
Anwohner in ganz Dortmund fordern mehr Kontrollen von Rasern in Tempo-30-Zonen
Verkehr
Sind Dortmunds Tempo-30-Zonen zu Rennpisten geworden? Besorgt um ihre Kinder, rufen Bürger allerorten nach mehr Kontrollen und deutlichen Warnhinweisen. Schilder, sagen sie, reichen nicht.
Manchmal wird Patrick Neis richtig sauer. Der 38-jährige Vater dreier Kinder wohnt unmittelbar an der Höchstener Straße. Dort kann er jeden Tag beobachten, mit welchen Geschwindigkeiten Autos an seinem Haus vorbei düsen. „Das gilt auch für Linienbusse“, sagt er. Direkt gegenüber liegt der Kindergarten Sankt Kunigunde, weshalb die Stadt vor Jahren für einen rund 500 Meter langen Abschnitt Tempo 30 angeordnet hat. Aber längst nicht jeder hält sich daran. „Manche sind hier mit 60, 70 Sachen unterwegs“, schätzt Neis.
Selbst die dicke „30“ auf der Straße hilft nicht
Vor ungefähr sechs Jahren ist er mit der Familie zur Höchstener Straße gezogen. Ihn wundere es, dass es seitdem noch keinen Unfall gegeben habe. Die Radarkontrollen der Stadt und der Polizei hinterließen nur mäßigen Eindruck, sagt Neis. „Man sieht die schon von Weitem. Also wird vorher abgebremst.“
Das Problem sei, dass viele Autofahrer das Tempo-30-Schild, das weiter unten an der Höchstener Straße steht, entweder komplett ignorieren oder es nach 200 bis 300 Metern wieder vergessen hätten. Selbst die „30“, die dick und fett auf der Straße prangt, hinterlasse bei vielen Fahrern nur begrenzten Eindruck, ärgert sich Neis. Er wünscht sich von der Stadt noch deutlichere Warnhinweise, vor allem in Höhe des Kindergartens. „Eine Digitalanzeige, ein Piktogramm – so etwas.“
Polizei bekommt täglich Hinweise
Seine Beobachtungen scheinen eher die Regel denn die Ausnahme. Auf einen Aufruf auf der Facebook-Seite unserer Redaktion hin haben sich fast 160 Leser zu Wort gemeldet, die sich über die Zustände auf ihren Straßen beklagen. Das deckt sich mit den Erfahrungen der Polizei. „Wir bekommen täglich Hinweise von Bürgern, die sich Geschwindigkeitsmessungen wünschen“, sagt Sprecherin Nina Vogt.
Es scheint sich zu lohnen: Im Juli erwischten die Beamten auf der Straße Buschei in Scharnhorst einen 49-Jährigen mit Kleinkind im Auto. Er war mit 61 km/h unterwegs. Die Folge: 160 Euro Bußgeld, ein Monat Fahrverbot, zwei Punkte in Flensburg. Noch toller trieb es ein 42-Jähriger, den die Polizei im August mit 83 km/h auf der Emil-Figge-Straße blitzte. 280 Euro Bußgeld, zwei Monate Fahrverbot, zwei Punkte in Flensburg.
Tempo-30-Zonen werden zu Rennstrecken
Quer durch alle Stadtteile beschweren sich Bürger über Raser, die Tempo-30-Zonen in „Rennstrecken“ verwandeln. Ganz gleich, ob es an Schulen, Kitas oder Spielplätzen vorbei geht. In der Hangeneystraße in Kirchlinde werde man sogar noch überholt, wenn man sich an Tempo 30 halte, ärgert sich beispielsweise Facebook-Nutzer Andy Allbrink.
Dabei hatte die Stadt das glatte Gegenteil im Sinn, als sie sich 1986 einem bundesweiten Modellversuch anschloss und auf einen Schlag 49 Wohngebiete in Tempo-30-Zonen umwandelte. „Es ging darum, den fließenden Verkehr auf den Hauptstraßen zu bündeln und die Anwohner in Wohngebieten zu entlasten“, erläutert Tiefbauamtsleiterin Sylvia Uehlendahl.

Sylvia Uehlendahl, Leiterin des Tiefbauamtes, sagt: „Tempo-30-Zonen tragen dazu bei, dass die Wohn- und Lebensqualität der Anwohner steigt.“ © Gregor Beushausen
Längst ist der Modellversuch zur Regel geworden, in nahezu allen Wohngebieten der Stadt liegt flächendeckend ein Tempo-30-Teppich. Addiert, ergeben alle 343 über die Gesamtstadt verstreuten Tempo-30-Zonen eine Länge von 977 Kilometern. Sie machen inzwischen rund die Hälfte des insgesamt 1900 Kilometer langen Straßennetzes auf Dortmunder Boden aus.
Nicht mitgerechnet zahllose Tempo-30-Strecken, die auf mehrere hundert Meter begrenzt sind und meist an Schulen, Kitas und Seniorenheimen vorbeiführen. Zum Vergleich: Das Straßennetz, auf dem die Regelgeschwindigkeit Tempo 50 gefahren werden darf, beträgt gerade noch 627 Kilometer.
