Heute sitzt Rüdiger Tiaden selten selbst hinter dem Steuer. Aber er arbeitet noch immer bei den Dortmunder Stadtwerken. © Jens Ostrowski

Kriminalität

Der Busfahrer, der Nicole Schalla fuhr: „Mir geht ihr Bild nicht mehr aus dem Kopf.“

6213. Vier Ziffern haben sich Rüdiger Tiaden ins Gedächtnis gebrannt. Sie stehen für seine Schicht am 14. Oktober 1993. Der Tag, an dem Nicole Schalla ihrem Mörder begegnete. In Tiadens Bus.

Dortmund

, 10.03.2019 / Lesedauer: 5 min

Noch heute kommt es vor, dass Rüdiger Tiaden einen Linienbus durch das Jungferntal lenkt. Auf Höhe der dortigen Grundschule wandert sein Blick automatisch nach rechts. Gegen die Bewegung kann er sich nicht wehren. Sie gleicht einem Automatismus. „Durch das Unterbewusstsein ausgelöst“, sagt Tiaden. An der Stelle, an der Nicole am Tag nach der grausamen Tat gefunden wurde. Der Mörder hatte das leblose Mädchen in der Feuerwehrzufahrt der Schule unter einer Hecke liegen lassen. Ihre Kopfhörer steckten noch auf den Ohren, als man sie fand. Der Walkman hatte die Batterien mittlerweile leer gezogen.

Ein Bild geht Tiaden nicht aus dem Kopf

Tiaden kennt diesen Kopfhörer. Als die 16-jährige Nicole gegen 22.45 Uhr an der Haltestelle Willstätter Straße, nur wenige hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt, aus seinem Bus gestiegen war, hatte sie sich ihn aufgesetzt. Ein letztes Mal. Wie das blond gelockte, junge Mädchen mit beiden Händen nach ihrem Kopfhörer greift und ihn über die Haare streift – ein Bild, das Tiaden nicht aus dem Kopf bekommt. Kurz darauf steigt auch ein junger Mann aus, mit dunklen Locken, in Jeans und schwarzem Kapuzenpulli. Ihn sieht Tiaden damals nur flüchtig. Es ist nichts Besonderes. Hunderte Menschen steigen täglich aus seinem Bus aus. Ein ganz normaler Tag.

Busfahrer aus Leidenschaft

Doch dieser Tag ist anders. Dabei beginnt alles so normal. Tiaden, 32 Jahre alt und Vater eines dreijährigen Jungen, löst damals am Huckarder Bushof um 15.30 Uhr einen Kollegen auf der Linie 62 ab. Der Spätdienst hat den internen Code 13, Tiadens Schicht ist also die 6213. Die vier Ziffern sollten sich in Tiadens Gedächtnis einbrennen.

Die Temperaturen liegen bei 14 Grad, der Himmel ist bewölkt. Es ist Regen angesagt. Rüdiger Tiaden arbeitet da bereits seit vier Jahren bei den Dortmunder Stadtwerken. Damals trägt der Fahrer noch Schlips. Tiaden sitzt gerne auf dem Bock, ist Busfahrer aus Leidenschaft. Für seine Fahrgäste hat er immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. An diesem Tag fährt er den MAN-Gelenkbus auf der Linie zwischen Marten und Huckarde. Die Strecke ist damals wie heute in Dortmund eine der fahrgaststärksten. Bis kurz nach Mitternacht wird seine Schicht dauern.

Der fremde Mann folgt Nicole in die gleiche Richtung

Nicht mehr lange bis Feierabend, als etwa 22.30 Uhr an der Haltestelle Kirchlinder Post Nicole Schalla in den Bus steigt. Sie ist auf dem Heimweg von ihrem Freund in Herne, wohnt selbst bei ihren Eltern im Jungferntal. Vorschriftsgemäß lässt Tiaden ab 20 Uhr die Fahrgäste vorne einsteigen. Wer rein oder raus will, muss direkt am Fahrer vorbei. „Nicole ist mir durch ihre lockigen Haare gleich aufgefallen“, sagt Tiaden. „Sie zeigte mir ihre Schülerfahrkarte.“ Wo sie sitzt, ob sie sich mit jemandem unterhält – was hinter dem Fahrersitz passiert, bekommt Tiaden nicht mit. Eine Viertelstunde später verlässt die junge Frau den Bus an der Willstätter Straße. Auch der Mann steigt aus. „Beide gingen in die gleiche Richtung“, das sieht Tiaden noch schemenhaft im regennassen Außenspiegel. Das war‘s. Tiaden fährt davon, macht kurz darauf Feierabend.

