Hippies schwebten auf Haschisch-Wolken, auf der Bühne spielten Black Sabbath und Supertramp: Das Fantasio war 1970/71 Dortmunds wildester Club - und von Anfang an zum Scheitern verurteilt.
Ruud van Laar ist etwas eingesunken im tiefen Sofa seiner vollgestellten Wohnung im Unionviertel, er richtet seinen Blick in die unbestimmte Ferne der tiefen Erinnerung, als er nach über zwei Stunden Gespräch etwas wehmütig sagt: „Es war ein einziger großer Trip, diese Zeit!“
Van Laar meint die 17 Monate von Februar 1970 bis Juni 1971. In dieser Zeit betreibt der heute 75-jährige Niederländer das Fantasio, Dortmunds damals wildesten Club. Die Spielwiese für Dortmunds Hippies in ihren Afghanenmänteln, aber auch für die adretter angezogene Jugend der Stadt. „Do what you like“ steht in psychedelischen Farben über dem ehemaligen Kino an der Münsterstraße 77, „mach, was du willst“.
Die Dealer saßen auf einem selbst gezimmerten Schuppen
Drinnen, im riesigen alten Kinosaal, erwartet die Besucher eine düstere Traumlandschaft: Aus der Decke ragen verschieden große Quader („für bessere Akustik“, behauptet van Laar), hinter dem Tresen, der mitten im Raum platziert ist, steht ein toter Baum mit Plastikpuppen an seinen kahlen Ästen, auf einem Podest steht ein ausrangierter Zahnarztstuhl gleich einem Thron. Auf einer Art Gondel, die von der hohen Decke hängt, spritzen Mitarbeiter Farbe auf Ölscheiben. Die dadurch zufällig entstehenden Bilder werfen sie mit Diaprojektoren an die Wände.
Auf dem Platz der früheren Leinwand steht die Bühne, flankiert von riesigen Boxentürmen, und direkt daneben ein selbstgezimmerter Schuppen. Er dient den Bands als Backstage-Bereich. Bei Konzerten sitzen auf seinem Dach die Stammgäste und die Dealer, die darauf achten, dass den Musikern während des Auftritts nicht das Hasch ausgeht.

„Das Fantasio war ein Meilenstein in meinem Leben“, sagt Ruud van Laar heute. © Thomas Thiel
Und Konzerte gibt es einige: In der kurzen Zeit seiner Existenz erlebt das Fantasio 135 Auftritte. „Meine Telefonrechnungen lagen teilweise über 1000 Mark im Monat, weil ich ständig neuen Bands hinterhertelefoniert habe“, erzählt van Laar.
Mit durchschlagendem Erfolg: „Das Programm des Fantasio liest sich heute wie ein Rock-Lexikon der frühen 1970er-Jahre“, schrieb vor einigen Jahren die Dortmunder Musik-Internetseite Tongebiet. Supertramp, Steamhammer und Yes spielen an der Münsterstraße, auch die damals noch unbekannten Kraftwerk. „Es sprach sich ganz schnell rum, dass da auf einmal einer in Dortmund war, der alles bucht“, sagt van Laar.
Hören Sie in den Sound des Fantasio rein - in unserer Playlist:
Black-Sabbath-Konzert mit nur fünf Tagen Vorlauf
So kommt er auch an Black Sabbath. Die Briten um ihren charismatischen Sänger Ozzy Osbourne sind im August 1970 für zwei große Festivals in den Niederlanden gebucht und suchen noch eine Location für ein kleines Konzert vorab, quasi zum Warmspielen. So wird die Band kurzfristig Ruud van Laar angeboten, für eine Gage von 3600 Mark. Auch wenn der Konzerttermin bereits fünf Tage später ist, schlägt der Fantasio-Betreiber zu. „Ihr damals aktuelles Album ‚Paranoid‘ lief richtig gut“, erklärt van Laar fast 50 Jahre später.
