Keine Straße in der Dortmunder City hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr verwandelt als die Brückstraße. Von einer typisch deutschen Einkaufsstraße mit großen Geschäften für den täglichen Bedarf, mehreren Kinos und urigen Kneipen hin zu einer türkisch-arabischen Welt, in der eigene Regeln gelten. Und kein anderes Viertel in Dortmund polarisiert so sehr. Was sind die Gründe dafür? Eine Spurensuche.
Buntes Viertel im Mittelalter
Die Brückstraße war schon im Mittelalter ein buntes Viertel mit vielen Gasthöfen. Durch das Burgtor war sie im Norden der wichtigste Zuweg in die Stadt. Mit der Industrialisierung wurde die Straße zur Vergnügungsmeile – mit Stehbier-Hallen, Konzert-Cafés und sogar großen Varieté-Theatern. Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sich erste Kinos an – bis zum riesigen Ufa-Palast mit mehr als 1500 Plätzen, das später zum Universum wurde.

Nach dem Krieg kam das Vergnügen zurück – inklusive Rotlicht. Ab den 70er Jahren gesellten sich zu den etablierten Lokalen auch Striptease-Bars und Diskotheken. Die Stadt schritt gegen die weitere Ausbreitung von Spielhallen und Sexshops ein. Ab den 90er Jahren entdeckte die zweite Generation der Gastarbeiter, die in den 60er Jahren nach Dortmund gekommen waren, das Viertel für sich. Statt halbe Hähnchen gab es Döner und Falafel. Für den größten Einschnitt sorgte dann das Kinosterben Ende der 90er Jahre nach der Eröffnung des Cinestars am Hauptbahnhof. Bis auf die traditionsreiche „Schauburg“ schlossen alle Kinos, die bislang das abendliche Leben auf der Brückstraße geprägt hatten. Nicht zuletzt mit der Eröffnung des Konzerthauses 2002 an der Stelle des geschlossenen Universum-Kinos versuchte die Stadt, dem Abwärtstrend entgegenzuarbeiten.
Bis auf wenige Ausnahmen dominieren heute türkische und orientalische Imbissbuden, Bäckereien und Bekleidungsgeschäfte das Straßenbild. Und viele junge Männer aus diesen Kulturkreisen. Vornehmlich abends.
Edith (25) und Lena (26) meiden die Brückstraße
Die Dortmunder Studentinnen Edith (25) und Lena (26) gehören zu denen, die einen weiten Bogen um die Brückstraße machen. Die angehenden Raumplanerinnen teilen sich eine Wohnung direkt gegenüber dem Polizeipräsidium. Von dort geht es regelmäßig zum Einkaufsbummel auf den Westenhellweg, oder aber zum Treffen mit Freunden ins Kreuzviertel - nie ins Brückviertel, nie auf die Brückstraße. „Für mich ist das mittlerweile eine ,No-Go-Area‘“, sagt Edith. Lena nickt. Zu oft sei es vorgekommen, dass sie und ihre Freundinnen dort von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert wurden: „Das ist schon extrem. Darauf haben wir wirklich keine Lust mehr, das ist beängstigend.“

Konzerthaus-Besucher bleiben unter sich
Die beiden Studentinnen sind auf der Brückstraße nicht allein mit ihrem mulmigen Gefühl. Viele Konzerthaus-Besucherinnen würden das Viertel wohl erst gar nicht betreten, wäre der 48 Millionen Euro teure Kulturbau nicht ausgerechnet hier entstanden. „Das ganze Umfeld kann einem schon Angst machen“, sagt eine Frau, die mit ihrem Mann über die Brückstraße in eine Vorstellung geht. Für sie ist klar: „Das nächste Mal fahren wir wieder direkt ins Parkhaus und sparen uns den Weg über die Brückstraße.“
„Die Umgebung interessiert uns nicht“
Helmut und Sabina Balzersen sind eigens aus Bielefeld angereist, um einen lauschigen Konzertabend zu verbringen. Dabei haben sie nur eines im Sinn: So schnell wie möglich die Plätze im Konzertsaal einzunehmen. „Die Umgebung mit Döner, Pizza und Pommes interessiert uns kein bisschen. Hier herumzulaufen, ist keine Option. Aber das Konzerthaus ist einfach genial.“