Die 16-jährige Nicole-Denise Schalla wurde am 14. Oktober 1993 im Jungferntal erwürgt. © Ruhr Nachrichten

Am nächsten Mittag sitzt der Familienvater schon wieder auf dem Bus nach Schwerte. Dann kommt ein Funkspruch. „Ich wurde von unserer Leitstelle aufgefordert, sofort eine Nummer der Polizei anzurufen.“ Tiaden telefoniert von einer Telefonzelle aus. Alles geht ganz schnell. Am Hörder Bahnhof wird er abgelöst und von zwei Kriminalbeamten erwartet. Sie nehmen ihn mit ins Präsidium an der Markgrafenstraße. Als Zeuge. Noch weiß er nicht, worum es geht. Doch er ahnt: Es muss etwas Schlimmes passiert sein.

Tiaden identifiziert Nicole über ihren Schülerausweis

Tiaden wird in einen kleinen Raum gebracht. Nebenan, das erfährt er später, sitzen die Eltern von Nicole, einen Raum weiter der Freund aus Castrop-Rauxel. Von Tiaden wollen die Ermittler wissen, ob ihm am Vortag ein blondes Mädchen aufgefallen sei, das in den Abendstunden im Jungferntal den Bus verlassen habe. Tiaden erinnert sich sofort an Nicole Schalla. Noch kennt er ihren Namen nicht. Dann werden ihm Fotos vorgelegt, vom Tatort, vom Schülerausweis. „Ja, das ist das Mädchen aus dem Bus.“ Jetzt erfährt Tiaden, dass sie tot ist. „Für mich war das ein Schock“, sagt Tiaden. Nur Augenblicke, nachdem er Nicole abgesetzt hatte, musste sie angegriffen worden sein. Gerade mal 30 Meter von der Haltestelle entfernt ist sie später gefunden worden.

Der Busfahrer zeigt die Strecke, die er gefahren ist, wo Nicole ein- und ausgestiegen ist. Und er gibt den Tipp zu dem jungen Mann in dem schwarzen Kapuzenpulli. Nach Tiadens Angaben wird ein Phantombild gezeichnet. Sechs Wochen lang steuert Tiaden, der sonst täglich auf einer anderen Strecke eingesetzt wird, den 62er in den Abendstunden. Mit im Bus sitzen Zivilpolizisten. Doch die Hoffnung, dass der Mann nochmal einsteigt und Tiaden ihn wiedererkennt, erfüllt sich nicht. 25 Jahre lang erfährt Tiaden von den Ermittlungen nichts mehr.

So berichteten die Ruhr Nachrichten im Oktober 1993 über den Mord an Nicole Schalla. © Ruhr Nachrichten

Los lässt der Fall den 57-Jährigen dennoch bis heute nicht. Viele Jahre lang schaltete Nicoles Familie am Todestag eine Zeitungsanzeige. Sie wollte nicht, dass das Schicksal ihrer Enkelin in Vergessenheit gerät. Rüdiger Tiaden haben diese Anzeigen erreicht. Jedes Mal. Und immer wieder bedrückte ihn die Frage, ob er etwas hätte tun, den Tod des Mädchens verhindern können. Doch da gab es nichts zu tun.

DNA-Treffer nach 25 Jahren

Am Montag (11. 3.) wird Tiaden zum zweiten Mal vor Gericht aussagen. Nach 25 Jahren gibt es einen Tatverdächtigen. Im Juni 2018 lieferte die Spur F14_P1, eine Hautschuppe, die in Nicoles Leistengegend gefunden wurde, einen langersehnten Treffer. Dank neuester DNA-Technik. Die Spur führt zu Ralf H., 53 Jahre alt, Castrop-Rauxeler. Er muss sich derzeit vor dem Dortmunder Schwurgericht verantworten, bestreitet die Tat.

Der Angeklagte Ralf H. verbirgt sein Gesicht hinter einem Aktenordner. Er bestreitet die Tat. © Martin von Braunschweig

Ist er der Mann, der Nicole damals aus dem Bus gefolgt ist? Ist er der Mann, nach dem Tiaden sechs Wochen lang Ausschau hielt? Ist er der Mörder? Tiaden weiß es nicht. Aber er hat eine Meinung, ein Gefühl. Darüber will er nicht sprechen. „Am Ende muss das Gericht entscheiden, ob hier der Täter auf der Anklagebank sitzt“, sagt der Busfahrer, der noch heute als Teamleiter für die Dortmunder Stadtwerke arbeitet.

Aber er hofft, dass der Fall endlich gelöst wird. Für die Familie. „Ich kann es den Eltern nur wünschen. Ich habe sie vor Gericht getroffen, ihnen den Schmerz angesehen, der sie nach so langer Zeit noch immer erfüllt. Gewissheit ist das einzige, was ihnen jetzt noch helfen kann.“

Rüdiger Tiaden wird am Montag im Mordfall Nicole-Denise Schalla vor dem Schwurgericht aussagen. © Jens Ostrowski

Und auch Rüdiger Tiaden würde eine Zentner schwere Last von den Schultern fallen, wenn der Fall endlich gelöst werden könnte. Es ist ihm anzusehen.

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