Andrea (53) ist Dortmunder Urgestein vom Wochenmarkt „Wir brauchen ganz sicher keinen Kerl“

Andrea (53) ist Dortmunder Urgestein vom Wochenmarkt: „Wir brauchen ganz sicher keinen Kerl.“
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Andrea Niesel kann fast alles. Einen 7,5-Tonnen schweren Lkw fahren? Kein Problem, macht sie, seit sie 18 ist. Ein 50-Liter Fass in den Lkw wuchten? Schafft sie. Zig Fischarten auswendig kennen? Na klar. Sich von Männern einschüchtern lassen? Keine Chance. Seit 35 Jahren verkauft das Dortmunder Urgestein auf dem Wochenmarkt Fisch.

2017 übernahm sie den Meisfeld-Stand, eine der wichtigsten Adressen für regelmäßige Marktkunden. Hier gibt es frischen Fisch, Meeresfrüchte, Backfisch und alles Mögliche andere aus dem Meer. Über ihre Mitarbeiterinnen hält sie die schützende Hand. Für Kunden ist die IHK-geprüfte Fisch-Sommeliere eine wertvolle Beraterin und manchmal auch eine Schulter zum Ausweinen.

Andrea Niesel hält in ihrem Fischstand auf dem Dortmunder Wochenmarkt einen Fisch in der Hand und deutet an, ihn küssen zu wollen.
So manchen Fisch würde die Dortmunder Fisch-Sommeliere Andrea Niesel am liebsten abknutschen. © Julia Segantini

Ihren ersten Fisch verkauft Andrea mit 13 Jahren, damals noch mit der Mutter in Remscheid. In Dortmund steht sie seit 1989 auf dem Markt. Ihre Eltern sind zu diesem Zeitpunkt schon seit einer gefühlten Ewigkeit im Geschäft.

Andrea ist witzig, offen und direkt, herzlich und Ruhrpott-ruppig. Ihre Stimme ist tief und trieft vor Dortmunder Dialekt. Eine toughe Frau, die gelernt hat, sich zu behaupten.

Andrea sollte eigentlich Groß- und Handelskauffrau werden, fand die Büroarbeit aber so „todlangweilig“, dass sie lieber um drei Uhr nachts ihrer Mutter half, den Fisch für die Kunden vorzubereiten. Also brach sie die Lehre mit 17 Jahren ab.

Wie man Männern Respekt einflößt

Als sie den Führerschein gerade einmal seit ein paar Tagen hatte, fuhr sie schon mit einem 9-Meter-Lkw durch die Gegend. Die Ausrede „Ich traue mich nicht“, ließ ihre Mutter nicht gelten. 7,5-Tonnen-Lkw sind seitdem kein Problem für sie. „Ich finde es richtig geil. Warum soll eine Frau so ein Auto nicht fahren können?“

Erstaunte oder amüsierte Männerblicke und Kommentare kennt die 53-Jährige zur Genüge. Die quittiert sie mit einem Schulterzucken oder frechen Spruch. Wagt es jemand, sich ihr gegenüber respektlos zu verhalten, baut sie sich auf und macht eine ganz klare Ansage: „Hömma Kollege. Ich lass‘ mich von niemandem verarschen oder runtermachen.“

Andrea ist unter Männern aufgewachsen. Ihrer Mutter gehörte zwar der Großhandel, angestellt waren aber nur Männer. „Als ich 13 Jahre alt war, konnten die mir kaum noch Witze erzählen, bei denen ich noch rot geworden wäre.“

Damit sie ernst genommen wird, muss sie härter arbeiten, als ihre männlichen Kollegen. „Bei Männern wird vorausgesetzt, dass sie etwas können, bei Frauen wird vorausgesetzt, dass sie es nicht können. So ein Quatsch. Es gibt höchstens Sachen, die ich nicht machen möchte.“

Diese Zeit damals hat sie stark, unabhängig, selbstbewusst und schlagfertig gemacht. Wenn es ein Problem gibt, verfällt sie nicht in Panik, sondern findet sofort eine Lösung. Das gilt auch für ihren Marktstand in Dortmund. „Hier sind wir nur Mädel. Wir brauchen ganz sicher keinen Kerl.“ Schon mehrfach sei vorgekommen, dass Kunden die Marktfrauen beleidigt hätten. Die verweist Andrea resolut des Standes und kümmert sich dann um ihre Mitarbeiterinnen. Niemand macht Andrea etwas vor.

