Der BVB hat die besten Fans der Welt. Keine Tribüne der Welt macht so viel Stimmung wie die Süd in Dortmund. Das betonen sie in der Stadt, im Verein, in der Fußballwelt gerne. Lange wollte das niemand anzweifeln. Doch die Stimmung, sagen viele, war selten so schlecht wie zuletzt.

DORTMUND

, 24.02.2018, 05:50 Uhr / Lesedauer: 7 min

Der Malaga-Moment

Der 9. April 2013. Dortmund, Signal Iduna Park. Es ist 22.36 Uhr. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen. Sie schreien vor Glück, sie weinen vor Glück. Bier spritzt in den Stadionhimmel. Vier Minuten. Zwei Tore. Und der BVB macht das Wunder gegen Malaga zur Wirklichkeit, zieht ins Halbfinale der Champions League ein.

Zwei Wochen später gewinnt die Borussia 4:1 gegen Real Madrid im eigenen Stadion. Und obwohl am 25. Mai Arjen Robben mit seinem Tor das Champions-League-Finale für die Bayern entscheidet, stehen 25.000 Borussen Arm in Arm im Wembley-Stadion und singen: Und wir werden immer Borussen sein.

Fünf Jahre später

Knapp fünf Jahre später. Der 15. Februar 2018. Die 89. Minute im Spiel gegen Atalanta Bergamo. Es steht 2:2. Der BVB braucht noch ein Tor, um sich gute Chancen auf ein Weiterkommen in der Europa League zu bewahren. Auf der Nordtribüne gehen Hunderte blauweiße Schals in die Höhe. Die italienischen Fans singen pathetisch. Auf der Süd ist es relativ ruhig.

„Vier Minuten Nachspielzeit“, brüllt BVB-Stadionsprecher Nobby Dickel ins Mikro, „kommt, Jungs.“ Ein Raunen geht durchs Stadion. „Jetzt noch einmal Malaga“, sagt einer auf der Westtribüne. Und für einen kurzen Moment ist es wieder da, dieses Gefühl, dass dieses Stadion alles schaffen kann, dass diese Fans Spiele entscheiden können. Pass Götze, Schuss Batshuayi. 3:2. Bier spritzt in den Stadionhimmel. Menschen liegen sich in den Armen.

Gewonnen.

Aber das Gefühl ist ein anderes.

Das Gefüge ist ins Wanken geraten

Klar, es ging hier nicht ums Champions-League-Halbfinale. Es ist die ungeliebte Europa League, Sechzehntelfinale, das Hinspiel. Aber in fünf Jahren ist viel passiert. Und jene Euphorie von damals ist nicht mehr als ein Gefühl, das man mal gekannt hat.

Das komplexe Gefüge der BVB-Familie ist in den vergangenen Wochen, vielleicht sogar Jahren ins Wanken geraten. Die Fans diskutieren mehr, als dass sie jubeln. Die Unruhe im Verein hat längst die Anhänger der Borussia erreicht. Die Liste der Baustellen, die die Fans beschäftigen, ist lang. Und am Ende leidet die Stimmung – unter den Fans und im Stadion.

„Die Stimmung ist in den vergangenen zwei Jahren schlechter geworden“, sagt Burkhard Kurz vom Fanclub Totale Offensive. „Es ist längst nicht mehr wie 2011“, sagt Andreas Goldberg vom Fanclub international. „Ich glaube, wir sind jetzt wieder auf Normalniveau.“

Wolfgang Gurowietz vom Heinrich-Czerkus-Fanclub sieht „eine gewissen Ratlosigkeit“ was die Stimmung unter den Fans angeht. Von Tristesse spricht Sascha Roolf, BVB-Fan und Mitarbeiter des Fanzines Schwatzgelb. „Ich kenne wenige Leute, die noch mit Begeisterung ins Stadion gehen. Dass man sich montags schon auf samstags freut, das ist nicht mehr so.“

Alles wie immer? Viele Fans, finden, dass das nicht so ist.

Alles wie immer? Viele Fans, finden, dass das nicht so ist. © Dieter Menne

Details, die das Gesamtbild verändern

Wer sich an einem normalen Spieltag in Richtung Stadion aufmacht, der merkt nicht sofort, dass etwas anders ist. Die festen Wege, die Rituale, das Verkleiden, die Freunde im Stadion, diese wiederkehrende Hoffnung, heute würde man etwas ganz Besonderes erleben – all das ist immer gleich. Doch wer schon länger zum BVB geht, dem fallen Details auf, die das Gesamtbild verändern.