Unfallzahlen gingen zurück
Und wie oft bauen Polizei und Stadt ihre Messgeräte in Wohngebieten auf? Statistiken dazu sind nicht zu bekommen. „Tempo-30-Zonen stehen bei uns im Fokus,“ versichert Polizei-Sprecherin Nina Vogt. Erst recht, wenn die Straßen von Kindern und Älteren genutzt würden.
Beate Siekmann, Chefin im städtischen Ordnungsamt, verweist auf Schwerpunkt-Messungen an Schulen und auf Schulwegen regelmäßig nach Ferienende. Die Verkehrsüberwachung berücksichtige in ihrer Einsatzplanung „auch täglich eine Messung in einer Tempo-30-Zone“, gibt Siekmann auf Anfrage zu Protokoll.
Trotz aller Ärgernisse: „In Wohngebieten haben sich Tempo-30-Zonen im Grundsatz bewährt“, sagt ADAC-Sprecher Thomas Müther. Dass die Unfallquote und das Unfallrisiko deutlich sinken, zeigt eine vor Jahren erstellte Studie an der Universität Duisburg-Essen. Darin führt Uni-Professorin Dr. Maria Limbourg an, dass in Tempo-30-Zonen rund 40 Prozent weniger Unfälle passieren als auf Tempo-50-Strecken. Bei Tempo 30 sinke die Zahl der getöteten und schwer verletzten Menschen um 60 bis 70 Prozent.
Ab 60 km/h praktisch „keine Überlebenschance“
Dabei können zehn Stundenkilometer mehr oder weniger über Leben und Tod entscheiden. Das weiß man auch an der Uni Düsseldorf. Sie hatte vor Jahren bei einer Untersuchung von tödlich verunglückten Fußgängern festgestellt: Während bei einer Aufprallgeschwindigkeit von 30 km/h rund 30 Prozent starben, waren es bei Tempo 50 schon 80 Prozent. Ab 60 km/h gebe es praktisch „keine Überlebenschance“ mehr. Ein Aufprall bei Tempo 50 entspreche einem Fall aus zehn Metern Höhe – Tempo 30 einem Fall aus 3,6 Metern Höhe.
Ein ums andere Mal rufen Experten den Autofahrern ins Gedächtnis, was es heißt, einen Wagen zum Stehen zu bringen: Tritt ein Fahrer bei Tempo 30 abrupt die Bremse, kommt der Pkw nach rund 15 Metern zum Stehen. Bei 50 km/h verdoppelt sich der Anhalteweg auf knapp 30 Meter. Polizeisprecherin Vogt drückt das so aus: „Wo man bei Tempo 30 zum Stehen kommt, fängt man bei Tempo 50 erst an zu bremsen.“
„So kann das nicht mehr weitergehen“
Das Erdbeerfeld in Mengede ist ein Neubaugebiet mit vielen schmucken Einfamilienhäusern und Doppelhaushälften. Die Straße Zum Erdbeerfeld, die das Gelände erschließt, ist eine Buckelpiste ohne seitliche Befestigung. Vor einem Jahr hat es Sascha (32) und Julia Vey (33) hierhin verschlagen, ihre beiden Kinder sind ein Jahr und vier Monate alt. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert“, sagt Julia Vey voraus. Täglich beobachten sie, ihr Mann und Nachbarin Inga Griese (37), wie Autos, Baulastwagen und selbst Busse „mit 50, 60 Sachen“ über die Straße fahren. Obwohl das Erdbeerfeld eine Tempo-20-Zone ist.

Es sei nur eine Frage der Zeit, bis etwas passiert, sagen Inga Griese und das Ehepaar Julia und Sascha Vey (v.l.) aus dem Mengeder Erdbeerfeld voraus.
Gerade hier gebe es viele Familien mit kleinen Kindern, die, wie Kinder das eben so machen, über die Straße laufen oder mit ihren Rädern unkontrolliert aus Nebenstraßen schießen. „Manche fahren trotz der Bodenwellen so schnell, dass die Schwingungen bei uns im Haus zu spüren sind“, ärgert sich Sascha Vey. „Oben wackelt dann die Therme.“ Nachbarin Inga Griese bekommt es ebenfalls zu spüren. Sie zeigt auf die Fußbodenleisten in ihrer Küche. „Die Sockelleisten lockern sich.“ Sogar abends im Bett bekomme sie die Vibrationen mit.
Sie haben ja alles versucht, aus ihrer Sicht: Haben mit den Stadtwerken gesprochen, sind bei der Mengeder Bezirksvertretung vorstellig geworden, wo sie hörten, das Problem sei bekannt. Mehr hörten sie nicht, sagen die Anwohner. Die Polizei haben sie angerufen. Die ist gekommen, hat gemessen und den einen oder anderen Fahrer angehalten. Als die Polizei weg war, war alles wieder beim Alten.
