerade veröffentlichte Jugendstudie des Forschungsinstituts Sinus belegt. Börnig zuckt mit den Schultern. „Vielleicht auch, weil sich auch die Jungen wünschen, dass es leichte Lösungen für die komplexen Probleme der Zeit gebe“ – so, wie es die Rechten vorgaukelten: „Ein krasser Irrtum.“

Geschichten über das Gelingen

Hombruchs Bezirksbürgermeister Nils Berning (57) bringt das regelrecht in Rage. „Es kann doch nicht angehen“, sagt der CDU-Mann am Telefon, „dass wir Frieden, Freiheit und Wohlstand, die wir seit Inkrafttreten des Grundgesetzes vor 75 Jahren genießen, jetzt aufs Spiel setzen, bloß weil man gerade unzufrieden ist.“ Mit Blick auf die nächsten Wahlen - im Herbst 2025 stehen Bundestags- und Kommunalwahlen an - appelliert er, „egal welche, aber Hauptsache eine demokratische Partei“ zu wählen. Und damit nicht die AfD.

Nicht nur Lehrerinnen und Lehrer, sondern vor allem Eltern und Großeltern seien aufgerufen, ihren Kindern zu erzählen, „warum es uns so gut geht“. Solche Geschichten, meint Berning, ließen keinen Platz für Politikverdrossenheit, für Protestwahlen und für eine Abkehr vom demokratischen System wie 1933 zum Ende der Weimarer Republik.

„Krisenmodus“ Wort des Jahres

Nicht nur auf die Krisen blicken und resignieren, sondern vermehrt auf das, was gelingt und daraus Kraft schöpfen. Das ist schwierig in Zeiten, in denen „Krisenmodus“ Wort des Jahres 2023 geworden ist und der Ausnahmezustand zum Normalzustand geworden zu sein scheint. Aber umso wichtiger, wie auch Politikwissenschaftler Prof. Dierk Borstel meint.

Er kommt gerade aus einem Seminar und nimmt Platz in seinem Büro in der Fachhochschule Dortmund - nur 500 Meter Luftlinie von der Ostenberg-Grundschule entfern. Die Studierenden, sagt er, lechzten nach Zuversicht, diesem Muskel, der zurzeit so wenig trainiert wird. Darum seien Geschichten des Gelingens so wichtig. In Hombruch gibt es einige davon.

Hombrucher nehmen's mit Humor, dass sie durchschnittlich älter sind als die übrigen Menschen in Dortmund, dafür aber auch wohlhabender.
Hombrucher nehmen's mit Humor, dass sie durchschnittlich älter sind als die übrigen Menschen in Dortmund, dafür aber auch wohlhabender. © Sylvia vom Hofe

„Hier im Süden lässt es sich gut leben“, sagt Sarah Hackstein, während sie auf dem Hombrucher Wochenmarkt vom Obststand in Richtung Buchhandlung schlendert. Zusammen mit ihrem Mann kann sie Vergleiche anstellen. Als sie nach Dortmund zogen, wohnten sie erst im Norden: „Schön multikulti, aber stressig.“ Dann im Westen, wo ihnen die Neonazi-Szene zu nah war. „Und im Osten war es zu voll.“

Im Stadtbezirk Hombruch dagegen passe alles.

Wohlhabender und älter

Das bestätigt auch der 2019 veröffentlichte Statistikatlas der Stadt. Er bescheinigt dem flächenmäßig größten der zwölf Dortmunder Bezirke mit Rombergpark und Zoo, hügeligen Waldgebieten und gepflegtes Wohnumfeld einen „hohen sozio-ökonomischen Status“. Während jeder Sechste in Dortmund staatliche Transferleistungen zur sozialen Mindestsicherung bezieht, ist es in Hombruch nur jeder 15., in den Unterbezirken Universität, Lücklemberg und Kruckel/Schnee sogar noch deutlich weniger. Da liegt die Transferleistungsquote bei unter zwei Prozent. „Wir sind“, sagt Barbara Brunsing und lächelt jetzt doch auf dem Platz vor der Ostenberg-Grundschule, „eigentlich eine Insel der Seligen“.

„Prosecco wäre noch da“

Diese Seligen haben oft silbergraues Haar. Oder wie es auf einem der T-Shirts geschrieben steht, die auf dem Hombrucher Wochenmarkt angeboten werden: „Jugend ist aus, aber Prosecco wäre noch da.“ Der Kleinkinderanteil im Bezirk gehört tatsächlich zu den kleinsten in Dortmund und der Anteil an den Über-80-Jährigen zu den größten. Das Durchschnittsalter der Menschen, die am Rombergpark wohnen, liegt bei 60, stadtweit dagegen bei 43.

Karin Heidrich und Birgit Walter sind beide typische Bürgerinnen des Bezirks: gerade im Ruhestand und froh, für einen Bummel über den Hombrucher Markt Zeit zu haben. Und Geld. Zweifel an der Demokratie haben sie nicht. Das ist auch wissenschaftlich belegt.

Vertrauen in Demokratie sinkt

„Eine deutliche Korrelation zwischen Einkommenshöhe und geringem Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen“ hat die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung im „Verteilungsbericht 2023“ festgestellt. Die wachsende Zahl von Menschen mit wenig Einkommen hätte ein geringeres Vertrauen in die demokratischen Institutionen als die Menschen mit hohem Einkommen. Das erklärt den vergleichsweise niedrigen Anteil an AfD-Wählern im Süden. Eine wachsende Verantwortung für all die Birgits und Karins in den Wahlurnen.

Karin Heidrich und Birgit Walter lieben es, gemeinsam über den Wochenmarkt in Hombruch zu bummeln.
Karin Heidrich und Birgit Walter lieben es, gemeinsam über den Wochenmarkt in Hombruch zu bummeln. © Sylvia vom Hofe

„Bei uns werden bald die Rentnerinnen und Rentner die Wahlen allein entscheiden“, hat Aladin El-Mafaalani (45), einer der führenden deutschen Soziologen, im taz-Interview gesagt. Seit April lehrt Mafaalani an der Technischen Universität Dortmund. Schon bei der nächsten Bundestagswahl sei das Durchschnittsalter der Wählerschaft 55. Das Problem dabei: „Die Rentner sind relativ wenig divers. Aber die Leute, die den Laden am Laufen halten, sind wenige und sehr divers.“ Das werde zu Reibungen führen.

Studie: „AfD macht unglücklich“

Aber keine, an denen sich die Demokratie aufreiben wird. Da ist Mafaalanis Kollege Borstel optimistisch. Je mehr Unterstützung Bürgerinnen und Bürger zu geben bereit sind, desto ausgeprägter ist die Stabilität der Demokratie. Und die gute Laune. Wie das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) gerade erst auf Basis einer Studie mit 5000 Teilnehmenden mitgeteilt hat, mache die Entscheidung, die AfD zu wählen oder zu unterstützen, unglücklich. Ein Grund: die durchgehend negative Rhetorik.

Negative Gefühle haben zwar auch Barbara Brunsing und Ingo Börnig, die Grünen-Doppelspitze. Aber nicht nur. Das Scheitern ist eben auch eine Kernkompetenz der Demokratie. Genauso wie die Suche nach Wegen aus der Schlappe. Da haben die Zwei schon Ideen. Zum Beispiel verstärkt über das sprechen, was alles gut läuft im Bezirk. Am besten auf dem Wochenmarkt. Denn Schwarzsehen fällt hier schwer.