Natascha und Berry Doddema auf der Dachterrasse ihres Tanzzentrums am Westenhellweg 60/62. © Thomas Thiel

Ruhr-Nachrichten-Klassiker

Die verborgene Welt über den Geschäften des Westenhellwegs

Die Geschäfte des Westenhellwegs kennt jeder. Doch was ist in den Stockwerken über ihnen? Ein Streifzug durch die wenig bekannte Welt oberhalb von Dortmunds Einkaufsmeile.

Dortmund

, 05.04.2022 / Lesedauer: 6 min

Vom Westenhellweg werden jeden Tag Millionen Euro in den Wirtschaftskreislauf der Stadt gepumpt. Er hat seinen festen Platz unter den zehn meistbesuchten Einkaufsstraßen der Republik. Entsprechend glitzernd und opulent präsentieren sich viele der mehr als 100 Geschäfte entlang Dortmunds goldener Meile, die nur 750 Meter lang ist.

Über den Läden geht es weniger glamourös zu: Die oberen Etagen werden oft belegt von den Büros, Lagern und Pausenräumen der Händler und Verkäufer.

REIHE„Ruhr-Nachrichten-Klassiker“In unserer Reihe „Ruhr-Nachrichten-Klassiker“ stellen wir alte Artikel vor, die wir zeitlos schön finden.Dieser Artikel erschien erstmals am 2.1.2019

Doch es gibt noch eine andere Welt am Westenhellweg. Sie erreicht man, wenn man durch einen der wenigen Hauseingänge entlang der Straße nach oben gelangt. Es ist oft eine Welt schmuckloser Nachkriegstreppenhäuser und verblichener Namen auf Klingelschildern, manchmal aber auch eine voller überraschender Geschäftigkeit.

Hier finden sich Arztpraxen, Rechtsanwaltskanzleien, Schuldnerberatungen, Haarentfernungsstudios und Änderungsschneidereien. Und manchmal sogar Menschen, die am Westenhellweg wohnen. Wir haben mit einigen Anliegern gesprochen.

Die Hausflure mussten Verkaufsfläche weichen

Von außen sieht der Laden von Rudolf Tewes am Westenhellweg 6 klein aus: Nur wenige Meter breit ist die Front des Juweliergeschäftes, das den Namen seiner Familie trägt und das Tewes in sechster Generation führt. Dafür nutzt der Laden die komplette Tiefe des Gebäudes. Die obersten Stockwerke hat er seinem Nachbar überlassen, der Mode-Kette Wormland, sie hat Durchbrüche zu den Räumen gemacht und nutzt sie nun als Lager. Früher war dort mal ein Briefmarkenhandel untergebracht, darüber Wohnungen. Doch das ist lange her.

„Am Westenhellweg ist jeder Quadratmeter richtig Geld wert“, erklärt der Juwelier. In der Spitze werden Preise von bis zu 190 Euro für den Quadratmeter aufgerufen. Der Flächenmaximierung in den Erdgeschossen fielen im Laufe der Jahre viele Hausflure und Treppenhäuser zum Opfer. Laut Tewes wurden so ganze Etagen ihres eigenen Eingangs beraubt: „Viele Eigentümer verzichten darauf und lassen die Wohnungen über den Geschäften lieber leer.“

Ein halbes Leben am Westenhellweg

Nichtsdestotrotz wohnen am Westenhellweg immer noch Menschen – 166 in 119 Wohnungen sind es, so steht es im Melderegister der Stadt. Selbst im Zentrum der Einkaufsmeile gibt es vereinzelt noch Wohnetagen über den Geschäften. Deren Eingänge liegen dann aber meist an Seitengassen oder gar auf der vom Westenhellweg abgewandten Seite der Häuser.

Werner Trümper kann die Vordertür nehmen. Fast 40 Jahre wohnt der 74-jährige Ex-Hoeschianer nun schon zusammen mit seiner Rita im ersten Stock über der Weinhandlung Hilgering am oberen Westenhellweg, sein Hauseingang ist direkt neben dem Ladenlokal: drei Zimmer, Küche, Diele, Bad, 84 Quadratmeter, alter Mietvertrag – „wir fühlen uns hier sehr wohl“, sagt er. Man habe hier alles in fußläufiger Entfernung, „außer einer Tankstelle und einem Autohaus“. Das fehlende Grün am Westenhellweg kompensieren die Trümpers mit einem Schrebergarten an der Bolmke.

