Ein von Studenten aufgestelltes Schild erinnerte schon kurz nach der Tat in Zicherie an den Tod von Kurt Lichtenstein. Unten ist das von einer Kugel getroffene Auto des Journalisten zu sehen. © Archiv Zunder

Stasi in Dortmund

Erschossen an der DDR-Grenze: Wurde der Dortmunder Kurt Lichtenstein von der Stasi ermordet?

Heute vor 60 Jahren wurde der Journalist Kurt Lichtenstein an der innerdeutschen Grenze erschossen. Um seinen Tod und die Verbindungen zur Stasi ranken sich bis heute Rätsel und Spekulationen.

Dortmund

, 12.10.2021 / Lesedauer: 7 min

Es war gegen Mittag des 12. Oktober 1961, als Kurt Lichtenstein seinen Ford Taunus auf einem Feldweg nahe des Ortes Zicherie parkte, unmittelbar an der Grenze zur DDR. Gleich hinter dem Grenzstreifen wollte er eine Landarbeiterbrigade fotografieren, die mit der Kartoffelernte beschäftigt war. Wenige Stunden später war Kurt Lichtenstein, der als Reporter der Westfälischen Rundschau wenige Wochen nach dem Mauerbau auf Reportage-Reise an der innerdeutschen Grenze war, tot.

Um die Umstände seines Todes ranken sich bis heute Spekulationen - auch um die Rolle, die die DDR-Staatsführung und die Stasi dabei spielten. Denn Lichtenstein, der in den Akten der „Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter“ als erstes Todesopfer an der innerdeutschen Grenze nach dem Mauerbau außerhalb Berlins erfasst wurde, hatte eine ganz besondere Geschichte. Er hatte „eine lupenreine kommunistische Funktionärsbiografie – bis es in den früher 1950er-Jahren zum Bruch mit der KPD kam“, wie es in einem Forschungsbericht der Freien Universität (FU) Berlin heißt.

Im Einsatz für den Kommunismus

Kurt Lichtenstein war am 1. Dezember 1911 als Sohn eines jüdischen Schuhmachers in Berlin geboren worden. Er wuchs in einfachen Verhältnissen am Prenzlauer Berg auf und engagierte sich schon früh politisch, ab November 1931 in der KPD. Er lernte Werkzeugmacher, besuchte aber auch Kurse für Zeitungswissenschaften.

Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 tauchte Lichtenstein in der Sowjetunion unter, wo er kommunistische Kaderschulen besuchte. 1934 kam er als Mitglied einer KPD-Gruppe ins Saarland, um dort gegen die Rückgliederung des Saarlands ins Reichsgebiet zu agitieren. An seiner Seite waren zwei Männer, die Geschichte schreiben sollten: Herbert Wehner, später legendärer Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag und Erich Honecker, später Staats- und Parteichef in der DDR.

Sie hatten im Saarland keinen Erfolg. Die Bevölkerung stimmte mit großer Mehrheit für den Anschluss ans Deutsche Reich. Lichtenstein begann eine internationale Odyssee im Dienste des Kommunismus, erst in Frankreich, später im spanischen Bürgerkrieg. Getarnt als französischer „Fremdarbeiter“ war er sogar eine Zeit lang wieder in Deutschland aktiv.

Aus der KPD ausgeschlossen

Nach dem Krieg arbeitete Lichtenstein im Ruhrgebiet für kommunistische Zeitungen, saß von 1947 bis 1950 für die KPD im nordrhein-westfälischen Landtag – bevor er gemeinsam mit dem damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der KPD bei der Partei in Ungnade fiel. 1953 wurde er ebenso wie seine Frau Gertrud wegen angeblicher „parteifeindlicher Tätigkeit“ aus der KPD ausgeschlossen.

Eine Erfahrung, die seine Einstellung zum neu gebildeten sozialistischen Staat im Osten Deutschlands prägen sollte. Die SED, stellte Lichtenstein 1956 ernüchtert fest, errichte „in der Zone ein Regime des Terrors, der Willkür und der Unterdrückung“.

Kurt Lichtenstein mit den Töchtern Elfriede (r.) und Susanne, Mitte der 1950er-Jahre. © Archiv Zunder

Lichtenstein hielt seine Familie mit zwei kleinen Töchtern mit verschiedenen Jobs und als freier Journalist über Wasser, bis er 1958 bei der Westfälischen Rundschau in Dortmund als Redakteur fest angestellt wurde. Der Mauerbau im August 1961 muss ihn dabei persönlich bewegt und zu einer Reportagereise an die innerdeutsche Grenze animiert haben. Er kam nicht weit. Die Reise endete am geteilten Ort Zicherie nahe Wolfsburg.

