
© Stephan Schuetze
Dortmunder Tafel versorgt 4800 Kinder – und will sie künftig nicht nur satt machen
Armut in Dorrtmund
4800 Kinder werden bei der Dortmunder Tafel mitversorgt. Jetzt will die Tafel Wege finden, Kinder und ihre Familien zu fördern. Dafür sucht sie Menschen, die ihr helfen wollen.
Die Tafel in Dortmund. Da denkt man an Lebensmittel. 80 bis 100 Tonnen gehen hier pro Woche über den Tresen. „Schreiben Sie die Zahl in Kilogramm auf, das wirkt dann deutlicher“, sagt Dr. Horst Röhr, ehrenamtlicher Vorstand seit 2013. Also gut, 80.000 bis 100.000 Kilogramm Lebensmittel. In der Woche. In Dortmund. Röhr, 1943 in Bad Schwartau geboren, 1985 beruflich nach Dortmund gekommen und dann hier geblieben, kennt seine Zahlen. 4338 Menschen haben aktuell einen Tafelausweis, mit dem sie an den verschiedenen Standorten einkaufen können. Was Röhr und seine gut 400 freiwilligen Mitarbeiter lange Jahre nicht wussten, war, wie viele Kinder davon mitversorgt wurden. Seit September 2017 wissen sie es: Über 4800 Kinder beziehen einen großen Teil ihrer Nahrung über die Tafel. „Das“, sagt Röhr, „hatten wir nicht erwartet.“

Dr. Horst Röhr leitet die Tafel seit 2013: „Armut“, findet er, „traut sich nicht, laut zu sein.“ Darum übernimmt er das. © Stephan Schuetze
Nicht überraschend ist diese Zahl indes für Martina Furlan vom Kinderschutzbund. Der habe, sagt Furlan, vor so etwa fünf, sechs Jahren mal für jedes von Armut in Dortmund betroffene Kind ein Fähnchen in den Boden des Westfalenparks gesteckt. 20.000 Fähnchen steckten dann da. Damals hätten Besucher des Parks Furlan dann gefragt, ob das die Zahl für Deutschland sei. War sie nicht, heute bräuchten sie mehr Fahnen.
Von der Unmöglichkeit, von unten nach oben zu kommen
Furlan und Röhr stehen am Freitag im Innenhof der Tafel, denn sie haben jetzt etwas gemeinsam: Auch die Tafel kümmert sich jetzt stärker um Kinder, als das bisher über die Lebensmittelausgabe der Fall war. Röhr, auch Erziehungswissenschaftler und Psychologe, sagt, dass man in Deutschland seit über 15 Jahren wisse, dass es für arme Kinder sehr schwer bis unmöglich ist, von unten nach oben zu kommen. Das beginne bei der Suche nach einem Kindergartenplatz, was nicht selten erfolglos bliebe und zwei Konsequenzen habe: Die Kinder verpassen in der besten Lernphase wichtige kognitive, emotionale und soziale Lernimpulse. Und die Eltern müssten ihre Wünsche bezüglich einer Arbeitsstelle hinten anstellen. Was das in der Konsequenz heißt, kann man an der Hauptschule am Hafen sehen, wo die Schulleitung davon ausgeht, dass viele Kinder, die dort nach der Grundschule anfangen, mit einem „Lernminus“ von drei bis vier Jahren beginnen und de facto keinen guten Start hinlegen können.
Vom Bemängeln wird nichts besser
Man kann das alles bemängeln, aber davon wird nichts besser. Weiß man, weiß Röhr, weiß die Tafel – sie wollen das ändern. Zielgerichteter als bisher, dafür hat die Tafel Dortmund jetzt ein weiteres Gebäude in dem Hof in der Haydnstraße angemietet. Den Stein der Weisen haben sie noch nicht gefunden, aber sie haben angefangen: Mit einem Kochkurs, mit Vorlesen in einer Buchhandlung (Tandem in Hörde). Jetzt sollen in dem neuen, buntbemalten Haus, das „Panoramahaus“ genannt wird, weitere Beratungen folgen.
Denn über die Kinder, das haben die Menschen bei der Tafel gelernt, kommt man an die Eltern. Und die wissen oft gar nicht, welche Hilfen ihnen gesetzlich zur Verfügung stehen.
Laut Röhr geben Bund, Länder und Kommunen im Jahr 200 Milliarden Euro für rund 150 verschiedene Familienleistungen aus. „Das ist sehr viel Geld, aber Experten halten diesen über Jahrzehnte gewachsenen Fördersalat schon lange für undurchsichtig und teilweise für widersprüchlich.“ Nur 30 bis 40 Prozent der Tafel-Kunden, schätzt Röhr, kennen diese Möglichkeiten.
Freiwillige, die sich trauen und neugierig sind
Einmal in der Woche findet jetzt in der Haydnstraße ein „Familieninformationspoint“ statt. Dann arbeitet hier noch eine Frau, sie heißt Heike und bekommt eine Sprechstunde für die Familien mit dem schönen Titel „Heike hilft“. Der Kinderschutzbund ist dabei, aber Röhr ist das nicht genug. Was er sucht, sind Freiwillige, die sich engagieren, die alles Mögliche sein können: Lotsen und Mentoren, Berater und Förderer. Menschen, die Nachhilfe geben können, ein Kind mal mit zum Schachclub nehmen, Familien bei Behördengängen helfen. „Männer und Frauen“, sagt Röhr, „die sich trauen, mit Familien und Kindern zu arbeiten, die neugierig auf neue Menschen sind.“ Was daraus wachsen kann, wird die Tafel sehen, Ideen gibt es noch ein paar, aber jetzt fangen sie dort erst einmal an.
Und wie sollen unsichere Eltern sichere Kinder großziehen?
Röhr hat in seinen sieben Jahren bei der Tafel gelernt, dass arme Menschen sich selten selbst zu Wort melden, ob aus Scham, Wut oder Unsicherheit. Und wie sollen unsichere Eltern sichere Kinder großziehen? Das funktioniert nicht.
Also ist die Tafel, neben der Essensversorgung und der Qualifizierung von Menschen für den ersten Arbeitsmarkt jetzt auch noch in der Kinderhilfe tätig. Und spricht für arme Menschen. Durch Taten, so wie die 400 Ehrenamtlichen. Oder durch Worte, so wie Röhr.
Der jetzt noch schnell zum Fototermin muss. Im Beirat der Tafel gibt es eine Änderung: Manfred Kossack, DSW-Arbeitsdirektor, bisher Schirmherr des Tafel-Beirats, wird seinen Posten an Heike Heim, Vorsitzende der Geschäftsführung der DEW21, weitergeben. Und einen starken Beirat braucht die Tafel, braucht Röhr, damit Türen geöffnet und spezifische Sponsoren gefunden werden können. Auch darum kann die Tafel leisten, was sie tut.
Ich wurde 1973 geboren und schreibe seit über 10 Jahren als Redakteur an verschiedenen Positionen bei Lensing Media. Als problematisch sehen viele meiner Kollegen oft die Länge meiner Texte an. Aber ich schreibe am liebsten das auf, was ich selber bevorzugt lesen würde – und das darf auch gerne etwas länger sein.