Wo früher Fans in Kutten standen, stehen heute modisch gekleidete Menschen mit Selfie-Sticks. Alle paar Meter schwärmen Fußballtouristen in einer anderen Sprache von der tollen Atmosphäre und dem günstigen Bier. Es sind viel mehr Familien unterwegs als früher. Fußball ist das Event für Jedermann, nicht gerade günstig, aber irrsinnig beliebt. Das ist schön. Das hat aber auch Folgen.

"Wir stehen am Scheideweg"

Thilo Danielsmeyer ist seit fast 26 Jahren im Dortmunder Fan-Projekt aktiv und begleitet die BVB-Fanszene. „Jetzt habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass etwas kippen könnte. Wir stehen am Scheideweg“, sagt er.

Der Fußball ist im Ruhrgebiet tief verwurzelt in der Lebenswelt der Menschen. Danielsmeyer und viele andere sind sich unsicher, ob das so bleibt. „Ist Fußball noch von so überragender Bedeutung oder ein kommerzielles Großereignis, das die Lebenswelt der Menschen nicht mehr betrifft?“, fragt er. Er habe eine gewisse Resignation bemerkt. „Vor zwei Jahren wäre es noch unvorstellbar gewesen, sich ein BVB-Spiel nicht anzugucken“, sagt Danielsmeyer.

Man ist sich selten einig

Die Gegenwart im Tribünengespräch: Die aktiven Fans schimpfen über die „Eventis“, die nicht für den Fußball brennen. Die „Eventis“ und auch langjährige Dauerkartenbesitzer nervt der Dauersingsang der Ultras von der Süd. So richtig einig ist man sich eigentlich selten.

Um die aktuelle Stimmungs-Schieflage zu verstehen, hilft ein Blick zurück.

Der Beginn einer rauschhaften Zeit: die Meisterschaft 2011.

Der Beginn einer rauschhaften Zeit: die Meisterschaft 2011. © Dieter Menne

Die Party des Lebens - und die Kopfschmerzen danach

Das Beschleunigungstempo beim BVB ab der Meisterschaft 2011 war raketengleich. Irgendwann wirkt die Bremse. Was der Klub und seine Fans unter Jürgen Klopp erlebt haben, ist erst mit etwas Abstand so richtig zu verstehen, wenn man noch einmal die „Danke Kloppo“-Sonderdrucke von 2015 durchblättert.

Irgendwie lag in dieser Zeit ein besonderer Geist über der gesamten Stadt. Er ist mit Klopp verschwunden und seitdem nicht wieder gekommen. „Wir haben zwischen 2010 und 2013 die größte Party unseres Lebens gefeiert“, sagt Jan-Henrik Gruszecki, aktiver BVB-Fan. „Vielleicht sind das jetzt die Kopfschmerzen nach der Party.“

Als der BVB im vergangenen Mai den DFB-Pokal gewinnt, der erste Titel nach fünf Jahren, feiern Tausende in Berlin und Dortmund. Aber viele Fans bestätigen das Gefühl, dass es sich nicht mehr so wichtig und richtig angefühlt hat wie noch vor einigen Jahren.

Der Pokalsieg 2017, so berichten es viele Fans, hat sich anders angefühlt, als die Erfolge 2011 und 2012.

Der Pokalsieg 2017, so berichten es viele Fans, hat sich anders angefühlt, als die Erfolge 2011 und 2012. © dpa

Es sind verschiedene Dinge, die die Fans beschäftigen, die miteinander verknüpft sind und ein Bild der Unruhe ergeben. „Es ist ein dickes Bündel, das auf die Fans zukommt und viele nachdenklich stimmt“, sagt Thilo Danielsmeyer.

Die sportliche Entwicklung

Analysen und Lösungsvorschläge gibt es so viele wie es BVB-Fans gibt. „Am Ende ist es der Erfolg, der die Stimmung beeinträchtigt“, sagt Burkhard Kurz vom Fanclub Totale Offensive. Der BVB wird seinen sportlichen, seinen spielerischen Ansprüchen und denen der Fans aktuell nicht gerecht. „Es gibt eine große Unsicherheit, wie es sportlich weitergeht“, sagt Jan-Henrik Gruszecki.

Die Fans wollen das Spektakel, das sie jahrelang gewohnt waren. „Es ist nicht mehr der Dortmunder Fußball“, sagt Andreas Goldberg. „Immer nur Zweiter bis Vierter zu werden ist eben nicht so sexy. Das ist nichts, was groß zum Träumen anregt“, sagt Sascha Roolf. „Die Leichtigkeit ist weg“, meint Burkhard Kurz.

