Sebastian Everding muss kurz lachen. Das sehe jetzt ja aus „wie bestellt“. Zwei Kanadagänse watscheln über den Weg neben dem Teich - und Everding kann kurz hinter dem Eingang zum Rombergpark schon loslegen, welche Themen ihm politisch wichtig seien. Zum Beispiel eben die Kanadagänse.
Der 41-Jährige ist der einzige Dortmunder, der es nach der Europawahl am 9. Juni 2024 ins EU-Parlament schaffen kann. Seine Chancen stehen sogar extrem gut, am Wahlabend sagt er kurz nach der 18-Uhr-Prognose im Gespräch mit unserer Redaktion: „Wir sind zurückhaltend optimistisch.“
Dabei dürfte ihn bisher kaum jemand kennen - und seine Partei steht in NRW auch nur auf Listenplatz 8.
Zufällig zur Partei gekommen
Früher sei er in der Jungen Union gewesen, auch in der katholischen Kirche aktiv. Heute aber sei er längst kein Mitglied von CDU oder Kirche mehr. Bei beiden Organisationen vermisse er das, was für seine heutige Partei zentral sei: „Mitgefühl“.
Seine neue politische Heimat fand Everding in der Tierschutzpartei - und das eher zufällig. 2020 sei ihm Werbung für die Partei begegnet - „auf Facebook war das sogar, glaube ich“. Und der Dortmunder erinnerte sich: Moment, schon 2019 vor der damaligen Europawahl hatte ihm der Wahl-O-Mat doch ausgespuckt, dass seine Ansichten am ehesten mit denen der Tierschutzpartei übereinstimmten.
Keine Fünf-Prozent-Hürde
Everding übernahm für die Tierschutzpartei den Wahlkreis in Berghofen - noch als Parteiloser, wie er betont. Doch seitdem gehört er zum harten Kern der Mini-Partei in Dortmund. Ratsherr ist er nicht, jedoch Sachkundiger Bürger in mehreren städtischen Ausschüssen.
Bei Bundestags- und Landtagswahlen gibt es eine Fünf-Prozent-Hürde, bei Kommunalwahlen nicht. Also reichten der Tierschutzpartei im Herbst 2020 die Stimmen von 1995 Dortmunderinnen und Dortmundern zum Einzug in den Stadtrat.
Für Gans und Nutria
0,9 Prozent - ein umso bemerkenswerteres Ergebnis, wenn man bedenkt, dass die Partei nur in knapp der Hälfte der Wahlkreise überhaupt Kandidaten aufgestellt hatte. Ansonsten wären es 1,8 bis 2 Prozent gewesen.
Kanadagänse, Nilgänse, Nutrias - „auch invasive Arten haben eine Daseins- und Lebensberechtigung“, findet Everding. An vielen Aktionen habe er sich schon beteiligt: Man könne Eier tauschen, andere Vergrämungsmaßnahmen angehen - „oft ist es ein menschengemachtes Problem, das der Mensch auch lösen muss, aber eben nicht durch Erschießen.“

„Stimme der Stimmlosen“
„Wir sind die ‚Stimme der Stimmlosen‘ - das ist quasi das inoffizielle Motto unserer Partei.“ Und die habe eben nicht nur ein Thema, wie er selbst früher auch gedacht habe, so Everding. Der offizielle Name lautet: „Partei Mensch Umwelt Tierschutz“.
Stimmlos, unterstreicht der 41-Jährige, „das sind natürlich häufig die Tiere. Aber das können auch Menschen im Niedriglohnsektor sein, Obdachlose - oder eben die Natur, die Umwelt, die einfach stimmlos ist.“ Ist das also „linke Politik“? Bei aller inhaltlicher Übereinstimmung fremdelt Everding immer noch mit diesem Begriff.

„Menschen ertrinken lassen?“
Doch er fragt auch ganz klar: „Soll man Menschen ertrinken lassen? Soll man Tiere erschießen?“ Im Dortmunder Stadtrat hat sich die Tierschutzpartei ebenso wie die Piratenpartei der Fraktion Die Linke angeschlossen. Auch weil die Sorge groß gewesen sei, bei den Grünen wäre man „nur ein Anhängsel“ geworden.
Und im EU-Parlament? Kann sein, dass Sebastian Everding nach dem 9. Juni 2024 genau vor dieser Frage steht: Mit wem schließt er sich zusammen? Der Dortmunder ist mittlerweile Co-Vorsitzender der Tierschutzpartei in NRW und bundesweiter Spitzenkandidat für die Europawahl.
0,7 Prozent reichen
0,7 Prozent reichten einer Partei 2019 für den Einzug ins Parlament, das wechselweise in Brüssel und Straßburg tagt. Die Tierschutzpartei hatte 1,4 Prozent, fünf Jahre zuvor waren es 1,2. Und dennoch bleibt Everding skeptisch.
Wie es aussieht für CDU, SPD, Gründe, FDP, Linke und AfD - das ist relativ gut abgebildet in den Umfragen der großen Institute. Aber für die Kleineren, für die Sonstigen? Dazu seien die Stichproben ja zu klein, weiß Everding.
Witze- und Bienenfutterautomat
Ob es also klappt, ob er die nächsten fünf Jahre lang im EU-Parlament sitzen wird und was in dem Fall aus seinem Beruf wird - Everding weiß es nicht, wird es erst wissen, wenn das endgültige Ergebnis der Europawahl 2024 feststeht. Aktuell nennt er sich „Nachhaltigkeitsunternehmer“.
Aus alten Kaugummiautomaten bastelte er 2019 erst einen „Witze-Automaten“, wo man für 20 Cent eine Pointe erhielt. Kurz darauf gestaltete Everding den Prototypen eines „Bienenfutterautomaten“. Dem Original in Hombruch folgten bisher bundesweit 380 weitere Exemplare.
In allen gibt es Samenmischungen, aus denen das wächst, was Bienen schmeckt. Viel Geld lasse sich dadurch natürlich nicht verdienen, „es ist eine Herzensangelegenheit“, betont Everding.

„Ich bin Realist“
Sein zweites angemeldetes Gewerbe: eine „kleine ökologische Hausverwaltung“. Zuletzt habe er zudem in Teilzeit bei einem Unternehmen in der Nähe gearbeitet - im Bereich Marketing und Personal. Und eigentlich studiere er ja auch noch Wirtschaftspsychologie auf Master, wenn auch „schleppend“, wie er eingesteht.
„Ich bin ja Realist. Ich gehe ja nicht dahin und sage: Ganz Europa wird vegan.“ Nein, es gehe ihm um die kleinen Stellschrauben, um das Anstoßen von Themen. Vielleicht gelinge es ja, die erlaubte Zeit für Tiertransporte um eine halbe Stunde zu senken oder die rechtlichen Hürden für Tierversuche ein bisschen anzuheben.
Nur: Von Brüssel und Straßburg aus könne man 400 Millionen EU-Bürger erreichen. Und so gut und wichtig der Einsatz in der Dortmunder Lokalpolitik sei - „all das endet leider immer schon an der Stadtgrenze zu Schwerte“.
Hinweis: Dieser Artikel erschien erstmals am 7. Mai 2024. Wir haben ihn am 9. Juni nach der 18-Uhr-Prognose aktualisiert und neu veröffentlicht.