Die 10er-Jahre in Dortmund: Aufbruch, Angst und viele BVB-Partys

© Dieter Menne

Die 10er-Jahre in Dortmund: Aufbruch, Angst und viele BVB-Partys

rnDekaden-Rückblick

Hoppla. Schon ist wieder ein ganzes Jahrzehnt rum. Pünktlich zum Start der 20er-Jahre blicken wir im Dortmunder Dekaden-Rückblick auf das zurück, was diese Stadt seit 2010 geprägt hat.

Dortmund

, 30.12.2019, 17:34 Uhr / Lesedauer: 4 min

Schon ist dieses Jahrzehnt nur noch das, was die 70er, 80er oder 90er sind. Weitere knapp 3651 Tage an diesem Ort auf dem Planeten Erde, der sich Dortmund nennt. DJs schreiben schon die Party-Ankündigungstexte um: „... und das Beste der 10er“.

Und so wie jeder von uns ein Foto vom Jahreswechsel 09/10 neben ein aktuelles Foto legen könnte und dabei so erschrocken wie amüsiert über die Veränderung sein dürfte, so hat auch die Stadt ihr Gesicht verändert.

U-Turm, Phoenix-See, Thier-Galerie: Aufbruchstimmung am Beginn des Jahrzehnts

Man würde das Dortmund von vor zehn Jahren wohl nicht wiedererkennen. Das Dortmund, in dem am U-Turm (eröffnet 2010) gerade erst die Bilder fliegen lernen. In dem der Phoenix-See (geflutet 2010) nur eine leere Grube ist, an dessen Ufer Häuser nur in der Fantasie existieren. In dem die alten Brauerei-Hallen auf der Thier-Brache gerade abgerissen sind und die gleichnamige Shopping-Galerie (eröffnet 2011) erst langsam in die Höhe wächst.

Der Phoenix-See im Jahr 2010 zu Beginn der Flutung.

Der Phoenix-See im Jahr 2010 zu Beginn der Flutung. © Dieter Menne

In Dortmund herrscht rückblickend in dieser Zeit das Gefühl vor, dass ein großes Jahrzehnt vor der Stadt liegt. Ein bisschen was von „Die Zukunft ist jetzt“ und „Das wird unser Jahrzehnt“ begleitet Großprojekte wie das U oder den Phoenix-See. Natürlich nicht ohne die gewisse Grundskepsis, die zum Dortmunder Wesen dazu gehört und auch angebracht ist.

Der BVB euphorisiert ab 2011 die ganze Stadt

Alles scheint perfekt, als des Dortmunders Lieblingskind, der glorreiche BVB, zu Beginn des Jahrzehnts eine Wiedergeburt erlebt, wie sie niemand für möglich gehalten hätte. Und damit die Stimmung in der Stadt aufnimmt.

Plötzlich ist dieser Club, um den Hunderttausende noch wenige Jahre zuvor gezittert hatten, 2011 wieder Deutscher Meister und verzaubert die Fußball-Welt. Mit einem Team aus Dortmunder Jungs. Mit einem Trainer, den diese Stadt sofort adoptiert und für immer in ihr Herz schließt. Drei Jahre lang sind alle irgendwie Jürgen Klopp und er ist einer von uns. Rubbeldikatz. Am Borsigplatz. Und das gleich dreimal in einem Jahrzehnt.

Wir alle sind Kloppo: Ein BVB-Fan 2013 in London.

Wir alle sind Kloppo: Ein BVB-Fan 2013 in London. © Felix Guth

Das gipfelt in Momenten wie im Jahr 2013. Die zum Champions-League-Finale (nach Malaga!) gegründete „Lokalredaktion London“ mit den Kollegen Jana Klüh (damals noch Schoo), Philipp Ostrop und Felix Guth läuft mit einem lebensgroßen Klopp-Aufsteller aus Pappe über den Trafalgar Square und ist für einen Moment der Mittelpunkt Londons.

Bayern-Spieler Arjen Robben wird zur Euphoriebremse

Ein paar Stunden später hat der Traum ein Ende. Das Finale gewinnt nicht der BVB. Und ein bisschen ist es so, als hätte dieser Arjen Robben an diesem Abend im Mai 2013 mit seinem Tor die Dortmunder Euphorie für dieses Jahrzehnt gebremst.

Denn die Aufbruchstimmung in der Stadt weicht ab 2012/2013 zunehmend der Realität. Das Dortmunder U wirkt zwar von Anfang an als Landmarke und Dortmund-Symbol. Ihm haftet aber mittlerweile der Makel des Millionengrabes an. Bis heute dauert die Suche nach dem richtigen künstlerischen Konzept für das gigantische Bauwerk an.

Am Phoenix-See beginnt nach der Flutung das Jahrzehnt der Bauindustrie, die hier Milliarden umsetzt. Hier entsteht ein neues Stadtviertel und der hippe neue Freizeitort für die ganze Region. Mit all den Diskussionen über das neue Miteinander (oder auch Nebeneinander), die das mit sich bringt.

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Gleiches mit der Thier-Galerie. Sie wird zum Umsatzmotor und Anziehungspunkt. Gleichzeitig leiden andere Teile der Dortmunder City. Veränderung hat eben immer zwei Seiten.

