„Das tägliche Leben gibt es nicht mehr“ Dreiste Diebe stehlen Ulrike (63) das Behinderten-Fahrrad

„Das tägliche Leben ist nicht mehr“: Dreiste Diebe stehlen Ulrike (63) das Spezial-Fahrrad
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Strahlend blauer Himmel, fast wolkenlos. Im Hintergrund die Nordsee - weit, ruhig, nur sachte schäumende Wellen. Schier endloser Strand. Daneben: Ulrike Kleinemeier auf ihrem Spezial-Fahrrad, eine Hand in Richtung Meer gereckt, als wollte sie die Welt umarmen oder zumindest den Moment.

Knapp zwei Monate alt ist dieses Foto erst. Und dennoch ist es eine Aufnahme aus einem anderen Leben. Aus dem, in dem die 63-jährige Dortmunderin noch ihr Fahrrad hatte - ihr Dreirad, das ihr Freiheit und Unabhängigkeit schenkte.

Sommer 2023 auf Ameland - auch auf der niederländischen Insel war Ulrike Kleinemeier mit dem für ihre Bedürfnisse umgebauten Fahrrad unterwegs.
Sommer 2023 auf Ameland - auch auf der niederländischen Insel war Ulrike Kleinemeier mit dem für ihre Bedürfnisse umgebauten Fahrrad unterwegs. © Kleinemeier

Zurück gekämpft ins Leben

Schon relativ früh im Leben hatte Ulrike Kleinemeier einen Hirnstamminfarkt, einen schweren Schlaganfall. Sie lag im Krankenhaus, hatte Wörter, Sätze, klare Gedanken im Kopf. Aber der Körper, die Zunge, der Mund - nichts funktionierte. Die Muskeln gehorchten den Anweisungen aus dem Gehirn nicht mehr.

Kleinemeier kämpfte sich ins Leben zurück: Logopädie, Ergotherapie, intensive Reha, immer wieder neue Stunden, bis zur Erschöpfung. Aber mit einem Ziel: Eigenständigkeit, so weit es gehen mag. Wieder in den Alltag.

Kaum noch Kraft im Bein

Sprachlich hat sie das geschafft, auch wenn ihr noch heute anzumerken ist, wie sehr sie sich konzentriert bei manchen Formulierungen. Körperlich aber war irgendwann Schluss mit den Fortschritten. Und genau da kommt das Fahrrad ins Spiel.

Kleinemeiers rechter Arm hängt schlapp, leicht verkrampft wie bei vielen Schlaganfall-Patienten. Das rechte Bein hat „vielleicht noch 15 Prozent Kraft“, wie die 63-Jährige schätzt. Mit ihrem Spezial-Dreirad konnte sie dennoch durch den Alltag gleiten.

Bremse und Schaltung - alles rechts

„Seit 2007 stand das dahinten im Hof, immer an derselben Stelle“, erinnert sich Kleinemeier: „Denn damit war ich beweglich.“ Das Dreirad - zwei Räder vorne, ein Rad hinten - war speziell für sie gebaut. Gekauft vor 16 Jahren für 3000 Euro, später nachgerüstet mit einem Motor.

Es war eine Art Liegefahrrad mit festem Sitz. Handbremse, Feststellbremse, Gangschaltung, Klingel - alles war auf der rechten Seite montiert. „Das habe ich im Schlaf beherrscht“, erinnert sich die Dortmunderin an die Zeit vor dem 29. September 2023.

An der Rückseite des Spezial-Fahrrads befindet sich ein Korb. "So konnte ich auch problemlos einkaufen", erinnert sich Ulrike Kleinemeier.
An der Rückseite des Spezial-Fahrrads befindet sich ein Korb. "So konnte ich auch problemlos einkaufen", erinnert sich Ulrike Kleinemeier. © Kleinemeier

Endlich frei durchs Viertel

Kleinemeier strahlt, wenn sie sich an ihre ersten Fahrten damals erinnert. Nach dem Schlaganfall sei sie jahrelang nur mit dem Auto oder dem Taxi unterwegs gewesen. Längere Strecken zu Fuß? Nicht möglich. Mit ihrem Spezial-Fahrrad aber „bin ich wieder herumgefahren durch alle kleinen Straßen hier im Viertel“.