Was dort genau passiert ist, dazu gibt es unterschiedliche Quellen und Darstellungen, die Rainer Zunder, langjähriger Redakteur der Westfälischen Rundschau, in einem 1993 erschienenen Buch unter dem Titel „Erschossen in Zicherie“ aufgearbeitet hat.

Bericht der Grenztruppen

Eine Quelle ist ein Telegramm der DDR-Grenzbereitschaft Gardelegen, die die „Festnahme eines Grenzverletzers West – DDR unter Anwendung der Schußwaffe“ meldet. Ein Mann sei etwa 40 Meter auf DDR-Gebiet vorgedrungen, um Bauern bei der Kartoffelernte zu fotografieren. Was Lichtenstein dabei nicht im Blick hatte, waren zwei Grenzpolizisten, die zur Bewachung der Landarbeiter abgestellt waren. Sie forderten Lichtenstein auf, stehenzubleiben und gaben Warnschüsse ab. Als der Journalist wieder in Richtung Westen lief, fielen weitere Schüsse.

„Die beiden Todesschützen, der Gefreite Peter Sticklies und der Soldat Werner Schmidt, waren zur Tatzeit 18 und 19 Jahre alt“, berichtet Rainer Zunder. „Vor ihrem Dienstantritt am Morgen des 12. Oktober waren sie von ihrem Kompanieführer vergattert worden, auf keinen Fall eine Grenverletzung zuzulassen und von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Beide Soldaten erhielten später für ihre Tat hohe militärische Auszeichnungen. Sticklies wurde zudem auf Vortragsreise geschickt, um vor Grenztruppen beispielhaft über seine Tat zu berichten. Einige Jahre später unterschrieb er eine Stasi-Verpflichtungserklärung und war bis zur Wende als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit tätig.“

Langes Warten auf den Krankenwagen

Nach dem Bericht der Grenztruppen seien Sticklies und Schmidt nach den Schüssen zu Lichtenstein gelaufen, der an einem Graben unmittelbar an der westdeutschen Grenze gestürzt war. Sie stellten Treffer am Schienbein und eine Handbreit unter dem Herzen fest und schleiften den Verwundeten vom Grenzstreifen zurück. Gemeinsam mit den Landarbeitern habe man versucht, Erste Hilfe zu leisten.

Lichtensteins von Kugeln westlich des Grenzgrabens in Zicherie getroffenes Auto. © Archiv Zunder

Auch auf westlicher Seite ist der Vorfall beobachtet worden. Eine der Augenzeuginnen war Marie-Luise Schilling aus Wolfsburg, die mit ihrer Familie eine Ausflugsfahrt im Grenzgebiet machte. Sie habe den Verletzten schreien hören und den Grenzpolizisten zugerufen, sie sollten den Mann herüberbringen. Sie könnten ihn mit dem Auto in wenigen Minuten ins Krankenhaus bringen.

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Sticklies antwortete, „dass unser Krankenwagen auch bald kommt“. Es dauerte allerdings mehr als eine Stunde, bis ein Sanitätsfahrzeug der Grenztruppen eintraf und den Verletzten wiederum mit einiger Verzögerung ins nächste Krankenhaus brachte. Dort starb Lichtenstein wenige Stunden später an seinen Verletzungen. Dann trat die Stasi in Aktion, schaffte den Leichnam nach Magdeburg, wo er obduziert und später – ohne Einwilligung der Familie – eingeäschert wurde.

Großes Presse-Echo

Der Tod des WR-Reporters sorgte in West wie Ost für großes Aufsehen bis hinein in die Bundespolitik. Von Mord sprach die SPD, der Lichtenstein inzwischen angehörte. Von einer „blutenden Zonengrenze“ schrieb die Rheinische Post. „Als er wie jeder gute Journalist die Wahrheit suchen wollten, wurde er getötet“, kommentierten die Ruhr Nachrichten. In DDR-Zeitungen wurde Lichtenstein als „Provokateur“, der die Staatsgrenze verletzte angeprangert und seine Erschießung verteidigt.

Der SPD-Politiker Herbert Wehner gehörte zu den Rednern bei der Trauerfeier für Kurt Lichtenstein auf dem Dortmunder Hauptfriedhof am 27. Oktober 1961. © Archiv Zunder

Der WR-Redakteur Rainer Zunder recherchierte den Fall seines erschossenen Kollegen gut 30 Jahre später zwischen 1991 und 1993 und fand dazu auch zahlreiche Unterlagen im ehemaligen Zentralen Parteiarchiv der SED. Hier sei auf mehreren Hundert Blatt Lichtensteins politische Vita akribisch erfasst worden – bis hin zu seiner Tätigkeit für die Westfälische Rundschau, erklärt Zunder.