Insgesamt hat Dortmund eine Menge geschafft

Insgesamt gibt Dortmund beim Foto-Vergleich zwischen 2010 und 2019 ein ganz gutes Bild ab. Phoenix-West ist fast ausgewachsen. Die Westfalenhütte befindet sich mitten in der Transformation.

In einer wachsenden Stadt sind moderne Neubaugebiete und Szeneviertel entstanden. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Was nicht den Blick dafür trüben darf, das es auch Teile von Dortmund gibt, in denen es heute nicht besser ist als vor zehn Jahren.

Die zweite Dekaden-Hälfte bringt vielen Dortmundern bei, wie unmittelbar Dinge, die in scheinbar weit entfernten Teilen der Welt passieren, Folgen für das Leben vor Ort haben können. Dortmund wird zu einem Drehkreuz für die Fluchtbewegungen, die innerhalb Europas ab 2014 einsetzen.

Geflüchtete kommen 2015 am Dortmunder Hauptbahnhof an.

Geflüchtete kommen 2015 am Dortmunder Hauptbahnhof an. © dpa

Im Sommer 2015 und auch danach zeigen viele Dortmunder, mit wie viel Herz und Energie diese Stadt bereit ist, neue Menschen aufzunehmen. Unwidersprochen der vielen Herausforderungen für Wohnungsmarkt, Arbeitsmarkt und Zusammenleben, die mit der Zuwanderung einer hohen Zahl an neuen Dortmundern in kurzer Zeit einhergehen: Dortmund hat eine Menge geschafft.

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Das Jahrzehnt, in dem Hass und Angst nach Dortmund kamen

Es gibt Menschen, die sehen das anders. Die ihren Hass auf Andersdenkende in den 10er-Jahren auch in Dortmund in hässliche Taten und Bilder umgesetzt haben. Da sind Neonazis in gelben T-Shirts, die 2014 vor dem Rathaus auf Menschen einprügeln. Mit mehreren anderen Ereignissen ist das ein Symbol für die Radikalisierung der Dortmunder Rechtsextremen in den vergangenen zehn Jahren, die Dortmund weiterhin beschäftigen wird.

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Der islamistische Terror hinterlässt ebenfalls seine Spuren in Dortmund. Nach den Terroranschlägen in Paris 2015 begleitet Fußballspiele und Pop-Konzerte plötzlich ein diffuses Angst-Gefühl, das bis heute nicht ganz weggegangen ist. 2016 erreicht es auch den Dortmunder Weihnachtsmarkt, den seit dem Attentat am Berliner Breitscheidplatz große Betonklötze „schmücken“.

2017 versucht ein Mann, aus Habgier die gesamte Mannschaft des BVB in die Luft sprengen. „Irgendwann ist doch auch mal gut“, möchte man diesem Jahrzehnt zurufen. Denn es waren dann in Summe doch ziemlich viele Dramen in Dortmund: Vom Envio-Umwelt-Skandal 2010 über den Dreifach-Mord an Kindern 2012 bis zu einer absichtlich herbeigeführten Hausexplosion mit einem Todesopfer mitten in Hörde 2017.

Beim Kirchentag zeigen die Dortmunder, was für gute Gastgeber sie sind

Doch zum Glück ist das hier immer noch Dortmund. Eine Stadt, die sich nicht so einfach von Rückschlägen abhalten lässt. Denn es gibt immer einen Grund weiterzumachen.

Beim Kirchentag im Sommer 2019 dürfen Menschen aus der ganzen Welt wieder das Gastgeber-Dortmund bewundern. Überhaupt ist Dortmund in den vergangenen zehn Jahren beliebter und interessanter geworden. Das darf man dann auch mal als Kompliment für die Lebensart einer Stadt auffassen.

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Spoiler: Es wird sich auch im nächsten Jahrzehnt eine Menge verändern. Im September 2020 wird Dortmund garantiert einen neuen Oberbürgermeister haben. Ullrich Sierau hat das gesamte vergangenen Jahrzehnt die Stadt regiert - was ihn automatisch zu einer prägenden Figur dieser Zeit macht. Übrigens: Auch die 10er-Jahre begannen mit einer Oberbürgermeister(Wiederholungs)-Wahl.

Die Großereignisse der 20er: Europameisterschaft und Internationale Gartenschau

Im nächsten Jahrzehnt warten Großereignisse. Die Fußball-Europameisterschaft 2024, die einen Hauch vom Sommermärchen der „00er“-Jahre nach Dortmund zurückbringen soll. 2027 findet mit der Internationalen Gartenschau im Ruhrgebiet eine Veranstaltung statt, die das Stadtbild nachhaltig zum Positiven verändern könnte.

Bis dahin ist dann vielleicht auch die Debatte über eine ökologischere und nachhaltigere Stadt nicht mehr so vergiftet wie sie jetzt ist. Dass sie weiterhin geführt wird, ist mehr als wahrscheinlich. Und notwendig.

Dortmund wird sich im neuen Jahrzehnt weiterhin bekannten Problemen wie sozialer Ungleichheit oder Sicherheit stellen müssen. Und doch ist es nicht kühn zu prognostizieren, dass im Dekaden-Rückblick am 31.12.2029 Themen auftauchen werden, von denen wir heute noch keine Vorstellung haben.