Lange nach Kriegsende tauchten in Dortmund die Fotos aus Kriegszeiten auf und setzten Ermittlungen in Gang. © Staatsanwaltschaft Dortmund

Serie „Ungeklärte Dortmunder Verbrechen“

Brutale Hinrichtungen beschäftigen Dortmunds Ermittler noch heute

Fast 70 Jahre nach Kriegsende landet ein anonym abgegebener Umschlag mit brutalen Fotos aus Kriegszeiten auf dem Schreibtisch eines Dortmunder Staatsanwalts. Die Ermittlung wird zum Puzzle-Spiel.

Dortmund

, 02.09.2020 / Lesedauer: 6 min

Es ist Anfang 2011. Am Ostrand der Dortmunder City hält der Staatsanwalt Andreas Brendel ein uraltes Foto in der Hand. Es ist so groß wie eine Zigarettenpackung. Schwarz-weiß, angegilbt, gewellt und mit gezacktem Rand. Es zeigt einen Baum mit knorrigen Ästen. An jedem Ast hängen fünf oder sechs Leichen. Genau ist die Zahl der Gehenkten nicht erkennbar.

Der Dortmunder Ermittler ist einem deutschen, nationalsozialistischen Verbrechen auf der Spur, das zu diesem Zeitpunkt 70 Jahre zurückliegt. Doch: Dass es dieses Verbrechen gegeben hat, ist erst seit 2010 bekannt. Brendel ist auf sehr ungewöhnliche Weise darauf gestoßen.

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In den Briefkästen von Amtsgerichten liegen oft pralle Umschläge. Entscheidungen anderer Gerichte, Stellungnahmen von Anwälten, Eingaben von Bürgern. Das ist Alltag in Justizbehörden und so auch in der kleinen Stadt Eschweiler bei Aachen nahe der belgischen Grenze. Als die Poststelle dort im Januar 2010 eine besonders umfangreiche, weiße Sendung herausfischte, ahnte keiner, wie brisant der Inhalt war. Er war Stoff für eine Ermittlung wegen vielfachen Mordes.

In dem Umschlag steckten 50 Fotos. Die Zusendung: anonym. Nirgendwo ließ sich der Name eines Absenders erkennen. Aber ein Zettel von der Größe einer Streichholzschachtel klebte daran mit nur wenigen Worten. Die Bilder seien „Anfang der 60er-Jahre“ in einem Wohnhaus der Eschweiler Innenstadt gefunden worden, „bei der Renovierung“.

Der unbekannte Absender bekannte sich als der Finder, der 50 Jahre zuvor einen entsetzlichen Fehler gemacht haben wollte. „Bitte an einen Staatsanwalt abgeben“, stand auf dem Zettel. Und: „Habe diese Schweinerei damals nicht weitergegeben.“

Auf mehreren Fotos sind die Verbrechen dokumentiert. © Staatsanwaltschaft Dortmund

Sowjetunion, Juni 1941. Auf einer Frontbreite von 1600 Kilometern zwischen Weißem Meer und der Ukraine hat Hitler mit drei Millionen Soldaten das Land überfallen. Mit dem Unternehmen „Barbarossa“ und einem gezielten „Vernichtungskrieg“ will der braune Diktator „die europäische Kultur retten“. Im Spätherbst fällt viel Schnee.

„Rücksichtsloses und energisches Durchgreifen“

Die am frühen Morgen des 22. Juni gestartete Offensive rennt sich vor Moskau und im Kaukasus fest. Aber die Invasoren haben bis dahin den westlichen Teil von Stalins Riesenreich erobert und mit blankem Terror überzogen.

Die Linie hatte das Oberkommando der Wehrmacht am 19. Mai 1941 mit einer internen Weisung vorgegeben: „Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven und passiven Widerstandes“.

Dennoch: Einzelne tragen die Verantwortung für ihr Tun. Gerichtsurteile haben das seit 1945 klargestellt.

Eine juristische Bewertung aus dem Jahr 2011

Dortmund, 2011. Der Fund im Gerichtsbriefkasten von Eschweiler liegt inzwischen Dortmunder Ermittlern vor. Sie sind die zuständige Behörde, die der unbekannte Zettelschreiber von Eschweiler informiert sehen wollte. „Dieses Foto hat mich persönlich berührt“, sagt Andreas Brendel. „Es reicht.“ Er sagt das als moralische Bewertung, aber auch als juristische. Er hat das Bild aus einem Wandschrank seines Arbeitszimmers am Gerichtsplatz geholt. Alle 50 Bilder sind hier abgelegt, „typische Feldfotos“.

