Deutscher WM-Auftakt am Alten Markt Wie voll waren die Kneipen in Dortmunds Gastro-Hotspot?

„Keiner schaut die WM, aber die Kneipen sind voll“
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Eine Weltmeisterschaft beginnt in Deutschland erst so richtig, wenn auch die eigene Nationalelf ins Turnier startet. In diesem Fall also an einem Mittwoch. Um 14 Uhr. Im November. Einige Minuten vor dem Anpfiff laufe ich über den Weihnachtsmarkt. Dabei schnappe ich auf, wie jemand über Polarlichter spricht.

An einer Glühweinbude stehen vier grauhaarige Männer. Aus den Tassen vor ihnen dampft es. Ob sie gleich das Spiel schauen? „Auf keinen Fall“, sagt einer. „Das unterstützen wir nicht“, stimmen ihm die drei anderen zu. Dabei interessieren sie sich eigentlich für Fußball. Boykott am Glühweinstand also.

Das Wenkers am Alten Markt hat sich überlegt, ganz demokratisch zu entscheiden, ob es die Spiele zeigen wird oder nicht. Mit einem Mikrofon will man vor allen Deutschland-Spielen fragen, ob die Leute die Partie sehen wollen. Zum Auftakt geht es übrigens gegen Japan. Eigentlich alle, die zu diesem Zeitpunkt in der Kneipe sitzen (etwa ein Drittel der Plätze sind belegt) heben die Hand. Das heißt: Ja. Das Spiel wird gezeigt.

Mit dem Andrang zum Auftaktspiel habe man im Wenkers nicht gerechnet, sagt Kellnerin Roukan Habasch.
Mit dem Andrang zum Auftaktspiel habe man im Wenkers nicht gerechnet, sagt Kellnerin Roukan Habasch. © Lukas Wittland

Zum Anstoß ist das Wenkers fast voll. „Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet“, sagt Kellnerin Roukan Habasch. Für die Schicht bis 15 Uhr seien deshalb auch nur zwei Leute eingeteilt gewesen. Sonst seien um 14 Uhr nicht so viele Leute im Wenkers.

7. Minute: Japan schießt ein Tor. Abseits. Es zählt nicht.

„Ja, da müssen se aufpassen, schnell sind die Japaner“ - „da darfste den Ball einfach nicht verlieren“, höre ich vom Tisch gegenüber. An ihm sitzt Thorsten Dahm mit Freunden. Der 39-Jährige trägt einen weißen Trainingsanzug mit schwarz-rot-gelben Streifen. Auf dem Rücken steht Deutschland. Auf den Kapuzenpullovern seiner Freunde steht: „Für immer Westfalenstadion“ und „Flensburger Pilsener“.

Ein paar Fans sind auch im Deutschland-Trikot im Wenkers anzutreffen gewesen. Der Großteil kam aber ohne Fankleidung.
Ein paar Fans sind auch im Deutschland-Trikot im Wenkers anzutreffen gewesen. Der Großteil kam aber ohne Fankleidung. © Lukas Wittland

17. Minute: Antonio Rüdiger köpft knapp am Pfosten der Japaner vorbei.

Die Männer mit den beschrifteten Pullis bekommen es nicht mit, da gerade das Fass auf den Tisch gestellt wird, das sie bestellt haben. Sie hätten den Tag schon lange geplant, um sich mal wiederzusehen, sagt Thorsten Dahm in der Halbzeit draußen bei einer Zigarette. Da steht es übrigens 1:0 für Deutschland.

Weil es kalt ist, hat er sich eine schwarz-rot-gelbe Jacke übergezogen. Bei der Arbeit konnte er heute früher gehen. Ihm sei die WM schon wichtig, sagt er. Trotz der ganzen Diskussionen, die es auch vor dem Wenkers gibt, war für ihn klar, dass er sie schauen wird. „Fußball und Politik sollte man nicht vermischen“, findet er.