Gestiegener Wert

Mit dem Erfolg des BVB seit der Meisterschaft 2011 ist auch die Erwartungshaltung gestiegen. Genauso wie der wirtschaftliche Wert des Ganzen. Hans-Joachim Watzke hat selbst die Milliarden-Grenze ins Gespräch gebracht. Für seine Mannschaft gab der BVB laut UEFA-Finanzreport 2016 140 Millionen Euro aus. Es geht auch auf der Tribüne oft um Geld. Wer 30 Millionen gekostet hat, darf keine einfachen Pässe ins Aus spielen, wer vier Millionen im Jahr verdient, darf keine Stellungsfehler machen, heißt es da. Oder doch?

Die Identifikation mit den Spielern, die solche Summen kosten und verdienen, fällt den Fans schwer. „Das sind nicht mehr unsere Jungs auf dem Platz“, sagt Gruszecki. „Das Verhältnis zu den Spielern ist rationalisiert. Und das sorgt für Unwohlsein.“

Die Unruhe im Verein

Der BVB war zuletzt ein multifunktionaler Schlagzeilenbringer für Medien aller Art. Spieler, die den Klub erpressen. Der Anschlag. Die Diskussion um Thomas Tuchel. Die Lamborghinis der Topstars. Wenig davon hat mit Fußball im ursprünglichen Sinne zu tun. Das nervt viele Fans.

„Es ist sehr viel neben dem Fußball passiert, das auf die Stimmung drückt“, sagt Sascha Roolf. „Eine Saison ohne Nebengeräusche wäre sicherlich hilfreich.“

Ein dunkler Moment: Die Anzeigetafel im Stadion, zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens des Anschlags auf den Mannschaftsbus im April 2017.

Ein dunkler Moment: Die Anzeigetafel im Stadion, zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens des Anschlags auf den Mannschaftsbus im April 2017. © Stephan Schütze

BVB spricht mit den Fans

Der BVB will sich zur Stimmung unter den Fans nicht äußern. Man ziehe es vor, mit den Fans und nicht über die Fans zu sprechen. Der Verein teilt aber auf Anfrage mit: „Wir haben zuletzt in einem Jahr gemeinsam so viel erlebt wie andere Klubs in zehn Jahren nicht. Deshalb ist der interne Austausch gerade besonders wichtig. Wir pflegen ihn sehr, Aki Watzke zum Beispiel besucht aktuell mehrere Fanklubs.“

Tatsächlich haben mehrere Äußerungen der Vereinsspitze zuletzt erkennen lassen, dass man sich des Stimmungswandels bewusst ist.

Westfalen, China, USA

Dass der Verein bemüht ist, bestätigen viele Gesprächspartner. „Ich nehme den Verantwortlichen ab, dass ihr Herz für den Verein schlägt, aber sie müssen eben auch auf die wirtschaftlichen Verhältnisse achten“, sagt Burkhard Kurz.

Jan-Henrik Gruszecki sagt, er wolle dem BVB nicht vorwerfen, dass er seine Heimat vergisst. Aber man merke, dass Westfalen nicht mehr der einzige Fokus des BVB ist, dass es jetzt eben auch um China und die USA gehe.

Die Kommerzialisierung

„Was ist der Fußballfan noch wert?“, fragt Thilo Danielsmeyer. Es ist eine ganz essenzielle Frage.

Ein anderer BVB-Fan schreibt die Antwort darauf in einer emotionalen Mail an die Redaktion auf: „Klubbosse, DFL, DFB, UEFA und FIFA wollen, dass ganze Familien mit Mama, Papa, Oma, Opa, Tante, Onkel, Schwager und vier Kindern zum Spiel kommen, sie ein Trikot, einen Schal, zehn Currywürste kaufen und pro Spiel einen weitaus höheren Betrag da lassen, als die normalen Fans, die die immer kommen. Ob Montagsspiele, Sonntagsspiele um 13 Uhr oder donnerstags abends 21 Uhr: Das bestraft den Fan, der immer da ist.“

Die Fans auf den Sitzplätzen und die auf der Südtribüne sind sich selten einig.

Die Fans auf den Sitzplätzen und die auf der Südtribüne sind sich selten einig. © Dieter Menne

Die Montagsspiele

Der Gipfel der Kommerzialisierung sind für viele Fans die Montagsspiele. Der BVB spielt diesen Montag gegen den FC Augsburg. Das Bündnis Südtribüne hat zum Boykott aufgerufen.

