Hier die wachsende Wohnungsnot, da die innerstädtische Brachfläche, die Platz für bis zu 1400 Wohnungen bietet: eigentlich ein perfektes Match für Dortmund. Doch der Traum vom neuen Vorzeigestadtteil für 35.000 Menschen auf der Industriebrache der ehemaligen Hoesch Spundwand und Profil GmbH ist im Sommer 2023 jäh geplatzt - nach acht Jahren intensiver Planung. Statt Aufbruchsstimmung herrscht seitdem Katerstimmung. Statt hektischem Baulärm gespenstische Stille. Aber es gibt auch neue Hoffnung.
Die Mauer erstreckt sich Kilometer weit rund um das riesige Gelände zwischen Hafen, Unionviertel, Dorstfeld und Huckarde. Wo die mit rankenden Grünpflanzen überwucherte Steinwand verfallen ist, verhindern Metallgitter den Zugang. Immerhin lässt sich da ein Blick erhaschen von dem, was dahinter liegt: eine ausgeräumte Welt. Hallen, Maschinenhäuser, Fertigungsstraßen - fast alle Aufbauten auf dem einstigen Werksgelände sind dem Erdboden gleich gemacht. Nur noch die Walzendreherei an der Huckarder Straße ganz im Osten des Geländes steht noch. Dieser mächtige Backsteinbau, in dem Männer aus Rohlingen die Walzen herstellten: das Werkzeug, um den glühenden Stahl in die gewünschte Z- oder U-Form der europaweit gefragten Spundwände zu formen. Ende 2015 war damit Schluss - nach 113 Jahren. Und Dortmund begann von etwas Neuem zu träumen. Etwas Großem: ein Prestigeprojekt, das dem Bau des Phoenix-Sees in Hörde ein gutes Jahrzehnt zuvor kaum nachstehen würde.
1400 Wohnungen, 7000 innovative Arbeitsplätze, 20.000 Studierende, 1,8 Milliarden Investitionssumme: Was die Stadt und die Essener Thelen-Gruppe als neue Eigentümerin der 52 Hektar großen Fläche dort vorhatten, sollte Maßstäbe setzen: ein komplett neuer, CO2-neutraler Stadtteil, in dem sich arbeiten, studieren, wohnen und dank Grüngürtel und kleinem See auch erholen ließe: Smart Rhino, benannt nach Dortmunds zweitem Wappentier, dem geflügelten Nashorn. Doch das erlitt Ende Juli 2023 eine fatale Bruchlandung. Das für den Bau der Fachhochschule zuständige Land NRW hatte die Reißleine gezogen: zu teuer. Als nicht einmal ein halbes Jahr später bekannt wurde, dass Wohnbebauung auf dem Areal gar nicht erlaubt sei, schien Smart Rhino plötzlich so tot zu sein. Oder? Die Stadt Dortmund widerspricht.
„Qualität vor Schnelligkeit“
Die Stadt habe zwar „auf Pause“ gedrückt, heißt es bei der Stadt Dortmund. „Auf Eis gelegt“ habe sie das Zukunftsprojekt aber keineswegs. „Geplant werden soll weiterhin ein gemischt genutztes Quartier mit den Nutzungen, Wohnen, Arbeiten, Lernen und Freizeit“, sagt Pressereferent Christian Schön im August 2024: „Beabsichtigt ist die Schaffung eines smarten, grünen und klimafreundlichen, CO2-neutralen Quartiers.“ Also alles beim Alten? Nicht ganz.

