Dortmunder trägt Verantwortung für erschossene DDR-Flüchtlinge Die Flucht-Toten des Heinrich Stock

Dortmunder trägt die Verantwortung für erschossene DDR-Flüchtlinge
Lesezeit

Am 13. August 2024 jährt sich der Bau der Berliner Mauer zum 63. Mal. Anlässlich des Jahrestages haben wir die Geschichte um den Dortmunder DDR-Grenzpolizeioffizier Heinrich Stock neu veröffentlicht.

Reginald Lehmann aus dem sächsischen Riesa will am 27. Juli 1956 über die Grenze nach Niedersachsen flüchten. In den Westen. Raus aus der DDR. Ein tödlicher Schuss trifft ihn in den Rücken. Das Projektil tritt in der Brust wieder aus und zerfetzt ein Gefäß. Jede Hilfe kommt zu spät. Der 26-jährige Kraftfahrer verblutet jämmerlich.

Oberst Heinrich Stock (Mitte) auf einer Veranstaltung der Partei.
Oberst Heinrich Stock (Mitte) auf einer Veranstaltung der Partei. © Archiv www.grenzkommando.de/Thilo Wierzock

Vom eigenen Geheimdienst überwacht

Vier Wochen danach wird der Todesschütze für sein Verhalten geehrt. Für das Regime gibt es keinen Zweifel: Der Schusswaffeneinsatz ist in Übereinstimmung mit den Schusswaffengebrauchsbestimmungen erfolgt und somit gerechtfertigt. Der Grenzer erhält eine Armbanduhr mit gravierter Widmung seines obersten Chefs Heinrich Stock. Der nennt ihn einen „vorbildlichen Postenführer“.

Reginald Lehmann ist nur einer von mehreren Dutzend Opfern, die der Dortmunder Heinrich Stock als Chef der DDR-Grenzpolizei zu verantworten hat. Zwischen 1949 und dem Mauerbau 1961 zählen Historiker im Grenzgebiet der DDR 92 zivile Opfer. Bis 1989 sind es 327 Tote. Stocks jetzt aufgetauchte Akte aus der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin erzählt die Geschichte des Dortmunders, der nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR landete. Und sie zeigt, dass selbst die Mächtigsten des Regimes vom eigenen Geheimdienst überwacht wurden.

Zwei Soldaten der Grenzpolizei in khakifarbener Sommer-Dienstuniform (eingeführt ab 1952), bewaffnet mit einer sowjetischen M91 „Mosin Nagant“ mit ausgeklappten Bajonett an einem Schlagbaum einer gesperrten Zufahrt am Schutzstreifen.
Zwei Soldaten der Grenzpolizei in khakifarbener Sommer-Dienstuniform (eingeführt ab 1952), bewaffnet mit einer sowjetischen M91 „Mosin Nagant“ mit ausgeklappten Bajonett an einem Schlagbaum einer gesperrten Zufahrt am Schutzstreifen. © Archiv www.grenzkommando.de/Thilo Wierzock

Die Stasi schätzte Heinrich Stock als egoistisch und kaum kritikfähig ein. Aber auch als außerordentlich intelligent, erfahren und den meisten Offizieren überlegen. Stock war nach dem verlorenen Weltkrieg offenbar schlau genug, sich auf die richtige Seite zu stellen, um 1946 aus der sowjetischen Gefangenschaft entlassen zu werden. Zwar war er zu Kriegszeiten kein NSDAP-Mitglied, aber doch Nazi genug, um selbst in der DDR im betrunkenen Zustand noch Nazilieder zu grölen. So steht es in den Akten. Die Stasi hatte ihre Ohren überall.

Von der Landespolizei zur Wehrmacht

Heinrich Stock wurde am 14. Februar 1927 als Sohn eines Bergmanns in Dortmund-Hombruch geboren, wohnhaft in der Deutsch-Luxemburger-Straße 31. Der junge Heinrich lernte in einer Rechtsanwaltskanzlei und wurde Kaufmännischer Angestellter. Weil ihm das zu wenig einbrachte, ging er 1935 zur Landespolizei Dortmund und von dort aus zu den Panzertruppen der Wehrmacht. Im Juni 1944 geriet seine Einheit in den Kessel von Bobruisk, nordöstlich von Minsk, und Oberfeldwebel Stock in Gefangenschaft.