Weil es auf der Brückstraße immer wieder zu Straftaten kommt, gibt es seit einem Jahr einen Sicherheitsdienst im Außenbereich des Konzerthauses. Marlies (Name von der Redaktion geändert) gehört zum Team: „Unsere Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass die Konzerthausbesucher vor und nach der jeweiligen Veranstaltung nicht belästigt oder bedroht werden. Wir sind vergangenes Jahr engagiert worden, weil es hier auf der Straße diverse Vorfälle gab.“ Die Sache mit dem Drogenverkauf, dem Drogenmissbrauch, den Obdachlosen und den Jugendbanden habe drastisch zugenommen. „Man merkt es am Gesichtsausdruck vor allem älterer Besucher, dass die Angst haben, wenn sie aus dem Konzert kommen und draußen die Jugendbanden schreien.“ Nicht umsonst werde der komplette Außenbereich des Konzerthauses videoüberwacht.
Über Multi-Kulti lässt sich streiten
Dass Menschen das Viertel meiden, ist für Cityring-Chef Tobias Heitmann (50) nachvollziehbar. Von einem Problemviertel wolle er zwar nicht gleich reden, aber es könne schon befremdlich sein, abends über die Brückstraße zu gehen. Über Multi-Kulti ließe sich trefflich streiten. „Aber auch ich schließe mich eher der Meinung an, dass es ein Tummelplatz für Menschen mit ausländischer Herkunft, für Drogenabhängige und aggressive Bettler geworden ist. Wer sich die Polizeiberichte von den Wochenenden anschaut, wird schnell feststellen, dass es da in den Nebenstraßen rund ums Konzerthaus immer richtig zur Sache geht.“

Heitmann findet, dass es dem 2002 eröffneten Konzerthaus bis heute nicht gelungen sei, die Brückstraße aufzuwerten. „Obwohl das Konzerthaus bundesweit einen ausgezeichneten Ruf genießt, macht sich das im Umfeld kein bisschen bemerkbar.“ Von dem postulierten Ziel der Stadt Dortmund, das Brückviertel im positiven Sinne zum bunten, lauten und verrückten Ausgehviertel zu machen, sei man noch meilenweit entfernt. „Und ehrlich gesagt, habe ich keine Hoffnung, dass sich das großartig ändern wird.“
Und tatsächlich: Die Idee, dass sich auf der Brückstraße durch das Konzerthaus gehobene Gastronomie ansiedelt - und sich das Publikum deutlich mehr durchmischt, hat sich nicht erfüllt.

Eine Zumutung für beide Seiten
Unterdessen ist das Konzerthaus nach wie vor bemüht, sich weiter in die Nachbarschaft zu integrieren, sagt Intendant Raphael von Hoensbroech: „Als ich 2018 in Dortmund anfing, habe ich immer wieder gehört, die Brückstraße sei eine Zumutung. Wir haben aber festgestellt, dass auch wir als Haus für viele Menschen der Brückstraße eine Zumutung sind. Erst wenn man sich über diese Wechselseitigkeit im Klaren ist, beginnt man sich auf Augenhöhe zu begegnen.“ Diese Erkenntnis sei einer der Auslöser für das Community-Music-Programm gewesen, bei dem das Konzerthaus auch Menschen aus der Nachbarschaft zum gemeinsamen Musizieren einlädt. „Viele der Anwohner in den 572 Wohnungen des Brückviertels konnten wir so schon kennenlernen.“

