Die Bevölkerung wird immer älter, die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland liegt bei 78,9 Jahren (Männer) bzw. bei 83,6 Jahren (Frauen).
Der Anteil von alten und pflegebedürftigen Menschen in der Gesamtbevölkerung steigt.
Gleichzeitig wird ein Großteil der heute in der Pflege Beschäftigten in den kommenden Jahren das Rentenalter erreichen und aus dem Berufsleben ausscheiden. Während also die Zahl der Pflegebedürftigen steigt, nimmt gleichzeitig die Zahl derer, die sich um sie kümmern können, ab.
In dieser Situation kommt jemand wie der 34-jährige Charles Mulinge wie gerufen. Er ist aus Kenia nach Körne immigriert, um hier als Pflegefachkraft zu arbeiten. Der sympathische Afrikaner, den alle nur Charles nennen, ist Pflegeschüler und macht eine dreijährige Pflegeausbildung. Sein Ausbildungsbetrieb ist der Pflegedienst Christiana an der Kaiserstraße 56.
„Wollte etwas Neues versuchen“
Für den ist er täglich auf Tour. Regelmäßig besucht er dabei Marianne Pretzl im Wohnpark an der Hansbergstraße in der Innenstadt. „Ich freue mich immer, wenn er kommt. Er macht das super“, sagt die 85-Jährige, die gerne und viele Sprüche macht. „Wenn er mir mal weh tut, kriegt er Hausverbot“, sagt Marianne Pretzl - und beide lachen herzhaft.
Eine Sprachbarriere gibt es nicht. Charles spricht schon sehr gut Deutsch. „Ich hab ihm viel beigebracht“, sagt die alte Dame und prustet direkt los. Die beiden haben viel Spaß zusammen.
„In meiner Heimat in Kenia habe ich im Krankenhaus in Mombasa als Techniker gearbeitet. Ich habe mich um die Medizintechnik gekümmert. Das Geld, das ich verdient habe, war nicht viel wert. Man konnte sich davon nichts leisten. Ich wollte in meinem Leben unbedingt etwas Neues versuchen“, sagt Charles.
Deutschland hatte er schon länger im Hinterkopf. Und das hat mit seiner Oma zu tun.
Die heißt Christiana und hat den nach ihr benannten Pflegedienst, in dem Charles nun arbeitet, vor 17 Jahren gegründet. Es ist ein Familienbetrieb. Charles‘ Onkel Mike Ndambuki ist der Geschäftsführer. Er kam 1985 nach Deutschland.

„Charles“, hat er vor drei Jahren zu seinem Neffen gesagt, „komm doch nach Dortmund. Hier werden dringend Pflegekräfte benötigt. Du kannst dich ausbilden lassen und vielleicht auch mal den Betrieb hier übernehmen.“
„Sofort konnte ich mir gut vorstellen, als Altenpfleger zu arbeiten. Das ist etwas, was mir liegt und was ich gerne mache. Ich habe also sofort angefangen, Deutsch zu lernen und den Führerschein zu machen und habe Kontakt zu den Behörden aufgenommen, um ein Visum zu bekommen.
Hier in Deutschland musste die Arbeitsagentur zustimmen. Das hat sie auch getan, und es hat alles wunderbar geklappt. Trotzdem musste ich hier erst noch einen Hauptschulabschluss machen und Sprachunterricht nehmen, um die dreijährige Ausbildung beginnen zu können. Zuvor habe ich auch eine Ausbildung als Pflegehelfer gemacht“, erzählt Charles.
Viele Behördengänge
Wenn man nochmal nachfragt und der 34-jährige detailliert erzählt, wie viele Behördengänge über Monate für welche Nachweise und Formulare notwendig waren, drängt sich der Verdacht auf, dass Charles ohne die Oma und den Onkel wohl nicht nach Deutschland in die Altenpflege gekommen wäre. „Das war ein sehr anstrengender Prozess“, sagt er.