Seit 1979 lebt Werner mit seiner Frau Rita über der Weinhandlung Hilgering. Von seinem Küchenfenster hat er einen perfekten Blick auf Dortmunds Einkaufsstraße. © Thomas Thiel

Als das Ehepaar 1979 ins Herz der Dortmunder City zog, war der Westenhellweg noch ein anderer: „Es gab hier viele Fachgeschäfte, Metzgereien, Maler und Anstreicher, Frisöre, auch die ein oder andere Kneipe“, erzählt Trümper. „Und wenn Westwind war, ist der Trebergeruch der Union-Brauerei durch die Straße gezogen.“ Vor Karstadt habe sich regelmäßig ein Rentnerkreis gebildet, „da standen die alten Hoeschianer und haben sich was erzählt.“

Die Wohnung der Trümpers erinnert ein wenig an die alte Zeit: Auf dem Esstisch in der guten Stube liegen Tischdeckchen, für Besucher wird das gute Geschirr herausgeholt. In der Küche steht ein kleiner Schemel, falls Rita Trümper mal das Treiben auf dem Westenhellweg durch die rüschenbehangenen Fenster beobachten möchte.

Wo Neven Subotic die Welt ein kleines Bisschen besser macht

Im Erdgeschoss des Westenhellwegs 17 wird Unterwäsche verkauft, zwei Stockwerke darüber die Welt gerettet – zumindest ein bisschen. Seit zweieinhalb Jahren liegt hinter dem unscheinbaren Hauseingang die Zentrale der Neven-Subotic-Stiftung. Im zweiten Stock hat die Stiftung des ehemaligen BVB-Verteidigers vier Räume angemietet. Von dort aus arbeiten sechs Festangestellte daran, dass mehr Menschen in Äthiopien Zugang zu sauberem Wasser bekommen. Mehr als 100 Gemeinden und Schulen haben dank der Arbeit der Subotic-Stiftung inzwischen einen eigenen Brunnen, 120 sind derzeit in Arbeit.

Carolin Schulte und Silke Kuhlke sind Teil des Teams, das zusammen in einem Büroraum mit hohen Decken und großen Fenstern zum Westenhellweg hin arbeitet. Von den Wänden strahlen einen glückliche äthiopische Kinder an, im Besprechungsraum nebenan stehen große Wasserkanister im Regal. „Wir liegen hier sehr zentral, die gute Anbindung war uns wichtig bei der Standortwahl“, sagt Kuhlke. Das habe aber auch Nachteile, sagt Schulte: „Die Lärmbelastung ist sehr hoch.“

Vom Westenhellweg 17 aus koordinieren die Mitarbeiter der Neven-Subotic-Stiftung Brunnenbauprojekte in Äthiopien. © Thomas Thiel

Tatsächlich sorgt der Passantenstrom auf dem Westenhellweg für ein stetes leises Grundrauschen im Büro, auch wenn die Fenster geschlossen sind. Außerdem kennen die Stiftungs-Mitarbeiter längst jeden Straßenmusiker des Westenhellwegs. „Hier steht eigentlich immer jemand“, meint Schulte.

Sie sind nicht die einzigen ungewöhnlichen Mieter im Haus Westenhellweg 17. Die Entwicklungshelfer teilen sich die Etage mit einer Modelschule samt eigenem Catwalk. In den Stockwerken darüber sind normale Wohnungen. Von den Nachbarn kriege man eigentlich nie etwas mit, man nehme höchstens mal ein Paket an.

Betriebswohnung in architektonischem Kleinod

Architektonisch gesehen ist der Westenhellweg ein einziges Durcheinander: An prunkvolle Gründerzeit-Gebäude grenzen hässliche 60er-Jahre-Bausünden, in modernen Glasfassaden spiegeln sich gesichtslose Nachkriegshäuser. Eines der schönsten Gebäude der Einkaufsmeile steht an der Ecke Hansastraße, gegenüber der Mayerschen Buchhandlung.