Maximilian von Bremen vom Pianohaus van Bremen, das bereits seit 1906 im Brückviertel, seit vielen Jahren an der Hansastraße beheimatet ist, hat eine positive Sicht auf die Umgebung: „Hochkultur und junge Szene existieren nebeneinander, stören sich aber auch nicht.“ Insgesamt sei für ihn das Glas eher halbvoll, statt halbleer. Durch das Konzerthaus habe sich das Viertel in den vergangenen 20 Jahren zum Positiven entwickelt.
Zufrieden mit der Entwicklung des Brückviertels ist auch die Stadt Dortmund: „Der Bereich rund um die Brückstraße hat sich in den vergangenen Jahren zu einem bekannten Musikviertel entwickelt - ausgehend vom Konzerthaus Dortmund als Keimzelle.“ Dazu seien das Orchesterzentrum NRW, die Chorakademie Dortmund, das Vokalmusikzentrum NRW sowie Initiativen und Einrichtungen wie das Klangvokal Musikfestival, der Jazzclub domicil, der Chorverband NRW, der Club Oma Doris, der Musikstammtisch Dortmund und diverse Musikfachgeschäfte gekommen.
Stadt sieht Brückstraße unkritisch
Während der Mehrheit der Konzerthausbesucher allein die Imbiss-Buden auf der Brückstraße sauer aufstoßen, ist man bei der Stadt ganz hin und weg davon: „Prägend für die Straße ist in der Tat ein breites gastronomisches Angebot, das viele Menschen anspricht.“
In Kombination mit dem Nachtleben, den Mode- und weiteren Einzelhandelsgeschäften sowie den kulturellen Angeboten mache dieses Angebot die Brückstraße zum lebendigen Ort der Vielfalt in der Innenstadt: „Als Herz und Kern des Brückviertels, das sich bis zur Kuckelke und zur Hansastraße erstreckt, prägt sie dessen internationales, facettenreiches Profil. Ob die Gewerbetreibenden in- oder ausländisch sind, spielt dabei absolut keine Rolle.“

Schlägereien

Gerade dieser Mix an Kulturen führe zu Gewalt, beobachtet Yasser (34) vom Friseursalon „Who‘s Next“ an der Ecke Bissenkamp/Gerberstraße. Hier fliegen regelmäßig die Fetzen, sagt er. Zum Beispiel am Samstagabend, den 21. September dieses Jahres. Da kam es zu einer Schlägerei mit 15 Beteiligten. Ein Mann wurde mit einer Platzwunde am Kopf in ein Krankenhaus gebracht. Für Yasser nichts Ungewöhnliches: „Zweimal in der Woche kriege ich hier eine Schlägerei mit.“
Nach Polizeiangaben ist der bundesweite Trend der steigenden Kriminalität auch an Dortmund nicht vorbeigegangen. Im Vergleich zum Jahr 2022 sind die angezeigten Straftaten in der Stadt um knapp 12 Prozent auf 70.241 im Jahr 2023 gestiegen. Dabei wurden als Kriminalitätsschwerpunkte „insbesondere die hochfrequentierten Bereiche der Innenstadt und der nördlichen Innenstadt identifiziert.“ Dazu gehören auch die Brückstraße und die angrenzenden Flächen.
Im vergangenen Jahr gab es für die Polizei statistisch gesehen jeden zweiten Tag einen Einsatz auf der Brückstraße. 79 Mal ging es um Körperverletzung, 81 Mal um Diebstahl, 17 Mal um Beleidigung.
Die Lage im Brückviertel habe sich 2024 nochmal deutlich verschlimmert, findet Yasser. Meist seien Jugendliche in diese Schlägereien verwickelt. „Für sie ist die Ecke hier ein Treffpunkt.“ Häufig werde neben reichlich Alkohol auch Lachgas konsumiert. Dann kippe irgendwann die Stimmung. Lachgas ist tatsächlich ein Problem, das der Polizei Sorgen bereitet. Immer häufiger werden die Beamten im Alltag mit Menschen konfrontiert, „die Lachgas konsumieren und daher kurzzeitig wie weggetreten und völlig berauscht wirken.“ Immer wieder komme es nicht nur zur Eigengefährdung durch das Einatmen, sondern auch zu unkontrolliertem oder aggressivem Verhalten gegenüber den Polizisten.
Weil der Konsum von Lachgas auch neurologische Störungen verursachen kann, diskutieren verschiedene Bundesländer ein Verbot der Droge. Herstellung, Handel, Erwerb und Besitz von Lachgas könnten künftig verboten werden. In Dortmund hat man bereits reagiert: Zumindest an Jugendliche darf in der Stadt Lachgas nicht mehr verkauft oder weitergegeben werden.