Stocks Soldaten: Ein Postenpaar der Deutschen Grenzpolizei der Grenzbereitschaft Plauen Kommando Hirschberg unmittelbar am Spurensicherungsstreifen K-6. Aufgenommen am 7. Juni 1956.
Stocks Soldaten: Ein Postenpaar der Deutschen Grenzpolizei der Grenzbereitschaft Plauen Kommando Hirschberg unmittelbar am Spurensicherungsstreifen K-6. Aufgenommen am 7. Juni 1956. © Archiv www.grenzkommando.de/Thilo Wierzock

Hinter sowjetischem Stacheldraht fiel es dem 27-Jährigen nicht schwer, sich von Nazi-Deutschland loszusagen. Nach drei Monaten trat er dem Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) bei. Der Zusammenschluss von deutschen kriegsgefangenen Soldaten setzte sich gegen den Nationalsozialismus und für ein anderes Deutschland ein. Stock besuchte auch die Antifa-Schule. Gute Voraussetzung, um nach dem Krieg schnell entlassen zu werden: Stock durfte 1946 nach Deutschland zurückkehren. Nicht in den Westen und nach Dortmund, aber immerhin in die Ostzone.

Verantwortlich für zahlreiche Flüchtlinge

Jetzt begann sein Aufstieg im kommunistischen Deutschland. Stock trat der SED bei und in den Dienst der Volkspolizei im thüringischen Gera. Ab 1947 arbeitete Stock in verschiedenen leitenden Funktionen an der Innerdeutschen Grenze, zwischen April 1955 und Februar 1957 war er Leiter der Hauptverwaltung Deutsche Grenzpolizei und somit verantwortlich für die Grenzsicherung.

„Als Kommandeur der Grenzpolizei trägt Stock eine erhebliche Verantwortung für die Todesopfer dadurch, dass er die Zielstellungen der politischen Führung in militärische Befehle umgesetzt und damit das Handeln der ihm unterstellten Männer bestimmt hat, welche dann schossen“, sagt Dr. Gerhard Sälter, Forschungsleiter bei der Stiftung Berliner Mauer. In der DDR aber läuft alles seinen geregelten Gang. Im Juni 1955 erhält Heinrich Stock den Vaterländischen Verdienstorden in Silber.

Doch Stock ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Über Jahre misstraut die Stasi dem ehemaligen Wehrmachtssoldaten - nicht nur, weil er mit betrunkenem Kopf Nazi-Lieder singt. Es gibt Gerüchte, er habe mehrere Ostdeutsche über die Grenze geschleust. Dazu soll er im Juni 1951 eine Sportveranstaltung im Berliner Olympia-Stadion besucht haben. Zu diesem Zeitpunkt ist der Grenzverkehr im geteilten Berlin zwar noch möglich, ein guter Sozialist nimmt daran aber nicht teil. Besonders schwer wiegt der Verdacht, er unterhalte Verbindungen zum ausländischen Geheimdienst. Mehrere Spitzel werden auf Stock angesetzt. Die Stasi kann die Vorwürfe jedoch nie klären und legt sie zu den Akten.

Ein Grenzposten der DDR am Schlagbaum unmittelbar vor einem Holzbeobachtungsturm. Im Hintergrund eine doppelreihiger Grenzzaunanlage zur BRD zu erkennen. Zwischen ihnen befand sich ein Mienenfeld.
Ein Grenzposten der DDR am Schlagbaum unmittelbar vor einem Holzbeobachtungsturm. Im Hintergrund eine doppelreihiger Grenzzaunanlage zur BRD zu erkennen. Zwischen ihnen befand sich ein Mienenfeld. © Archiv www.grenzkommando.de/Thilo Wierzock

Chef von 38.000 Grenzpolizisten

Stock war zeitweise Chef von 38.000 Grenzpolizisten. Nach seiner Versetzung in die Reserve arbeitet Heinrich Stock noch einige Jahre bei der Interflug. 1977 stirbt er plötzlich und unerwartet im Alter von 60 Jahren. Er wird auf einem Friedhof in Ostberlin bestattet.

Im Gegensatz zu Heinrich Stock muss sich sein ehemaliger Untergebener, der Todesschütze vom Juli 1956, nach der Wende vor Gericht verantworten. Er räumt ein, dem 26-jährigen Reginald Lehmann in den Rücken geschossen zu haben, betont jedoch, es habe sich lediglich um einen verunglückten Warnschuss gehandelt. Er habe den Flüchtigen nicht töten wollen, aus heutiger Sicht tue es ihm leid. Das Landgericht Magdeburg verurteilte den Schützen im Jahre 1998 zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr.

Erschossen an der DDR-Grenze: Wurde der Dortmunder Kurt Lichtenstein von der Stasi ermordet?

Agent ohne Skrupel: „Hermann Reimer“ lieferte der Stasi reihenweise Dortmunder ans Messer

Angst vor Spionen: Wie die Stasi Dortmunder Autofahrern auflauerte