Kein „kleines Püppi“

Sie ist ein echter Profi. Vor einem Jahr legte sie eine aufwändige Prüfung ab und wurde Dortmunds einzige Fisch-Sommeliere. Sie kann Fische blind an ihrem Geruch oder ihrer Beschaffenheit erkennen, weiß tausende Fakten auswendig.

Ihr Lieferant beliefert auch Sterne-Gastronomie und hat für Andrea immer etwas Besonderes in petto, wie zum Beispiel Wahoo, Lederjacken- oder Himmelsgucker-Lippfisch. Exotische Tiere, die nicht auf jedem Wochenmarkt-Stand zu finden sind, Andrea aber immer wieder mal im Angebot hat, vor allem samstags.

Andrea Niesel zeigt vor ihrem Fischstand auf dem Dortmunder Wochenmarkt einen Teller mit Backfisch.
Frischer Backfisch ist und bleibt ein Klassiker auf dem Dortmunder Wochenmarkt, vor allem, vom Meisfeld-Stand. © Julia Segantini

Privat möchte Andrea nicht ohne einen Mann auskommen. Während des Interviews klingelt andauernd ihr Handy, jeden Anruf drückt sie weg – nur den von ihrem Mann nicht. Der ist elf Jahre jünger und wusste genau, wen er da vor sich hat, als er die alleinerziehende Mutter kennenlernte.

„Er sagt immer: ‚Deine rotzige Art, dass du dich nie unter Druck setzen lassen würdest, das liebe ich.‘“ Andrea liebt, dass er ihre Art so schätzt und nicht stattdessen ein „kleines Püppi“ will, das auf seine Hilfe angewiesen ist. „Bevor ich mir von meinem Mann ein Gurkenglas aufmachen lasse, hau‘ ich da einmal mitm‘ Messer in den Deckel rein und dann is‘ gut.“

Harte Schale, weicher Kern

Und das mit stets perfekt manikürten Fingernägeln. „Ich bin ja immer noch eine Frau“, sagt sie. Das nicht zu vergessen, hat sie gelernt, als sie Mutter geworden ist. Auch wenn damals viele von ihr erwartet hatten, auf der Arbeit kürzerzutreten. Nur noch Mutter sein, das kam für das Arbeitstier nicht infrage. „Ich wäre verblödet.“

Also kam ihre Tochter schon früh in die Tagespflege. „Als ich sie das erste Mal abgegeben habe, habe ich bitterlich geheult und war der festen Überzeugung, ich bin die schlimmste Mutter auf der Welt.“ Ihr Umfeld habe ihr teilweise Vorwürfe gemacht. Doch dass Andrea sie selbst bleiben konnte, habe ihrem Verhältnis zu ihrer Tochter am Ende viel mehr genutzt als geschadet.

Garnelen und anderer Fisch liegen in der Auslage des Fischstands Meisfeld auf dem Dortmunder Wochenmarkt.
Zum Meisfeld-Stand auf dem Dortmunder Wochenmarkt kommen die Kunden, wenn sie auf der Suche nach frischem Fisch sind - oder Andrea Niesel besuchen wollen. © Julia Segantini

Mit ihrer Art kommt sie auch bei den Kunden des Dortmunder Wochenmarkts gut an. Viele hat sie von klein auf aufwachsen sehen. Manche kennt sie so gut, dass sie sich Sorgen macht, wenn sie in den Urlaub fahren und vorher nicht Bescheid sagen. Sie erzählt von einem Stammkunden, der eines Tages ohne seine Frau vor ihr stand. Mit einem Blick wusste Andrea, was los war.

„Ich bin nach vorne gekommen, habe ihn fest umarmt und wir haben zusammen um seine tote Frau geweint.“ In Dortmund wissen die Marktgänger eben, dass sie bei Andrea nicht nur frischen Fisch bekommen, sondern immer einen guten Ratschlag, ein freundliches Wort oder eine Schulter zum Ausweinen.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 31. August 2024.