Ansonsten gibt es Lachgas aber auf der Brückstraße noch legal für andere Altersgruppen zu kaufen. Ein breites Sortiment bietet das „älteste und erfahrenste Unternehmen seit 1989 in der Rauchindustrie“ an der Lütge Brückstraße, Ecke Am Bissenkamp an. Während - zumindest bei unserer Stichprobe - an diesem Freitag um 12.30 Uhr vor dem Laden mehrere Personen bereits Flaschenbiere kippen, stehen drinnen junge Männer im Alter zwischen 20 und 25 vor der Ladentheke - einige fragen nach Lachgas.
Bräutigam halb totgeschlagen
Lachgas, Alkohol, es sind aber auch die kulturellen Unterschiede, die auf der Brückstraße zu Gewalttaten führen, sagt der bundesweit bekannte Lüner Psychotherapeut und Trauma-Experte Dr. Christian Lüdke. Aus der Zusammenarbeit mit der Polizei weiß er, dass die „Brückstraße schon ein heißes Pflaster“ ist, wo man sich besser keine Dummheiten, auch wegen der kulturellen Unterschiede, erlauben sollte. „Zurzeit behandele ich einen jungen Mann, der typisch deutsch mit einem Bauchladen ausgestattet, mit seinen Freunden auf der Brückstraße Junggesellenabschied feiern wollte.“ Die feucht-fröhliche Party habe in dem Moment ihr jähes Ende gefunden, als der Bräutigam einem Marokkaner aus Spaß einen großen Plastikpenis verkaufen wollte: „Der Marokkaner fand das gar nicht lustig und hat den Bräutigam fast totgeschlagen. Der lag tagelang auf der Intensivstation. Jetzt leidet er unter einem Trauma.“ Zu allem Überdruss sei das Ganze auch noch gefilmt und über die sozialen Medien verbreitet worden.
Die sozialen Medien würden das Unsicherheitsgefühl dadurch noch weiter verstärken. Sie seien mit ursächlich dafür, warum hierzulande eine zunehmende Verbrechensangst um sich greife - von Kriminologen auch als Verbrechen-Furcht-Paradox bezeichnet: „Obwohl die Menschen in Deutschland im internationalen Vergleich selten Opfer von Straftaten werden, fühlen sie sich aber trotzdem unsicherer und meiden deshalb bestimmte Ecken in ihrer Stadt“, sagt Lüdke.

Dreck und verriegelte Türen
Isa Dalmann führt seit Jahren ein Juweliergeschäft mit dem An- und Verkauf von Gold auf der Brückstraße. Den Händler stören nicht nur Stolperfallen, Dreck und Leerstände in seiner direkten Umgebung, sondern auch die Kriminalität. Im Jahr 2011 habe er seinen Laden eröffnet, sagt Isa Dalmann. Damals sei er nach Dortmund gekommen, weil die Stadt ein „lebendiger Standort“ gewesen sei. „Bis zum Jahr 2016 war es noch gut.“ Danach habe sich die Situation immer weiter verschlechtert: „Ich sehe viele unanständige Menschen.“

Ein anderer Händler sagt, seine Kunden hätten Angst, beklaut zu werden, sobald sie den Laden verlassen. Er behauptet, mehr über die Täter zu wissen: „Das sind Jugendliche von der Münsterstraße, die dort vertrieben worden sind und jetzt hier Krawall machen.“ Früher habe er viele deutsche Kunden gehabt – „jetzt nur noch Ausländer“. Mit seinem Namen genannt werden möchte er auf gar keinen Fall: „Ich habe echt Angst, dass die mir die Scheibe einschlagen.“ Das sei schon zweimal passiert – ohne erkennbaren Grund.
Eine Anwohnerin (63) mag sich derweil gar nicht vorstellen, wie es im Viertel aussehe, wenn es das Konzerthaus nicht gebe. „Gott sei Dank gibt es die Einrichtung, sonst wäre das hier alles nur noch ein Trauerspiel. Meine Haustür verriegle ich schon seit langem doppelt und dreifach.“