Das Haus mit der Adresse Westenhellweg 23 ist eines der schönsten Gebäude an Dortmunds Einkaufsstraße. Im obersten Stock unterhält Salamander eine Betriebswohnung. © Thomas Thiel

Der vierstöckige, sandsteinfarbene Bau aus dem Jahr 1907 beherbergt eine Filiale der Schuh-Kette Salamander – und im obersten Geschoss eine von Dortmunds zentralsten Betriebswohnungen. Sie wird von Mitarbeitern genutzt, die von weiter weg stammen. Im Laden selbst will man ohne Rücksprache mit der Zentrale nicht allzu viel dazu sagen, erst recht nicht einen Reporter in die Räume lassen. Die Wohnung sei ziemlich klein und bescheiden eingerichtet. „Der Blick vom Balkon kann sich aber sehen lassen“, sagt eine Mitarbeiterin.

Das fast unsichtbare Tanzzentrum

Das Modern Dance Center ist eine der großen deutschen Schulen für Bühnentanz. Weit über 500 Tänzer werden hier in Ballett, Modern und Jazz Dance ausgebildet, dazu gibt es Hip-Hop, Stepptanz und Flamenco-Kurse. All das denkt man nicht, wenn man die unscheinbare, zwischen Nordsee und Douglas eingeklemmte Eingangstür sieht – wenn man sie denn überhaupt bemerkt.

Passiert man sie, muss man erst durch einen gekachelten, teilweise verspiegelten Flur und dann mit einem etwas altersschwach anmutenden kleinen Aufzug in den dritten Stock fahren, bis sich das ganze Ausmaß des Modern Dance Centers erschließt. Seine 1350 Quadratmeter großen Räumlichkeiten erstrecken sich über drei Etagen und zwei Häuser, Westenhellweg 60 und 62, die auf diesen Ebenen miteinander verbunden wurden. Die Schule hat vier Tanzsäle, eine Kostümkammer mit 8000 Stücken, sogar eine eigene Bühne für Auftritte. Dazu kommt noch eine große bepflanzte Dachterrasse mit Blick auf die Propsteikirche.

Das Theater des Modern Dance Centers im vierten Stock des Westenhellwegs 60/62 hat eine eigene kleine Tribüne. Es ist ausgelegt für insgesamt 99 Zuschauer und ist der ganze Stolz von Natascha und Berry Doddema. © Thomas Thiel

Das Tanzzentrum ist ein echter Familienbetrieb. 1981 gründeten es Berry und Gudrun Doddema, damals noch auf einer Etage, in den Räumen eines alten Teppichhandels. Mittlerweile kümmert sich Tochter Natascha mit um die Geschäfte. Während Natascha Kurse gibt oder im Büro arbeitet, ist die Versorgung ihrer beiden Kinder gesichert: Die Großeltern Berry und Gudrun leben nämlich auch im Haus, ihre Wohnung liegt direkt über dem Tanzzentrum. „Das ist purer Luxus“, sagt Natascha Doddema, die mit ihrer Familie außerhalb wohnt.

Berry Doddema schätzt das Stadtleben, die vielen Ausgehmöglichkeiten in Laufdistanz. Doch das Leben mitten auf dem Westenhellweg hat auch Nachteile. Ihn stört zum Beispiel der respektlose Umgang vieler Menschen mit dem öffentlichen Raum, den er seit der WM 2006 beobachtet: „Man pinkelt uns ab und an vor die Haustür.“ Silvester würden seine Frau und er immer verreisen, „weil das in der Stadt dann nicht mehr schön ist.“

Blickdichte Jalousien gegen das Straßenlaternenlicht

Die Trümpers vom oberen Westenhellweg haben sich arrangiert mit den speziellen Bedingungen der wohl bekanntesten Dortmunder Straße. In ihrem Schlafzimmer hilft eine blickdichte Jalousie, die Außenwelt auszuschließen. Ohne sie könnte das Ehepaar nicht schlafen: „Durch die Straßenlaternen ist es hier Tag und Nacht hell“, sagt Trümper.

Auch die Fenster müssen nachts zu bleiben. Manchmal würden in den frühen Morgenstunden junge Leute grölend über den Westenhellweg ziehen, „die interessiert nicht, ob hier Leute wohnen oder nicht.“

Wahrscheinlich wissen sie es gar nicht.

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