„Viele Interessierte aus dem Ausland kommen nicht unbedingt nach Deutschland“, ergänzt dazu Onkel Mike Ndambuki. „Es ist schon eine große Hürde, bis man alles erfüllt hat. Von Afrika gehen viele eher nach England, auch weil sie Englisch sprechen und es die Sprachbarriere nicht gibt. Deutschland muss sich etwas einfallen lassen, um attraktiv zu sein.“ Er fügt noch hinzu: „Pflegekräfte werden in fast allen Ländern gesucht. Den familiären Zusammenhalt nach dem Motto ‚Ich kümmere mich um Oma‘ gibt es weltweit immer weniger.“

Als Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) vor wenigen Wochen in Brasilien war, um dort Pflegekräfte anzuwerben, war Heidi Stier, Leiterin der Akademie für Pflegeberufe und Management (apm) in Körne, nicht nur erfreut. „Natürlich brauchen wir Menschen aus dem Ausland, um den Pflegenotstand hier zu verhindern. Aber, wir stellen uns mit unserer Bürokratisierung auch selbst ein Bein. Zum Beispiel hatten wir an unserer Pflegeschule eine Schülerin aus einer iranischen Familie, die sehr gut integriert war. Die ganze Familie wurde aber in ihre Heimat abgeschoben. Das heißt, wir haben bei uns Menschen, die in der Pflege arbeiten möchten, aber es nicht dürfen. Und uns sind die Hände gebunden, wir können nichts machen“, sagt Heidi Stier.
Bezahlbarer Wohnraum fehlt
Sie ist Leiterin der Pflegeschule, an der auch Charles Schüler ist. Und sie weist auf ein Problem hin, dass sich nach ihrer Erfahrung sofort stellen würde, wenn Heils Anwerbeversuch in Südamerika erfolgreich wäre und Pflegekräfte tatsächlich nach Dortmund kommen würden. „Sie finden hier gar keine Wohnung. Wir wissen von unseren Bewerbern, dass es kaum möglich ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Der Wohnungsmangel hält viele ab“, sagt sie. Charles hatte Glück, ihm wurde geholfen und er hat in der Nähe der Pflegeschule eine passende Wohnung gefunden. Dieses Glück haben nicht alle.
Charles‘ Onkel sucht für den Christiana Pflegedienst schon seit Monaten weiteres Personal zur Verstärkung des aktuell 24-köpfigen Teams. „Wir brauchen noch zwei Leute, aber der Markt ist leergefegt. Mehr Fachkräfte sind unbedingt nötig, sonst werden Pflegedienste in Zukunft nicht mehr jeden pflegen können, der Pflege benötigt“, sagt er.
Heidi Stier berichtet, dass in der Branche schon Prämien an Mitarbeiter gezahlt werden, wenn sie neue Mitarbeiter werben. „Das kann nicht die Lösung des Problems sein, wenn Betriebe sich gegenseitig das Personal wegnehmen“, sagt die Pflegeschulleiterin.
Charles wird an ihrer Schule zum Pflegefachmann ausgebildet. Nach einer Ausbildung als Pflegehelfer, hat er dazu die dreijährige duale Ausbildung im April dieses Jahres begonnen. Als Schüler aus dem Ausland ist Charles dort eher die Regel als die Ausnahme.
Heidi Stier sagt: „40 Prozent unserer Teilnehmer haben einen Migrationshintergrund.“ Mit 280 Schülerinnen und Schülern ist die „apm“ eine der größeren Pflegeschulen in Dortmund. Jedes Jahr machen dort 150 Schüler ihren Abschluss.
Reicht das? Gibt es genug Nachwuchs? Das kleinräumige Pflegemarktmonitoring der Stadt Dortmund weist aus, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von 2015 auf 2017 um 4.443 Personen angestiegen ist. Von 2019 bis 2021 wuchst die Zahl gar von knapp 30.000 auf gut 37.000, also um rund 7000 Menschen.