Nach der Entscheidung des Landes, die Ansiedlung der Fachhochschule Dortmund auf dem HSP-Areal nicht weiterzuverfolgen, braucht es jetzt ein neues Nutzungskonzept, um das alte Ziel umzusetzen. Schließlich habe das bisherige Konzept „in großen Teilen auf Synergieeffekte und Nutzungen“ gesetzt, „die die Ansiedlung einer FH erwartbar nach sich zieht“: eine klaffende Lücke, die erst noch gestopft werden muss: eine Aufgabe für „die kommenden Monate“.
Das Ergebnis - die Grundlage für den neuen Rahmenplan und die daraus resultierenden Bebauungspläne - werde dem Stadtrat vorgestellt. Ob das noch in diesem Jahr wird? Da will sich Schön nicht festlegen. Es klingt aber eher nicht so. „Nichts liegt auf Eis, weder bei der Stadt, noch bei Thelen. Doch es wird viel Zeit brauchen, um ein tragfähiges und gutes neues Konzept zu entwickeln und zu planen. Qualität geht hier vor Schnelligkeit.“
Warten auf „Essen 51“
Dass die Stadt Dortmund in diesem Fall für Thelen mit spricht, ergibt Sinn. Denn Thelen selbst, dieser Essener Branchenriese in Sachen Flächenentwicklung, Vermarktung und eigener Bewirtschaftung, schweigt. Drei Anfragen innerhalb von fast drei Wochen blieben unbeantwortet. Mit der Stadt Dortmund scheint die Kommunikation da besser zu laufen. „Es besteht permanenter Kontakt zur Thelen-Gruppe sowohl auf operativer als auch auf Führungsebene“, versichert Schön.
Ende Juli 2023, kurz nach dem Ausstieg des Landes, war Thelen-Geschäftsführer Christoph Thelen noch gesprächiger. Damals hatte er erklärt, das Projekt auf jeden Fall weiter verfolgen zu wollen, aber erst einmal „die Uhren auf Null stellen“ zu müssen. Von der Homepage des Unternehmens war das Vorhaben indes schnell verschwunden. Dort findet sich prominent ein anderes Vorzeigeprojekt im Revier: „Essen 51“, nicht weniger als die Schaffung eines 51. Stadtteils für Essen – ein Zwilling des Dortmunder Vorhabens.
Mit 52 Hektar Größe ist die Fläche auf dem ehemaligen Krupp-Gelände dort ebenso groß wie die zwischen Dorstfelder Allee, Rheinischer Straße und Huckarder Straße. 1750 Wohnungen sollen in Essen 51 entstehen. Der erste Spatenstich ist bereits erfolgt - vor sechs Jahren. Seitdem war es ruhig geworden um das Projekt. Wie das Handelsblatt berichtet, sollen die Bauarbeiten 2025 voraussichtlich beginnen. Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich nach dem ursprünglichen Plan in Dortmund längst die Baukräne drehen sollten. Pünktlich zur Internationalen Gartenausstellung 2027 (IGA), so hieß es lange, sollten die ersten Gebäude fertig sein. Es war einmal.
Walzendreherei in Denkmalliste
Das heißt aber nicht, dass sich seit dem Aus für die FH gar nichts getan hätte auf der HSP-Fläche in Dortmund. Ende Mai rollten Baumaschinen – allerdings kein Zeichen für den Aufbruch in eine neue Ära, sondern ganz im Gegenteil. Thelen ließ zwei Industriegebäude – weithin sichtbare und beliebte Erinnerungen an die alte Zeit, als Tausende noch bei Karl Hoesch malochten – abbrechen. Das sorgte für eine Welle der Empörung. Denn die Gebäude galten bis dahin als schutzwürdig. Geschützt hat sie das aber nicht.

„Aus verschiedenen Gründen“ hätte die Eintragung in die Denkmalliste der Stadt „seinerzeit nicht erfolgen können“, erklärt Stadtsprecher Schön schwammig. Im Juni war von wiederholtem Vandalismus und Brandschäden die Rede. Immerhin: Mit der ehemaligen Walzendreherei soll das nicht passieren. Unter der laufenden Nummer 1067 ist sie in die Denkmalliste der Stadt Dortmund eingetragen: „Das Äußere und Innere der Gesamtanlage von 1926 inklusive des konstruktiven Innengerüstes und den Luftschutzraum (1935).“ Für alle Veränderungen und Erneuerungen braucht es jetzt eine denkmalrechtliche Erlaubnis. Beim Blick in die Zukunft gibt es mehr Unsicherheit – insbesondere hinsichtlich des so dringend benötigten Wohnungsbaus.
Grundbucheintrag: „seltsam“
Das Problem: Wohnbebauung auf dem riesigen HSP-Gelände ist zurzeit gar nicht erlaubt. Thyssen-Krupp hatte das beim Verkauf ausgeschlossen. Damit der nach wie vor mit Stahl und Co. arbeitende Werkstoffdienstleister Thyssen-Krupp Schulte gleich nebenan nicht früher oder später mit Nutzungskonflikten zu kämpfen habe, hatte der Mutterkonzern aus Essen mit einer sogenannten Dienstbarkeit vorgesorgt: ein Eintrag ins Grundbuch, der für den neuen Eigentümer bindend ist.

Dass das erst Ende 2023 öffentlich bekannt wurde, finden die Mitglieder der offenen Arbeitsgruppe Neue Werk Union „seltsam“. „Das ist das Erste, was man beim Kauf eines Grundstückes nachschaut und mögliche Konflikte löst“, heißt es in einer Erklärung der Gruppe: ein Zusammenschluss von ehemaligen Stahlwalzern über Anwohner bis zu Mitgliedern des Vereins Urbanisten, die den Union-Gewerbehof direkt neben dem HSP-Gelände nutzen. Seltsam auch, „dass dies vorher nie Thema in unseren Gesprächen mit Stadtverwaltung und Eigentümergesellschaft war“. Für die Menschen vor Ort sei es jetzt wichtig, „dass die Brache kein Dauerzustand bleibt“. Und dass sie künftig besser eingebunden werden: „Die Neue Werk Union hatte damals spannende Vorschläge zur Nachnutzung und strategischen Entwicklung gesammelt und selbst gestaltet. Für die interessierten sich aber weder Stadtverwaltung noch Eigentümergesellschaft.“

