Er ist vorbereitet. Auf dem Wohnzimmertisch liegen DIN A4-Blätter mit handgeschriebenen Notizen. Karl-Peter Ellerbrock (67) hat die großen Linien der Dortmunder Stahlgeschichte nachgezeichnet. „Möchten Sie einen Kaffee?“ Dann geht es los. Ellerbrock ist in seinem Element und nur schwer zu unterbrechen. Stichworte wie „Dortmunder Union“ fliegen durch die Luft, und selbst Namen wie „Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten AG“, kurz Deutsch Lux, kommen ihm fließend über die Lippen.

Ein Stockwerk tiefer, im Untergeschoss seines Wohnhauses, liegt sein Arbeitszimmer. In jedem Winkel des Raumes zeigt sich, dass der Gesprächspartner ein profunder Kenner der Wirtschaftsgeschichte ist. Kein Wunder: 27 Jahre war Ellerbrock Direktor des Westfälischen Wirtschaftsarchivs an der Märkischen Straße. Seit 2023 ist er im „Ruhestand“.
Macht und Herrschaft
Drüben, in der Ecke, ein weißer Helm mit der Aufschrift „Hoesch“. Das Regal an der Wand ist gefüllt mit Büchern und Abhandlungen über die Wirtschaftsgeschichte Westfalens und die Dortmunder Montanindustrie. Ellerbrock fährt seinen PC hoch. „So sah das Gebäude an der Rheinischen Straße früher aus.“ Das Foto, schwarz-weiß, zeigt den Vorgängerbau. Er stand an gleicher Stelle wie das heutige Gebäude. Ein Respekt einflößender Bau mit Zinnen und Türmchen, trotzig und wehrhaft. Er erinnert mehr an eine Burg als an ein Verwaltungsgebäude.
„Das war so gewollt“, erklärt Ellerbrock vor dem Bildschirm sitzend. „Es sollte die Macht und Herrschaft der Stahlbarone symbolisieren“. Das müsse um 1890 herum gewesen sein, meint er. Die Trutzburg auf dem Foto, damals Sitz der Dortmunder Union AG für Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, ist längst Geschichte.
Nach ihrem Abriss entstand dort das heutige Gebäude, erbaut von 1916 bis 1921 und Konzernsitz der Deutsch Lux. Es ist jenes Gebäude, das die Stadt vor kurzem übernommen hat und neu beleben will. Ellerbrock kennt das riesige Haus nur zu gut. Er ist dort über Monate ein- und ausgegangen. Das war lange vor seiner Zeit im Westfälischen Wirtschaftsarchiv.
Ellerbrock fährt den PC runter.
Redenschreiber für Rohwedder
Es war 1988, als er bei der Hoesch Stahl AG anfing. Ellerbrock hatte gerade sein Studium an der Uni Münster beendet (Geschichtswissenschaft, Germanistik, Volkswirtschaft) und zudem seine Promotion in der Tasche. Zurück am Tisch im Wohnzimmer erzählt er, wie er „das große Glück hatte“, im Konzernsekretariat der Hoesch AG an der Eberhardstraße zu arbeiten. „Es war die Stabsstelle für Konzernchef Rohwedder“, sagt Ellerbrock. Nicht, dass er leuchtende Augen bekäme, wenn er den Namen Detlev Carsten Rohwedder erwähnt. Aber seine Achtung, sein Respekt vor dem in Dortmund fast schon legendären und später von Terroristen ermordeten Hoesch-Chef klingt deutlich heraus. „20 bis 30 Reden“ hat er für Rohwedder geschrieben.

Ellerbrock erzählt. Wie er als neuer Mitarbeiter eingebunden worden sei, für Hoesch so etwas wie „Corporate Identity“ zu entwickeln. Eine, in der Tradition und Geschichte des Konzerns eine besondere Rolle spielten. Die Stahlkrise der 70er Jahre und die unglückselige Ehe mit dem niederländischen Stahlkonzern Hoogovens hatten Hoesch kräftig durchgeschüttelt. Ellerbrocks Job war es, ein „Hoesch-Archiv“ aufzubauen. „Da war ich so um die 30“, sagt er.
Er nahm sich unzählige Bücher vor und wälzte Akten, fuhr von der Eberhardstraße zum Verwaltungsgebäude der Hoesch Stahl AG an der Rheinischen Straße. Dort residierten sie, die Stahl-Vorstände von Hoesch: Vorstandsvorsitzender Hans Wilhelm Graßhoff, Arbeitsdirektor Alfred Heese, und, und, und. Man sieht die Akteure von damals quasi vor sich, wenn Ellerbrock erzählt. Hinter dicken Mauern saßen sie, in großen, ausladenden Räumen. Prunkvolle Reliefs an Decken und Wänden. Holzvertäfelte Sitzungsräume. Lichthöfe. „Beim ersten Betreten des Gebäudes ist mir die Kinnlade runtergefallen“, sagt Ellerbrock.
"Es war mein Schatzkästchen"
Monatelang durchkämmte er Keller und Dachböden des großen Verwaltungsgebäudes. Am Wohnzimmertisch sitzend und in seinen Notizen blätternd, erzählt er, wie er auf dem Dachboden auf eine komplette Fachbibliothek über Spundwände gestoßen ist. Musterbücher mit technischen Daten für Kunden sind ihm in die Hand gefallen. Und Arbeiter-Stammrollen aus der Zeit des Hörder Bergwerks- und Hütten-Vereins. Ellerbrock spricht von „historisch ungeheuer wertvollen Erinnerungen“. Namen, Adressen, Alter, Familienstände. Gehörte jemand einer Partei an? War er auffällig, gar widerspenstig? „Das stand alles in den Rollen“, sagt Ellerbrock. Das Gebäude an der Rheinischen Straße sei „sein Schatzkästchen“ gewesen.