Thorsten Dahm konnte bei der Arbeit am Dienstag früher gehen, um das Auftaktspiel der Nationalmannschaft zu sehen.
Thorsten Dahm konnte bei der Arbeit am Dienstag früher gehen, um das Auftaktspiel der Nationalmannschaft zu sehen. © Lukas Wittland

Das sieht auch sein Freund mit dem „Für immer Westfalenstadion“-Pulli so. Das mit dem Früher-bei-der-Arbeit-Schluss-machen war bei ihm nicht ganz so leicht. Er wird am Donnerstag auch „krank“ sein, deshalb will er seinen Namen nicht nennen.

„Wir als Deutschland können da ohnehin nichts machen. Diese ganze Diskussion um die Binde hat mir nicht gefallen. Sport ist keine Politik, das gehört da nicht hin“, sagt er.

Fifa verbat Kapitäns-Binde

Die Fifa hatte der deutschen Nationalmannschaft wie anderen Mannschaften auch mit Sanktionen gedroht, sollte sie mit der „One Love“-Kapitänsbinde auflaufen. Sie sollte ein Zeichen gegen Diskriminierung sein.

„Darüber, dass die WM nicht in den Winter gehört und dass die Fifa eine korrupte Mischpoke ist, müssen wir nicht reden“, sagt der Mann im Kapuzenpullover, aber jetzt sei es einfach zu spät.

„Vor 12 Jahren hätte man was machen müssen“, findet auch Toni Wenge. Er ist in die Diskussion vor dem Wenkers eingestiegen. „Entweder man spielt Fußball oder man lässt es. Diese Vermischung jetzt braucht es nicht.“

Der 59-Jährige wohnt in Castrop-Rauxel und ist selbstständig. Weil er ohnehin gerade beruflich in Dortmund war, macht er einfach eine ausgedehnte Mittagspause. Er sieht sich die WM an, weil er einfach gerne Fußball schaue, sagt er.

Toni Wenge ist selbstständig. Einen Arbeitsaufenthalt in Dortmund hat er für eine längere Pause im Wenkers genutzt.
Toni Wenge ist selbstständig. Einen Arbeitsaufenthalt in Dortmund hat er für eine längere Pause im Wenkers genutzt. © Lukas Wittland

So ist das auch bei Maurice. Mittlerweile läuft die zweite Halbzeit. Er sitzt mit seinem Chef am Tisch neben mir. Den Besuch im Wenkers haben sie spontan zum „Strategiemeeting“ erklärt. „Das Politische kam bei mir im Freundeskreis gar nicht so zur Sprache“, sagt er. „Wir sind alle zu sportbegeistert.“ Ein Boykott käme ja doch nicht da an, wo er soll. Aber dass viel falsch läuft, findet auch er.

76. Minute: Tor für Japan. 1:1.

Toni Wenge blickt über seinen Tisch herüber. „Verdient“, sagt er nur knapp. Die anderen stimmen ihm zu. Mittlerweile gibt es mehr Interaktionen zwischen den Tischen, das Gemurmel ist lauter geworden, die ärgerlichen Rufe auch. Ob das diese WM-Stimmung ist? Oder einfach nur das Bier?

Ich frage Maurice, was er denn glaubt, wie Deutschland abschneiden wird? In diesem Moment schießt Asano aus spitzem Winkel das 2:1 für Japan. Maurice, der gerade noch das Wort Halbfinale auf der Zunge liegen hatte, korrigiert sich auf „Aus in der Gruppenphase“. „Aber dann können wir jetzt den Weihnachtsmarkt genießen“, sagt er und lacht.

Das Bangen in der siebenminütigen Nachspielzeit nützt auch nichts mehr. Deutschland verliert sein Auftaktspiel mit 1:2.

Kurz nach dem Spiel sind viele Plätze schnell wieder frei. „Wir kommen extra erst jetzt“, sagt Veronika Herrmann, die sich mit einer Freundin an einen Tisch in der Ecke setzt. Die WM werde sie nicht schauen. „Dass es da nur noch ums Geld geht, ist an Peinlichkeit nicht zu überbieten“, findet sie und resümiert: „Keiner schaut die WM, aber die Kneipen sind voll.“

Zumindest fürs Wenkers stimmt das an diesem Mittwoch. Ich nehme meine Jacke und gehe raus. Auf dem Alten Markt riecht es nach gebrannten Mandeln.

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