Wie die Stadt und die Thelen GmbH Thyssenkrupp viele Jahre nach der Unterzeichnung des Kaufvertrags davon überzeugen wollen, wegen der Grundschuld noch einmal nachzuverhandeln, verrät der Stadtsprecher nicht. Aber er nennt zumindest ein Argument, um den Sorgen von Thyssenkrupp zu begegnen.
Die FH-Gebäude, das Kolleg und die Bürogebäude, sagt er, wären so angeordnet und gebaut worden, „dass sie die Wohnbebauung wie eine Lärmschutzwand abgeschirmt hätten“. Konflikte mit der industriellen Nutzung auf dem nach wie vor gewerblich genutzten Gelände wären so „nicht zu erwarten“: eine Gestaltungsidee, die auch bei der Neuplanung ohne FH wieder zum Tragen kommen solle. Fragt sich nur, was an Stelle der FH dort entstehen könnte. Dass ein oder mehrere Berufskollegs ins Quartier ziehen sollen, gilt weiter als sicher.
Machbarkeitsstudie schwieg
Die folgenschwere Restriktion im Grundbuch war zwar lange kein Thema und überraschte auch Teile der Politik, muss der Stadt Dortmund aber von Anfang an bekannt gewesen sein. Sie hatte schließlich selbst mit dem Gedanken geliebäugelt, die HSP-Fläche zu erwerben. Erst als Thyssenkrupp 2016 entschied, alle seine „nicht betriebsnotwendigen“ Immobilien und Grundstücke – rund 1040 Hektar im gesamten Ruhrgebiet – im Gesamtpaket zu verkaufen, war Dortmund ausgebootet. Den Zuschlag in einem der größten Immobiliengeschäfte der Republik bekam das mittelständische Familienunternehmen Thelen. Noch einmal soll die bedeutende Fläche im Herzen Dortmunds - noch zehn Hektar größer als die Vatikanstadt - der Stadt aber nicht durch die Lappen gehen. Dortmund hat sich im April 2024 ein Vorkaufsrecht vertraglich zusichern lassen. Zwar hat die Thelen-Gruppe, die sich selbst als „ausgesprochener Bestandshalter“ bezeichnet, bislang keinerlei Interesse gezeigt, die HSP-Fläche wieder veräußern zu wollen, aber sicher ist sicher.

Bleibt die Frage, warum in der Machbarkeitsstudie von 2020 „Smart Rhino – Zukunftsprojekt für Dortmund und das Ruhrgebiet“ mit keinem Wort zu lesen ist, dass die Schaffung von Wohnraum gar nicht machbar ist und erst die verschwiegene Hürde im Grundbuch verschwinden muss. „Es findet sich kein Hinweis“, schreibt Schön, „weil dort nie ein allgemeines Wohngebiet sondern immer ein attraktives, urbanes gemischtes Quartier mit teilweiser Ausweisung eines sogenannten Urbanen Gebietes (...) und Sondergebietsflächen (...) entstehen sollte.“ Eine Antwort, die am Kern der Sache vorbeiführt: Denn ob im Mischgebiet oder im allgemeinen Wohngebiet: Am Ende handelt es sich um Wohnnutzung, und die ist untersagt.
Standortsuche für FH
Offenbar setzten alle Verantwortlichen von Anfang an optimistisch auf die Hoffnung, sich mit Thyssenkrupp am Verhandlungstisch schon zu einigen: „Zum Zeitpunkt der Machbarkeitsstudie hatten bezüglich der geplanten Wohnnutzung bilaterale Gespräche zwischen der Thelen-Gruppe und der Thyssenkrupp AG stattgefunden, die im Nachhinein nicht zu dem gewünschten Ergebnis geführt haben.“
Vielleich hätte es etwas geändert, wenn auch Vertreter des für den Hochschulbau verantwortlichen Landes NRW am Verhandlungstisch gesessen hätten. Aber die suchen inzwischen lieber woanders einen Standort für die Dortmunder FH, wo das Land Eigentum erwerben kann und nicht mieten müsste, wie es Thelen wollte.
Noch ist die Suche nicht beendet, wie FH und Bildungsministerium mitteilen. Eine Vorentscheidung für den Hafen, den OB Westphal ins Gespräch gebracht hatte, gebe es nicht. Bleibt abzuwarten, was eher zum Erfolg führen wird: die Konzentration der FH-Standorte wo auch immer oder die Schaffung des neuen Stadtteils auf der HSP-Fläche.


Hinweis: Dieser Artikel ist erstmals am 17.8.2024 erschienen.