Das Foto vom Baum ist das zentrale Beweisstück. Ein anderes, ebenso wichtiges, zeigt, wie ein Scherge die nackte Leiche eines jungen Mannes mit schwarzgelockten Haaren an den Ohren festhält. Der Scherge dreht den Kopf des Toten in die Kamera. „Es ist noch kein Schnee zu sehen“, hat Brendel mit dem typischen Blick des Ermittlers erkannt, „wahrscheinlich sind die Fotos aus der Anfangszeit von Barbarossa, zwischen Juni und November 1941“.

Wer sind die Täter? Gestapo? SS? Wehrmacht? Und wer sind die Opfer? Juden? Kriegsgefangene? Partisanen? Zivilisten? Wo spielte sich das Drama ab? Wann genau? Ist mit den 50 Bildern ein unbekanntes Massaker dokumentiert? Auch, was wichtig wäre als Schlüssel zum Puzzle: Wer war der Anonymus von Eschweiler?

Anhaltspunkte herausgearbeitet

Viele Fragen. Keine Antworten. „Die Ermittlungen haben sich etwas totgelaufen“, sagt Andreas Brendel. Immerhin hat er Anhaltspunkte herausarbeiten können: Eine Steppenlandschaft. Eine zerstörte Umgebung. Ein mehrgeschossiger Bau mit Bildern von Stalin und Lenin an der Fassade. Immer wieder: Hinrichtungen, Beerdigungen, Menschen, die Gräber schaufeln. Die eigenen?

Das Ermitteln von Ereignissen aus der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte ist Brendels Job. Die Abteilung, die der heutige Oberstaatsanwalt im Jahr 2011 leitet und neben anderen Sachgebieten auch nach 2020 noch weiter leiten wird, heißt „Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Massenverbrechen“.

Sie arbeitet eng mit dem nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt zusammen. Die Akten beschäftigen sich mit Massakern, die Hitlers Regime und die deutsche Wehrmacht im 2. Weltkrieg angerichtet haben.

Beschuldigte verschwunden

Mehr als 1400 Fälle wurden hier in Dortmund seit der Gründung der Einrichtung 1961 bearbeitet. Es gab lange zurückliegende Jahre, da haben Vorgänger Brendels nationalsozialistische Gewaltverbrecher eher wie Eierdiebe behandelt. Sie sollen Akten liegengelassen haben, bis die Beschuldigten verschwunden waren.

Bei Brendel ist das anders. Mit dem LKA-Fahnder Stefan Willms und einer Historikerin ist der Jurist schon durch die erhaltenen Trümmer der mittelfranzösischen Ortschaft Oradour-sur-Glane gestapft, wo das SS-Panzergrenadierregiment „Der Führer“ 1944 im Juni 642 Zivilisten umgebracht hat.

181 Männer. 254 Frauen. 207 Kinder, jedes vierte Kind unter fünf Jahre alt. Frauen und Kinder sind in der Dorfkirche verbrannt worden. Solche Tatbestände schockieren und prägen.

Ablauf und Namen der Opfer bekannt

Im Fall Oradour kannte die deutsche Justiz den Ablauf der Gräueltat, die Namen der Opfer. Sie wusste mehr von einigen der mutmaßlichen Täter, von Tatort und Tatzeit. Das war in den Fällen Distomo, Sant Anna di Stazzema, Adreatinische Höhlen oder auch Lidice so. Doch schon solche Massaker von Wehrmacht und SS sind schwer zu verfolgende Verbrechen, die dabei vermuteten Straftaten Einzelner erst recht.

Die meisten Verfahren scheitern an der riesigen Zeitspanne seit dem 2. Weltkrieg. Wie soll dann am Ende der Dortmunder Ankläger Brendel eine Verurteilung erreichen, wenn der zentrale Tatbeleg in seinem Foto-Fall alleine ein Baum-Bild aus dem Jahr 1941 irgendwo in den Weiten Russlands ist, an dem Leichen hängen?

Brendel und seine Ermittler haben sich bemüht, die Fotos zum Reden zu bringen. Gemeinsam haben die Zentralstelle und das Militärgeschichtliche Institut Potsdam Vergrößerungen ausprobiert, Experten befragt, Gesichter und Fälle abgeglichen und in Eschweiler nach einem Haus gesucht, das Anfang der 60er Jahre renoviert wurde. Wahrscheinlich hat es in der Nähe des Marktplatzes gestanden. Wahrscheinlich ist es den Stadtsanierungen der letzten sechs Jahrzehnte zum Opfer gefallen.