Auch andere haben dort Schätze der besonderen Art entdeckt: 2023, das Gebäude stand längst leer, tauchten plötzlich Fotos von auf dem Fußboden verstreuten Unterlagen auf. Unbekannte hatten sich Zutritt geschafft, die sensiblen Papiere mit Namenslisten, Bankverbindungen und Gesundheitsangaben fotografiert und an die Öffentlichkeit gebracht. Aufgeschreckt durch den Fund, gab es kurze Zeit später eine Begehung, bei der weitere 9.000 Aktenblätter gefunden wurden, aufbewahrt in einem Stauraum in der Wandvertäfelung.

Die Dokumente stammten aus der Zeit, als das Gebäude Sitz des Versorgungsamtes war, das sich dort eingemietet hatte. Die einstige Hoesch Stahl AG war zu dem Zeitpunkt längst Geschichte. Aber 2011 zog dann eben auch das Versorgungsamt aus. Es sollte der vorerst letzte Mieter bleiben. Seitdem steht der neoklassizistische Bau an der Rheinischen Straße leer.
Das Hoesch-Archiv, das Ellerbrock aufgebaut hat, schlummert inzwischen im Konzernarchiv von Thyssen-Krupp in Duisburg. Er schiebt seine Notizblätter an die Seite.
Ankündigungen ohne Wert
Eine halbe Stunde später steht er vor dem Gebäude. Es ist kalt und zugig. „Es lobt den Mann, die Arbeit und die Tat“, prangt es in oberhalb des Eingangs, der Schriftzug ist noch gut zu entziffern. Unten vor dem Eingang ein Sperrgitter, das der Wind schräg gestellt hat und das aussieht, als werde es beim nächsten Sturm endgültig aus den Angeln gehoben. Drei leere Bierflaschen gammeln an der Tür, Sperrholz hinter den Fensterscheiben. Ellerbrock wirkt nachdenklich. Man sieht ihm an, dass er über den Zustand des Hauses, so wie er es von damals kennt, doch etwas ernüchtert ist. Schon ein bisschen her, dass er dem Gebäude so nahegekommen ist.
Was mag ihm durch den Kopf gehen, so wie er jetzt dasteht und den Bau prüfend ansieht? Ob er im Stillen all jene Pläne durchgeht, die vermeintlich interessierte Käufer und Investoren im Laufe der Jahre vollmundig angekündigt hatten? Die Peach Property Group, die angeblich Wohnungen und Gewerbe ins Haus bringen wolle? Oder die Novum Gruppe, die das monumentale Gebäude zu einem der größten Hotels in Dortmund umbauen wollte?

Aus all dem ist ja nun nichts geworden. Stattdessen ist das leerstehende Gebäude von einem zum anderen weitergereicht worden. Bis die Stadt dazwischen gegrätscht ist und es vor Kurzem selber gekauft hat. Credo: Wir bereiten dem Bäumchen-Wechsel-Dich ein Ende, sichern uns das Gebäude und entwickeln eigene Ideen, um wieder Leben hereinzubringen. Die Stadt will eine Machbarkeitsstudie vorlegen, inklusive der zu erwartenden Umbaukosten. „Die Sparkasse hat wohl gewusst, warum sie das Gebäude am Ende doch nicht gekauft hat“, sagt Ellerbrock und deutet auf Risse oberhalb des Eingangsportals.
"Stahlgeschichte geschrieben"
So ist das mit Altbauten, für deren Erhalt jahrelang nichts getan wurde. Sie vergammeln und werden zu einem Lost Place. Am Ende droht der schnöde Abriss. Geschichte hin, Geschichte her. Ellerbrock geht auf die andere Straßenseite, schaut sich das monumentale Gebäude aus der Entfernung an. Er weiß, dass alte Bauten wie die frühere Hoesch-Zentrale besonders sind. Es sind Ankerpunkte, die ein Stadtbild prägen können. Ankerpunkte, die Identität vermitteln und vor allem älteren Menschen seelische und optische Orientierung geben. „Das Gebäude hat Dortmunder Stahlgeschichte geschrieben“, befindet Ellerbrock, während eine Straßenbahn vorbeifährt und kurz die Sicht versperrt. „Es ist absolut erhaltenswert.“

Ob er eine Vorstellung habe, welche Karriere das hohle Haus in Zukunft starten könnte? Ellerbrock wartet lange mit der Antwort. Es wirkt, als stelle er, der ja auch Volkswirtschaft studiert hat, erstmal eine Kosten-Nutzen-Rechnung an. Dann sieht er im Geiste einen Inkubator, eine Keimzelle für Start Ups. Er sieht technologieorientierte, innovative, junge Firmen, wie sie in den Räumen forschen, machen, tun und Neues entwickeln. Wenn, ja wenn nur das Smart-Rhino-Projekt mit dem Neubau der Fachhochschule nicht gescheitert wäre, das auf dem früheren Industriegelände quasi im Rücken des Gebäudes entstehen sollte.
Ellerbrock schaut auf die Uhr, er hat einen Anschlusstermin. Kurzer, herzlicher Abschied, dann setzt er sich ins Auto und fährt. Er will genau verfolgen, wie es mit der alten Hoesch-Zentrale weitergeht. Er wird wiederkommen, ganz sicher. Erinnerungen verblassen nicht.