Die Brückstraße ist keine No-Go-Area. So werden Stadtteile und Gebiete bezeichnet, über die man die staatliche Kontrolle weitgehend verloren hat, die von der Polizei kaum noch zu kontrollieren sind. Das trifft auf die Brückstraße bislang nicht zu, dennoch ist sie ein besonderer Brennpunkt in Dortmund.

Video-Überwachung
Seit Dezember 2016 setzt die Polizei im Viertel Videobeobachtung ein. Aktuell sind in der Brückstraße, der Münsterstraße und im Dietrich-Keuning-Park drei Videoanlagen im Einsatz. Auf die Frage, ob sich die Kameraüberwachung bei der Aufklärung von Delikten bewährt hat, schweigt die Polizei. Aus ermittlungstaktischen Gründen.
Zuletzt hat Polizeipräsident Gregor Lange als neueste Maßnahme Waffentrageverbote für einen bestimmten Personenkreis im Stadtgebiet angeordnet: Wer Messer oder andere gefährliche Gegenstände bei Straftaten eingesetzt hat, steht unter besonderer Beobachtung.

Neben der Polizei ist auch der Kommunale Ordnungsdienst (KOD) der Stadt im Viertel unterwegs. Laut Stadt ist die Brückstraße im Vergleich zu anderen Fußgängerbereichen in der City aus ordnungsrechtlicher Sicht nicht besonders auffällig: „Wir stellen dort verschiedene Delikte fest, darunter aggressives Betteln, unerlaubte Abfallablagerung oder Verrichtung der Notdurft. Es gibt allerdings keine besondere Häufigkeit beim aggressiven Betteln.“

Professor Dominic Kudlacek (43) Sozialwissenschaftler und Kriminologe an der Hochschule Bremerhaven sieht die Städte in der Pflicht, um Brennpunkte wie die Brückstraße erst gar nicht entstehen zu lassen: „Hier werden zu viele Bewilligungen gegeben, ohne nachzudenken.“ Die Ämter müssten dafür sorgen, dass die Durchmischung von Geschäften stimmig bleibe - indem Nutzungskonzepte aufgestellt werden und der dritte Barber-Shop in der Straße dann eben nicht öffnen könne. Verwaltungen zögen sich häufig auf den Allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz zurück, als Ausrede dafür, dass man keine Sonderregelungen aufstellen könne. Für Kudlacek ist das vollkommener Quatsch: „Das geht durchaus.“
Häufig seien ganz andere Probleme ursächlich. „Erstmal muss man es wollen. Dann braucht es Zeit und Ressourcen, um solch ein Konzept gemeinsam mit Experten zu entwickeln.“ Oft aber pusteten die Ämter personell aus dem letzten Loch und seien froh, dass in den Straßen kein Leerstand herrsche. Denn auch das sei tödlich für ein Viertel.
Lebendige Straße
Kenan Küçük (64), Geschäftsführer des regional tätigen Multikulturellen Forums (MKF) in Lünen, geht seit 40 Jahren über die Brückstraße: „Das Erscheinungsbild der Straße hat sich seitdem sehr verändert - deutlich zum Positiven, wie ich finde“. Heute sei die Brückstraße eine Anlaufstelle für alle, die von Döner bis Ramen, von Baguette bis Falafel Snacks aus aller Welt schätzen oder die auch zu später Uhrzeit noch satt werden, ein Konzert besuchen oder einen Kinofilm sehen möchten. Die Frage, ob die Brückstraße Sinnbild für gelebte Multikulturalität oder eher für einen multikulturellen Problembereich steht, beantwortet er unter anderem so: „Die Brückstraße ist für mich vor allem ein junger Ort. Und in dem Alterssegment spiegelt sie einen Querschnitt der Gesellschaft wider.“ Die Brückstraße sei eine sehr lebendige Straße, „weil junge Menschen sich hier treffen, um ihre Freizeit zu verbringen“.
Dass das Konzerthaus inmitten des Brückviertels angesiedelt wurde, hält der 64-Jährige gebürtige Türke nach wie vor für eine gute Idee: „Klar, da treffen sicherlich immer wieder mal Welten aufeinander. Ich denke, die Begegnung tut allen Beteiligten gut.“ Multikulturelles Zusammenleben heiße ja nicht immer nur Friede, Freude, Eierkuchen, sondern habe auch mit Auseinandersetzungen und Aushandlungsprozessen zu tun: „Verschiedenheiten, Gleichzeitigkeiten und Uneindeutigkeiten zu tolerieren, gehört zu einer vielfältigen Gesellschaft - und darin kann man sich auf der Brückstraße sicherlich üben.“