„Wir hoffen, dass das Stadion so leer ist, wie es geht“, sagt Burkhard Kurz. Er und seine Familie lassen die fünf Dauerkarten verfallen. Der Fanclub, der sonst alle Spiele im Vereinsheim überträgt, zeigt das Spiel nicht. „Auch wenn es der Mannschaft nicht hilft: Es ist ein Protest gegen die Spieltagszerstückelung.“

Auch Andreas Goldberg und der Fanclub International haben sich dem Boykott angeschlossen. „Wir halten die Montagsspiele für absolut falsch.“

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Es ist der Höhepunkt einer intensiven Debatte. Die Fans gehen hart ins Gericht mit dem DFB, der DFL und den Vereinen. Sie kritisieren nicht nur Anstoßzeiten und Spieltagszerstückelung, sondern auch Kollektivstrafen wie die gesperrte Südtribüne und Stadionverbote. Gleichzeitig gab es in der Vergangenheit immer wieder Vorfälle, bei denen Gewalt von oder unter Fans eine Rolle gespielt hat.

Die Fans unter sich

BVB-Fans sind keine homogene Gruppe. Jeder Fan ist anders, weil jeder Mensch anders ist. Allein im Stadion treffen die unterschiedlichsten Menschen aufeinander. Der BVB-Fan auf der West-Tribüne hat andere Interessen als der Ultra auf der Süd. Die Dauerkarteninhaber verfolgen andere Ziele als die Gelegenheitsstadionbesucher. Die Jungen wollen etwas anderes als die Alten...

Burkhard Kurz beobachtet vor allem ein Gefälle zwischen regelmäßigen Stadionbesuchern und denen, die nur ein- oder zweimal in der Saison im Signal Iduna Park sind. Letztere hätten eine riesige Erwartungshaltung und seien deshalb vielleicht auch ungeduldiger. „Es werden immer mehr, die unterhalten werden wollen und weniger, die Teil der BVB-Familie sein wollen“, sagt er.

Die Kritik von Roman Bürki, der sich über die Pfiffe der Fans während des Spiels beschwerte, könne er gut verstehen. Das sieht auch Andreas Goldberg so. „Während des Spiels zu pfeifen ist ein Unding und kontraproduktiv.“

„Dass das Stadion der Mannschaft hilft zu gewinnen, das erlebe ich immer seltener“, sagt Burkhard Kurz. „Der Support von der Süd geht nicht mehr so auf den Rest des Stadions über.“

Der BVB hat seit Jahren den höchsten Zuschauerschnitt in der Bundesliga.

Der BVB hat seit Jahren den höchsten Zuschauerschnitt in der Bundesliga. © Dieter Menne

Leerer ist's nicht - oder doch?

Deutlich leerer ist es im Stadion nicht geworden. Aber die Lust habe nachgelassen, sagen Fans. Dauerkarteninhaber würden ihre Karten anderen überlassen. Es gebe immer mehr Dauerkartenplätze, die komplett frei blieben, sagt Jan-Henrik Gruszecki. Und die Nachfrage nach Auswärtskarten sei so gering wie lange nicht.

Es ist, ganz bestimmt, Jammern auf hohem Niveau. In anderen Bundesligastadien wären sie froh, wenn sie so eine Stimmung wie in Dortmund hätten. Froh, wenn Donnerstagsabends um 19 Uhr 62.500 Menschen im Stadion sitzen. Und wer einst mit dem BVB durch die Zweite Liga, die Relegation und die Jahre der Fast-Pleite ging, der lächelt nur müde über Diskussionen, ob man jetzt verdient die punktemäßig zweitbeste Fußballmannschaft in Deutschland ist.

Die Suche nach dem richtigen Gefühl

Die Sehnsucht nach jenen Tagen von 2013 ist groß. Eine Lösung, wie man das alte Gefühl wiederfinden kann, hat zurzeit niemand. Wird es vielleicht Zeit für ein neues Gefühl? Sportlicher Erfolg ist nur ein Teil der Antwort. Dort, wo der BVB steht, kann er sich vielen Entwicklungen im modernen Fußball nicht verschließen. Doch wer die Stimmen der Fans hört, der versteht: Ihre Geduld hat Grenzen.

Für die Recherche haben sich die Reporter im Stadion umgehört und unter anderem mit diesen Personen aus dem BVB-Umfeld gesprochen: Andreas Goldberg (Fanclub International) Burkhard Kurz (Fanclub Totale Offensive) Thilo Danielsmeyer (Fan-Projekt) Jan-Henrik Gruszecki (aktiver BVB-Fan) Wolfgang Gurowietz (Heinrich-Czerkus-Fanclub) Sascha Roolf (Schwatzgelb.de). Jana Klüh und Felix Guth berichten regelmäßig über BVB-Fanthemen und sind regelmäßige Stadiongänger.