Plötzlich sah sie: Der Frisör ist gar nicht weg, sondern nur umgezogen. Und machte gleich einen Termin. Und in all den Jahren danach machte sie sich nicht nur quer durchs Kreuzviertel auf, um ins Café zu gehen. Auch die Wege in die Tremonia-Siedlung, weiter weg zur Physiotherapie oder sogar zur Wittbräucker Straße „zu meiner besten Freundin“ waren wieder möglich.

Warum ausgerechnet dieses Rad?

„Aber dieses tägliche Leben gibt es nicht mehr“, sagt Ulrike Kleinemeier - und ihr Blick wird ernst: „Das ist schlimm, das ist grausam.“ In der Nacht von 29. auf 30. September (Freitag auf Samstag) wurde ihr fast 50 Kilogramm schweres Spezial-Gefährt gestohlen. Offenbar aus dem Hof getragen oder gezogen. Die Spuren im Moos sind noch zu sehen.

Hier stand das Spezial-Fahrrad. Die Spuren sind auch nach Wochen noch im Moos zu sehen.
Hier stand das Spezial-Fahrrad. Die Spuren sind auch nach Wochen noch im Moos zu sehen. © Althoff

Dass in Dortmund viele Fahrräder gestohlen werden - das weiß die 63-Jährige natürlich. Auch dass oft Beschaffungskriminalität dahintersteckt. Dass Suchtkranke die Räder schnell verkaufen wollen, um Geld für neue Drogen zu haben. Aber in diesem Fall? Bei diesem Rad?

„So schnell können Sie gar nicht gucken“

„Der Polizist hat gesagt: Das geht so rasend schnell - so schnell können Sie gar nicht gucken.“ Niemand im Haus hätte etwas mitbekommen, auch die Nachbarn links und rechts nicht. „Bestimmt hat das jemand vorher ausgekundschaftet“, vermutet Ulrike Kleinemeier und schaut traurig auf das Foto vom Meer.

Hätte sie seinerzeit, als sie von der niederländischen Insel Ameland aus aufs Meer hinausblickt, gedacht, dass Diebe genau dieses Dreirad stehlen könnten? Nein, nie, sagt die Dortmunderin.

„Ich bin doch immer herumgefahren, alle kannten mich. Ich konnte das überall abstellen, das brauchte ich noch nicht einmal abzuschließen.“ Wer würde denn auch so dreist sein, einer Behinderten ihr Hilfsmittel wegzunehmen? Und zu welchem Zweck?

Neues Rad erst im nächsten Jahr

Vielleicht würde das Dreirad nun ausgeschlachtet, würden die Einzelteile zu Geld gemacht. Aber dennoch: Der ideelle Wert für sie sei um ein Vielfaches höher. Und nicht nur der.

„Das zahlt keine Versicherung, keine Krankenkasse.“ Ihr Lebensgefährte hat zwar ein gebrauchtes Groß-Dreirad aufgetrieben, das sei jetzt beim Spezialgeschäft zum Umbau. Doch nutzbar sei das erst im nächsten Jahr. Die Kosten: deutlich niedriger als ein komplett neues Spezial-Fahrrad, aber doch weit im vierstelligen Bereich.

Dennoch: Ulrike Kleinemeier will sich nicht beschweren - ganz im Gegenteil.

„Vielen geht es viel schlechter“

Irgendwann, irgendwie werde sie schon wieder mobil sein, werde ihren Alltag zurückbekommen. So, wie sie sich nach dem Schlaganfall auch ihre Sprache wieder erkämpft habe. Aus ihrem früheren Beruf als Medizinisch-technische Assistentin im Krankenhaus hat sie noch viele Bilder im Kopf.

„Jedem Menschen, der mir sagt, wie schlimm das ist, dass ich einen Schlaganfall hatte, dem sage ich: Das ist gar nicht schlimm. Was ist mit MS-Patienten, was mit den Babys, die mit 350 Gramm auf die Welt kommen? Und waren Sie schon einmal in der Onkologie in der Kinderklinik? Da liegen sterbende Kinder.“

Sie hingegen könne ja leben. Jeden Tag aufs Neue.

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