Das Überraschende: Zur Erschießung Lichtensteins im Oktober 1961 fand sich im SED-Archiv kein Dokument, auch nicht in einer Aktensammlung, in der jeder Grenzzwischenfall und jeder damit verbundene Todesfall dokumentiert wurde. „Einzig Lichtensteins Name kommt in den geheimen Papieren nicht vor“, schreibt Zunder in seinem Buch.

Berichte in Stasi-Akten

Aber der Name taucht an anderer Stelle auf. Was Zunder bei seinen Recherchen noch nicht zur Verfügung hatte, waren Unterlagen der DDR-Staatssicherheit. Die fanden sich erst Jahre später mit der fortschreitenden Erschließung der MfS-Aktenbestände - und offenbarten, dass sich die Stasi intensiv mit den Umständen des Todes von Kurt Lichtenstein beschäftigt hatte. Der Tatort ist sowohl in Fotos wie auch in Skizzen akribisch dokumentiert worden.

In den Akten der Stasi ist der „Tatort“ genau dokumentiert. © BStU

„Ausführlich sind auch die Polizeiprotokolle von den Vernehmungen der beiden Todesschützen Peter Sticklies und Werner Schmidt. Darin, und in eigenhändigen schriftlichen Äußerungen, bekennen sich die beiden Grenzsoldaten zu ihren Taten und sagen aus, sie hätten ‚gezielte Schüsse‘ auf den ‚Provokateur‘ Lichtenstein abgegeben“, berichtet Zunder.

Prozess gegen die Todesschützen

Die Aussagen und die Stasi-Unterlagen lagen auch 1997 im Prozess gegen die DDR-Grenzschützer am Landgericht Stendal vor. „Doch in dem mit 24 Verhandlungstagen längsten aller sogenannten Mauerschützen-Prozesse wurden, im Gegensatz zu sämtlichen anderen ähnlichen Verfahren, die Geständnisse von 1961 nicht als beweiskräftig bei der Urteilsfindung herangezogen“, wundert sich Rainer Zunder. Sticklies und Schmidt wurden - „im Zweifel für den Angeklagten“ - vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen.

Zwei der drei angeklagten Todesschützen mit ihren Verteidigern 1997 im Landgericht Stendal. © Zunder

Es gibt aber auch Zweifel an der offiziellen Version von Lichtensteins Tod. „Die Familie ist bis heute fest davon überzeugt, Kurt Lichtenstein sei als abtrünniger Kommunist und ‚Verräter‘ auf Befehl der DDR-Partei- und Staatsführung gezielt liquidiert worden“, erklärt Zunder.

Lichtensteins Töchter, die vor Gericht als Nebenklägerinnen auftraten, führten dazu Hinweise an, dass Lichtenstein auf seiner Reportage-Reise von der DDR-Seite aus beobachtet und begleitet worden sei - was vom Gericht aber nicht geprüft wurde. Rätselhaft sei auch, warum ein tödliches Geschoss Lichtenberg von vorn getroffen habe, obwohl er doch in Richtung Westen geflüchtet sei.

Verschwundener Obduktionsbericht

Unterstützt wird die These einer gezielten Tötung Lichtensteins auch von dem Dokumentarfilmer Hans-Dieter Rutsch, der 2011 einen Film über den Fall Lichtenberg drehte und dazu viele Augenzeugen befragte. Er wunderte sich, dass die Frontscheibe des Ford Taunus, der auf der Westseite der Grenze stand, von einer Kugel durchschlagen war und hält es für möglich, dass es einen dritten Schützen gab, der von westlicher Seite aus auf Lichtenstein geschossen und dabei auch das Auto getroffen habe.

Seit Oktober 2011 erinnert diese Gedenkstätte an den Tod von Kurt Lichtenstein. © Archiv Zunder

In den Stasi-Akten gebe es keinen Hinweis auf einen „Befehl von oben“, stellt Zunder dazu fest. Allerdings gab es schon 1997 Hinweise darauf, dass die Akten unvollständig und von brisanten Aktenbeständen bereinigt worden waren. Bestes Beispiel: Es fehlte der Obduktionsbericht aus der Gerichtsmedizin der Uni Magdeburg. Er tauchte erst zum Prozess in Stendal auf, weil eine junge Assistenzärztin, die bei der Untersuchung des Leichnams 1961 dabei war, sich heimlich eine Kopie des Berichts gesichert und diese über mehr als drei Jahrzehnte verwahrt hatte.

Dokumentarfilmer Rutsch stieß bei seinen Recherchen auf Zeitzeugen, die noch immer Angst vor dem „langen Arm“ der Stasi hatten, und auf Berichte über einen Mann, der erzählt habe, die Wahrheit zu kennen. Er wurde 1998 in seinem Wohnhaus erschossen, das Haus in Brand gesetzt. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt.

DDR-Spione in Dortmund: Hier geht‘s zur ganzen Serie.

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