Nach dem Deal wird es hektisch: Schließlich müssen die Dortmunder erst einmal erfahren, dass Black Sabbath in die Stadt kommt. „So wurde ich zum vielleicht ersten Wildplakatierer Dortmunds“, erzählt van Laar. Er stellt zusammen mit dem befreundeten Künstler Egon Hünneke im Siebdruck 100 selbst entworfene Plakate her, damit sie möglichst schnell trocknen, hängt er sie überall in seiner Wohnung auf.
„LEGENDEN DES DORTMUNDER NACHTLEBENS“
In der Serie „Legenden des Dortmunder Nachtlebens“ stellen wir immer samstags eine legendäre Dortmunder Diskothek oder Bar vor.
Danach kleistert er das Fina-Parkhaus an der Kuckelke mit ihnen zu, damit die Berufsschüler des benachbarten Fritz-Henßler-Hauses sie zu Gesicht bekommen. Am Ende kommen 600 Zuschauer. Durch die 6 Mark Eintritt pro Kopf kommt van Laar gerade so ohne finanziellen Verlust aus der Nummer heraus.
„Absolut angesagt und eigentlich immer proppenvoll“
Durch Aktionen wie diese katapultiert van Laar sein Fantasio schnell in die Spitze der Szene-Läden im Ruhrgebiet. „Das war absolut angesagt und eigentlich immer proppenvoll“, erinnert sich der heute 67-jährige Dortmunder Uli Rösler, damals ein häufiger Gast. „Die ganze Nordstadt traf sich da und in den benachbarten Läden Oma Plüsch und Würfel.“
Auch Klaus Walz ist oft im Fantasio - besser gesagt im Keller des alten Kinos. Dort hat Walz‘ Band Epitaph ihren Probenraum. „Der war völlig verdreckt und wenn es geregnet hatte, stand das Wasser einem bis an die Knöchel, aber dafür war er kostenlos“, erinnert sich der Dortmunder Gitarrist, der später unter anderem mit der Krautrock-Band Jane eine internationale Karriere hinlegte.

„Das Fantasio war ein magischer Anziehungspunkt für alle Künstler im Umkreis von 100 Kilometern“, sagt Klaus Walz, der mit seiner Band Epitaph im Keller des Clubs probte. © Thomas Thiel
Über die Strahlkraft des Clubs sagt Walz: „Das Fantasio war ein magischer Anziehungspunkt für alle Künstler im Umkreis von 100 Kilometern.“ Und das habe vor allem an Ruud van Laar gelegen: „Der Ruud hatte den Finger am musikalischen Puls der Zeit. Er kannte sich echt aus, egal obs Jazz, Blues, Rock, Funk oder Soul war.“ Wenn van Laar abseits der Konzerte in seinem Club auflegte, „musste er stundenlang Fragen vom Publikum beantworten, wie diese und jene Platte hieß.“
Lebenskünstler van Laar wurde eher zufällig nach Dortmund gespült
Van Laar ist zu dieser Zeit in der Dortmunder Szene bekannt wie ein bunter Plateauschuh. Den gebürtigen Utrechter hat das Leben 1965 eher zufällig wegen eines Kumpels nach Dortmund gespült, nach mehreren Jahren in London und Spanien. Ein Lebenskünstler, der sich unter anderem als Fahrer für die Hüttenunion und eine Butterfabrik über Wasser hält.
1967 wird er dann DJ, „weil ich im Suff meinen Führerschein verloren hatte“, wie er erzählt. „In einer Zeit, in denen in anderen Läden noch Frank Sinatra lief, spielte ich Jimi Hendrix und die Stones.“ Van Laar, der von sich behauptet, den Soul nach Dortmund gebracht zu haben, macht sich mit Szene-Läden wie dem „Bird‘s Club“ und der „Pille“ einen Namen in Dortmund.