Befremdlich für Deutsche
Das findet auch der ebenfalls in der Türkei geborene Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Ahmet Toprak. Toprak lehrt an der Fachhochschule Dortmund und widmet sich Themen mit interkulturellem Ansatz, wie dem interkulturellen Konfliktmanagement und der Situation deutsch-türkischer Migrantenfamilien in Deutschland, vor allem der Beratungsarbeit mit jungen Männern.
Zur Brückstraße und der dort häufig anzutreffenden Vielzahl von jungen Männern mit Migrationshintergrund sagt Toprak: „Das ist historisch gewachsen. In den südlichen Ländern sei es schon immer so gewesen, dass sich speziell die Männer auf Dorfplätzen getroffen haben, um sich auszutauschen.“ Daran habe sich bis heute nichts geändert, trotz moderner Kommunikationsmittel. Und die Brückstraße sei ein guter Treffpunkt für die jungen Menschen, weil sie zentral liege und es dort außerdem günstiges Essen gebe. Dass das mitunter für Menschen mit westlichen Wurzeln befremdlich wirke, sei nachvollziehbar. „Dazu kommt dann noch der lautere Austausch in einer Sprache, die man nicht versteht. Das erweckt schnell den Eindruck, da wird gestritten, was überhaupt nicht der Fall ist.“ Dem müsse man sich bewusst sein.
Wer hat den Längsten?
Dass es zu Schlägereien und sexuellen Belästigungen durch junge Migranten kommt, erklärt der Wissenschaftler so: „Niemand geht zu den Treffen nach dem Motto: Jetzt machen wir mal ein paar Mädels an. Das ist nicht das Ziel.“ Vielmehr schaukelten sich die Leute dahingehend auf, dass einer aus der Gruppe sagt: „Seht ihr die da drüben, die mache ich jetzt mal an. Dann kommt der nächste, weil er denkt: Was der kann, kann ich auch. Und so weiter, und so weiter. Das entwickelt dann ganz schnell eine Eigendynamik innerhalb der Gruppe - nach dem Motto: Wer hat den längsten Schwanz?“
Ein Blick nach Bochum könnte helfen, um die Situation auf der Brückstraße zu verbessern, sagt Experte Dominic Kudlacek. Dort könne man sehen, wie sich das Bermuda-Dreieck von einer Schmuddelecke zu einer der angesagtesten Bar- und Party-Szene in Deutschland entwickelt habe. „In Bochum wird seit geraumer Zeit darauf geachtet, dass der Stadtteil durch die Ansiedlung von bestimmten Geschäften nicht kippt.“ 2002 hatte die Stadt Bochum mit einer Änderung des Bebauungsplans verhindert, dass sich weitere Shishar-Bars ansiedeln können. Denn das könne zu einer Verdrängung von Kunden und Freizeitgästen führen, hieß es seitens der Stadt Bochum. Kudlacek: „Was Bochum kann, kann Dortmund auch. Man muss es nur wollen.“

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 7. Dezember 2024.
Die Brückstraße bei Dunkelheit: Unterwegs mit der Kamera - viele Bilder
Die Brückstraße bei Tageslicht: Unterwegs mit der Kamera - viele Bilder