„Allerdings“, erklärt Simone Becker, die bei der Stadtverwaltung das Pflegemonitoring erstellt, „ist hier auch der Systemwechsel vom dreistufigen Pflegegrad-Modell hin zum fünfstufigen Modell zu berücksichtigen. Konkret: Wer heute mit Pflegegrad 1 bereits als pflegebedürftig mitgezählt wird, hat zuvor eben andere oder gar keine Unterstützungsleistung der Pflegekasse erhalten, fehlt also in der Statistik.“
Bis 2030 werde laut des Statistischen Landesamtes IT NRW kein weiterer großer Anstieg mehr erwartet: „Dann sollen es 38.000 pflegebedürftige Menschen in Dortmund sein.“
Zahl der Azubis gestiegen
Dennoch bleibe es bei dem demografischen Problem, nach dem in den kommenden Jahrzehnten für immer mehr Alte und Kranke möglicherweise immer weniger erwerbstätige Pflegekräfte zur Verfügung stehen werden.
„Wir müssen große Anstrengungen unternehmen für mehr Ausbildung in der Pflege, damit die Schere nicht auseinandergeht“, sagt Simone Becker und betont, dass die Altenpflege ein erfüllender Beruf und der bestbezahlte Ausbildungsberuf (über 1000 Euro) sei. „Die Ausbildungszahlen in NRW und auch in Dortmund sind in den vergangenen Jahren gestiegen - auch dank junger Menschen aus dem Ausland“, sagt Simone Becker.
Dass die nicht alle so gut Deutsch sprechen wie Charles, hält sie vor allem in der Pflegeassistenz für kein unlösbares Problem. „Wir sind eine internationale Gesellschaft. Das spiegelt sich auch bei den zu Pflegenden wider. Man findet eine Verständigung. Ja, Sprache ist absolut wichtig, aber vieles geht auch übers Herz und das Einfühlungsvermögen. Die Hand halten, das Essen reichen oder Trost spenden, das ist international“, so Simone Becker.
Und wie sieht es mit der Akzeptanz bei den Senioren aus? Für Marianne Pretzl ist es überhaupt kein Problem, dass sie ein Mann mit schwarzer Hautfarbe aus Kenia pflegt, bei ihr den Blutdruck misst, sie wäscht oder Insulin spritzt. „Ach was“, sagt sie, „ich war vor 30 Jahren mal in Kenia und habe da Urlaub gemacht. Es war wunderbar, die Menschen sind toll.“
Und dann hat die 85-Jährige schon wieder den Schalk im Nacken und „droht“ Charles mit Hausverbot, wenn er am nächsten Tag nicht pünktlich bei ihr ist. Denn: „Manchmal muss ich warten, weil der Pflegedienst leider zu wenig Personal hat.“ Es braucht ganz klar mehr Leute wie Charles.
Wlan im Seniorenheim: Bei einem Betreiber in Dortmund sieht es besonders schlecht aus
- Netzwerk Pflege Dortmund: Um dem Fachkräftemangel zu begegnen und Menschen für Pflegeberufe zu gewinnen, haben sich neben der Stadt Dortmund zahlreiche Bildungsträger und Institutionen, Pflegeschulen und Arbeitgeber sowie Arbeitsagentur und Jobcenter zusammengeschlossen. Die „Dortmunder Woche(n) der Pflege“ im Juni waren nach Corona der Auftakt zu vielen weiteren gemeinsamen Aktionen.
- Für Unternehmen, die Personen ohne pflegefachliche Ausbildung einstellen und qualifizieren wollen, gibt es Fördermöglichkeiten mit einer Kostenübernahme von bis zu 100 Prozent. Hier berät individuell der Arbeitgeber-Service der Arbeitsagentur; eine Kontaktaufnahme ist möglich unter Tel. 0800 4 555-20.