Großartiger DJ, lausiger Geschäftsmann
Doch so gut er als DJ ist, so lausig stellt sich van Laar oft als Geschäftsmann an. Fast 100 Läden eröffnet van Laar im Laufe seiner langen Nachtleben-Karriere bis heute, darunter andere legendäre Läden wie das Jara und das Café Bohemien, doch keiner hält sich lange. „Ich bin mindestens 40 Mal pleite gegangen“, sagte er einmal dem Dortmunder Onlinemagazin „Pflichtlektüre“. Van Laar ist die Idee wichtiger als Businesspläne: „Alle Sachen, die ich gestartet habe, habe ich ohne Geld gestartet.“
Schon bald gerät auch das Fantasio in finanzielle Schieflage. Das liegt unter anderem an dem überbordenden Drogen-Konsum. Van Laar selbst verkauft zwar kein Haschisch, toleriert aber den Verkauf in seinem Laden. Oft hängt eine große Haschisch-Wolke über den Köpfen im alten Kinosaal. „Eigentlich war jeder im Club zugedröhnt“, sagt van Laar. Da hat kaum noch einer Geld für das Bier, das van Laar verkauft. „Stattdessen hingen die Leute in der Toilette unter den Wasserhähnen.“

Der selbstgezimmerte Schuppen neben der Bühne diente den Bands als Garderobe - und den Gästen bei Konzerten als Platz mit besonderer Aussicht. © Privatarchiv van Laar
Ebenfalls schlecht fürs Geschäft ist die laxe Einlassregelung im Fantasio. „Wer beim Türsteher sagte: ‚Ich will zu Ruud‘, musste die 6 Mark Eintritt nicht bezahlen“, sagt van Laar. Leider spricht sich das schnell herum, so dass bald fast jeder nur noch „zu Ruud“ will.
Van Laar lässt Rory Gallagher mit Privatflugzeug einfliegen
Den Todesstoß versetzt dem Fantasio ein größenwahnsinniger Plan von van Laar. Der hat es sich 1971 in den Kopf gesetzt, das erste Konzert von Rory Gallagher auf dem Kontinent zu organisieren. Der irische Rockmusiker ist zu diesem Zeitpunkt einer der heißesten Newcomer der britischen Musikszene.
Tatsächlich schafft es van Laar, den Zuschlag für zwei Konzerte zu bekommen, eines im Fantasio, eines in einem extra angemieteten Club in Hannover - doch zu halsbrecherischen Konditionen: Er verpflichtet sich, den Musiker und seine Band mit einem Privatflugzeug von London direkt nach Dortmund einzufliegen. Zusammen mit der Gage kostet das van Laar 14.000 Mark. Geld für Werbung für die Auftritte ist da im Budget nicht mehr drin. Zu den Konzerten kommen jeweils nur 300 Menschen - eine finanzielle Katastrophe.
Die Geschichte des Fantasio endet mit einem Offenbarungseid
Danach ist van Laar mehr oder weniger pleite. Eine hohe Nachzahlung wegen des enormen Stromverbrauchs des Fantasio kann er nicht mehr begleichen - die Stadtwerke drehen ihm den Saft ab. Die Geschichte des Fantasio endet mit einem Offenbarungseid von van Laar.
Trotzdem hat van Laar fast nur positive Erinnerungen an den legendären Club. Heute, 49 Jahre später, sagt er: „Das Fantasio war ein absoluter Meilenstein in meinem Leben. Es war das Realisieren eines Traumes, der zum Scheitern verurteilt war, einer alternativen Realität, die mit unserer Wirklichkeit nicht vereinbar war.“
1984 geboren, schreibe ich mich seit 2009 durch die verschiedenen Redaktionen von Lensing Media. Seit 2013 bin ich in der Lokalredaktion Dortmund, was meiner Vorliebe zu Schwarzgelb entgegenkommt. Daneben pflege ich meine Schwächen für Stadtgeschichte (einmal Historiker, immer Historiker), schöne Texte und Tresengespräche.
