Der Blick hinter die Fassade: Prostituierte in der Linienstraße

© Bild Brökelschen

Der Blick hinter die Fassade: Prostituierte in der Linienstraße

rn100 Jahre Mitternachtsmission

Die Mitternachtsmission feiert 100-jähriges Bestehen. „Aber doch nicht ohne uns“, sagten die Prostituierten in der Linienstraße – und erlaubten einer Künstlerin den Blick in ihre Arbeitswelt.

Dortmund

, 20.09.2018, 10:03 Uhr / Lesedauer: 3 min

Wenn Bettina Brökelschen in die Linienstraße kommt, winken ihr die Prostituierten in den Fenstern zu. Man kennt sich. Die Künstlerin war in den vergangenen zwei Jahren häufig zu Besuch. Sie hat den Kosmos in der 200 Meter langen Bordellstraße mit dem Pinsel eingefangen und in dieser Zeit das Vertrauen der Sexarbeiterinnen gewonnen.

Als die Frauen in der Linienstraße gewahr wurden, dass die Mitternachtsmission ihr 100-jähriges Bestehen in Dortmund feiert, wollten sie auch ein Bestandteil der Erinnerungskultur sein; denn die Bordelle in der Linienstraße waren Hauptanlass zur Gründung der Mitternachtsmission 1918. Bis heute kümmert sich die Fachberatungsstelle um Menschen in der Prostitution sowie Opfer von Menschenhandel.

Fasziniert von Sanftmut und Schönheit

„Wir machen etwas Besonderes“, beschied Jutta Geißler-Hehlke zum Anliegen der Frauen. Sie war bis 2012 Leiterin der Mitternachtsmission und leitet heute den Förderverein. Die Ausstellung „Menschen in der Linienstraße“ mit den Bildern von Bettina Brökelschen eröffnet am 22. September (Samstag) in der Petri-Kirche.

Bettina Brökelschen war zunächst fasziniert von der Schönheit und dem Sanftmut der Frauen, war beeindruckt von der Solidarität in der Linienstraße. Man hört sich zu, hilft sich bei Problemen, lässt alles in seinem Zimmer stehen und liegen, wenn eine von ihnen den Alarmknopf drückt. Oder geht ein Weilchen weg vom Fenster und überlässt derjenigen das Feld, die schon länger auf einen Kunden wartet.

„Als ich das erste Bild gemalt habe, bin ich noch kritisch beäugt worden“, erinnert sich die Künstlerin. Doch nach und nach kam man sich menschlich näher. Sie aß mit den Frauen zu Mittag, trank Kaffee mit ihnen, durfte in ihre Zimmer gucken, hörte ihre Geschichten, erfuhr vom Ärger mit Behörden, fehlenden Krankenversicherungen und Problemen bei der Wohnungssuche.

Der dritte Mann beim Liebesspiel

Die Bilder zeigen die Frauen in ihrem Arbeitsumfeld. Die Zimmer hat Bettina Brökelschen authentisch, die Frauen typgerecht gemalt. „Doch wenn man weiß, wer es ist, kann man sie erkennen“, sagt Jutta-Geißler-Hehlke, die selbst auf einem der Bilder verewigt ist. Ebenso wie der pensionierte Beamte aus dem Sittenkommissariat, Heiner Minzel.

Bettina Brökelschen stellt ihre Bilder der Mitternachtsmission kostenlos zur Verfügung. Sie sollen als Wanderausstellung durch verschiedene Gemeinden gehen. Bei der Ausstellungseröffnung wird sie erklären, wie ihre Bilder entstanden sind. Etwa das vom dritten Mann. „Der dritte Mann“, ist jemand, den Kunden in der Linienstraße zu einem Liebesspiel hinzubestellen können.

Stammkunde bringt Reibeplätzchen mit

Ein Bild zeigt Hauswirtschafterin Ulla in ihrer Küche, wie sie heimelig in der Suppe für das gemeinsame Mittagessen rührt. Sie ist der gute Geist und eine Mutterfigur für die Frauen. Das Bild strahlt eine warme Atmosphäre aus. Hier darf auch eine Domina mal Schwäche zeigen.

Und es gibt Stammkunden, die verbindet mehr als das Geschäftliche mit den Frauen. Wie der Mann, der mittwochs immer Reibeplätzchen mitbringt.

Nette Kolleginnen

„Ich bin eine emotionale Malerin“, sagt Bettina Brökelschen. „Ich male, was ich sehe, höre, rieche und fühle.“ Die Ausstellung ist eine Gratwanderung. In der Linienstraße sind die Arbeitsverhältnisse zwar geregelt und die Frauen keine Opfer von Menschenhandel, doch Prostitution bleibt Prostitution. Kein Traumjob.

Wer die mit Sympathie und Mitgefühl gemalten Bilder von Bettina Brökelschen sehe, verstehe, dass die Frauen angesichts des wohlwollenden Klimas untereinander nicht ohne weiteres aussteigen wollten, sagt Jutta Geißler-Hehlke: „Nette Kolleginnen sind Gold wert. Da hängt man an so einem Ort.“

Zu erotisch für die Petri-Kirche

Die Nachfrage nach freien Plätzen in der Linienstraße sei groß, sagt sie. „Als ich mal eine Stunde dort war, sind fünf Frauen vorbeigekommen, die dort arbeiten wollten.“ Die Bordellbesitzer achteten aber darauf, dass verschiedene Typen von Frauen hinter den Fenstern sitzen, neben blonden vollbusigen auch knabenhafte mit dunklen Haaren.

Manche Bilder von Bettina Brökelschen waren zu erotisch, um sie in der Stadtkirche St. Petri, zeigen zu können. Sie sollen zu einem späteren Zeitpunkt in einer Ausstellung im Fletch Bizzel zu sehen sein.

Domina und Bordellbetreiber diskutieren mit

Begleitet wird die Ausstellung von einer Podiumsdiskussion am 26. September (Mittwoch). Thema: „Alles Nutten, oder was? Sind Prostituierte der Mülleimer der Gesellschaft?“ Auf dem Podium sitzen ein Bordellbetreiber, eine Domina und ihr Kunde sowie Vertreter von Kirche, Polizei und Mitternachtsmission.

Die Podiumsdiskussion beleuchtet die Stellung von Prostituierten in der Gesellschaft. Geißler-Hehlke: „Die Frage lautet, wie sehen sich die Frauen selbst und wie werden sie von anderen gesehen?“

Die Ausstellung „Menschen in der Linienstraße“ wird am Samstag, 22. September, 19 Uhr, in der Stadtkirche St. Petri, Westenhellweg (gegenüber Galerie Kaufhof) eröffnet. Jeweils zur vollen Stunde wird die Künstlerin bis 23 Uhr ihre Arbeit vorstellen. Die Ausstellung läuft bis zum 4. Oktober und ist dienstags bis freitags von 11 bis 17 Uhr und samstags von 10 bis 16 Uhr zu sehen. Die Podiumsdiskussion „Alles Nutten, oder was? Sind Prostituierte der Mülleimer der Gesellschaft“ ist am Mittwoch, 26. September, 19.30 bis 21 Uhr, ebenfalls in der Petri-Kirche.