Kennzeichen erkennbar

Die intensivere Untersuchung der Bilder hat durchaus Fortschritte gebracht. Lkw wie die auf den Fotos wurden im Osten 1941 eingesetzt, so viel steht heute fest. Bei einem ist das WH-Kennzeichen erkennbar. WH für Wehrmacht, nicht etwa SS, deren Fahrzeuge die Runen auf dem Nummerschild trugen. Auch in den erkennbaren Ziffern daneben fand man einen interessanten Rechercheansatz.

Die Nazi-Jäger unternahmen schließlich einen seltenen Schritt. Sie suchten öffentlich Zeugen von Vorgängen, die 70 Jahre zurückliegen. Den Aufruf stellten sie am 25. Januar 2011 ins Internet mit zwei Fotos, die mutmaßliche Opfer lebend noch mit dem Judenstern zeigen.

Presseberichte sogar aus Russland sind daraufhin eingegangen, Briefe, Mails, Ratschläge. Beim Simon Wiesenthal Center in Jerusalem verfolgte Efraim Zuroff die Arbeit der deutschen Ermittler mit wachsendem Interesse: Lange Zeit schien es im Nachkriegs-Deutschland ja kaum den Willen zur Aufklärung zu geben, wie auch manche der Vorgänger Brendels bewiesen hatten.

250.000 Beteiligte

250.000 Menschen waren am Holocaust beteiligt. Im Westen Deutschlands kamen 6498 vor Gericht, 1000 wegen eines Tötungsdelikts. Ganze 438 wurden zur lebenslanger Haft verurteilt. Jetzt, 2011, schöpfte Zuroff Hoffnung. Wie gut, dass es ausgerechnet im Land der Täter zum letzten großen Schub der Ermittlungen gekommen ist.

Was es bis heute nicht gibt: Zeugen, die sich aufgrund der Internet-Fahndung meldeten. Die Zeit, die Brendels Team aufarbeiten musste, liegt so lange zurück. Die Täter im oberen Bereich der Befehlskette müssten schon zur Tatzeit älter gewesen sein. Viele von ihnen sind tot.

Wen die Ermittler jetzt, im Greisenalter, festnehmen können, der war, als die Morde geschahen, zu jung, um eine entscheidende Befehlsgewalt innegehabt zu haben. Zudem glaubt der Oberstaatsanwalt, dass die Fotografen selbst zur Gruppe der Täter gehört haben müssen und deswegen – sollten sie noch leben – still gehalten haben.

Aufklärung erschwert

Noch ein zweites Ermittlungshindernis hat die Aufklärung des Falles erschwert. Auf einem der Bilder ist eine Massenerhängung an einem exakt zugeschnittenen Balken zu sehen. Das deute, sagt Brendel, eher auf die Vollstreckung eines Urteils nach einem „ordentlichen“ Kriegsgerichts-Verfahren hin.

Für Ankläger bedeutet das: Wer daran als Täter beteiligt war, der hat allenfalls Totschlag begangen. Totschlag aber ist verjährt, ein Verfahren demnach sinnlos. Alleine die Sache mit dem Baum ist anders. Sie könnte juristisch Mord sein, sogar ein „grausamer“. Mord verjährt nicht.

Viele Bilder nicht veröffentlicht

Die Dortmunder und Düsseldorfer Fahnder haben sich irgendwann entschlossen, die meisten Bilder nicht zu veröffentlichen. Darunter sind das Baum-Bild, das des jungen Mannes mit den schwarzgelockten Haaren und weitere sehr brutale Abbildungen. Das hat viele Gründe. Es geht um Datenschutz und darum, dass solche Brutalität, von falschen Fanatikern ins weltweite Netz gestellt, viel auslösen kann.

Abgewogen, welchen Schaden und Nutzen die Veröffentlichung bringen könnte, scheute man am Ende die Schadenshöhe. Der Fall der Bilder aus dem Eschweiler Gerichtsbriefkasten bleibt auch mehr als zehn Jahre nach dem Fund ungeklärt. Er ruht heute in den Akten.

Und doch: Es waren in anderen Fällen nicht selten sehr alte Täter, die, endlich aufgespürt, den Staatsanwalt Andreas Brendel erleichtert an der Wohnungstür mit ein paar Worten begrüßt haben: „Ich habe 60 Jahre auf Sie gewartet“.

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