„Es kann doch nicht sein, dass man uns jetzt allein lässt“, sagt Sascha Vey. Es reiche eben nicht, nur ein Tempo-20-Schild aufzustellen. Sie fordern von der Stadt eine „klare Ausschilderung auch innerhalb des Quartiers“, wie der Familienvater sagt. „Piktogramme vielleicht oder eine 20 auf die Straße malen.“ Am liebsten wäre es ihnen, die Straße Zum Erdbeerfeld würde von der Mengeder Straße abgebunden und zur Sackgasse gemacht. „So jedenfalls kann das hier nicht weitergehen“, fassen sie zusammen.
Auch die Anwohner selbst waren oft zu schnell
Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), wundert das Beispiel nicht. „Alle Untersuchungen zeigen: Die zulässige Geschwindigkeit wird nur eingehalten, wenn die Gestaltung der Straßen kein höheres Tempo zulässt.“ Dort, wo nur Schilder aufgestellt werden, werde häufig auch zu schnell gefahren. Allerdings seien das in vielen Fällen auch Anwohner selbst. Er halte es für falsch, dass der Gesetzgeber den Städten vor Jahren erlaubt hat, bei der Einrichtung von Zonen mit einem Tempolimit auf bauliche Maßnahmen wie etwas Aufpflasterungen oder Fahrbahnverengungen zu verzichten.
ADAC-Sprecher Thomas Müther sieht das ähnlich. Gebiete mit Tempolimits wie 30 oder 20 km/h sollten so gestaltet sein, „dass beim Autofahrer ein Zonenbewusstsein“ entstehen könne: Ein Wohngebiet müsse eine überschaubare Größe haben und die Straßen annähernd gleiche Querschnitte. Wichtig seien auch deutlich erkennbare „Eingangsbereiche“ sowie optische Hinweise. Der ADAC fordere alle Städte auf, ihre Tempo-30-Zonen zu prüfen, nachzubessern – oder sie aufzuheben. „Tempo-30-Zonen, die als solche nicht akzeptiert werden und schwächeren Verkehrsteilnehmern falsche Sicherheit vermitteln, sind abzulehnen“, sagt Müther.

Wo der Straßenraum verengt wird, kann auch nicht gerast werden, heißt es beim ADAC und der Unfallforschung der Versicherer. Ihre Empfehlung: So wie in der Schlosserstraße sollten alle Tempo-30-Zonen gestaltet sein. © Gregor Beushausen
Und wie schnell sind Autofahrer in den Dortmunder Tempo-30-Zonen im Schnitt unterwegs? Es gebe von Zone zu Zone sehr unterschiedliche Bewertungen, lässt Ordnungsamtsleiterin Beate Siekmann wissen. Zahlen nennt sie dazu nicht. Aber es gibt sie, und sie werfen zumindest auszugsweise ein Schlaglicht auf das Fahrverhalten.
Mit Hilfe der mittlerweile 24 Dialog-Tafeln (Displays) an der Einfahrt zu Tempo-30-Zonen kann die Stadt Rückschlüsse ziehen, ohne persönliche Daten der Autofahrer zu ermitteln. Das hat eine Antwort von Baudezernent Martin Lürwer auf eine Anfrage der Linken im Februar 2018 in der Mengeder Bezirksvertretung gezeigt.
Elektronische Anzeigetafeln hinterlassen Wirkung
Beispiel Schlossstraße in Mengede: Bevor die elektronische Anzeigetafel erstmals eingeschaltet wurde, hat sie eine Zeitlang im Stillen das Tempo der vorbeifahrenden Autos gemessen. Im Schnitt waren die Autos mit 46,7 km/h in der Tempo-30-Zone unterwegs. Ungefähr jeder Dritte (32 Prozent) lag über 50 km/h. Einer kam sogar auf 104 km/h. Nach Einschalten des Displays, das entweder „Bitte langsam“ oder „Danke“ anzeigt, sank das Tempo im Schnitt auf 39,1 km/h – und die Zahl derjenigen, die schneller als 50 km/h fuhren, auf 12 Prozent. Hintergrund: An der Schlossstraße (Fahrtrichtung Nord) kommen die Autos aus „einer freien Strecke“ in die Tempo-30-Zone.

24 so genannte Dialogdisplays hat die Stadt installiert. Sie warnen, wenn jemand zu schnell fährt und danken, wenn sich Autofahrer ans Tempolimit halten. © Gregor Beushausen
Anders hingegen an der Dörwerstraße/Ecke Butzstraße. Dort gilt auf dem gesamten Abschnitt Tempo 30. Da lag die mittlere Geschwindigkeit vor Einschalten der elektronischen Anzeige bei 32,4 km/h. Rund 62 Prozent der Autos waren mit überhöhtem Tempo unterwegs. Nach Inbetriebnahme des Displays waren es noch 42 Prozent, und die Geschwindikgeit sank im Schnitt auf 30km/h. Zu Schulbeginn zwischen sieben und acht Uhr morgens sogar auf 27,7 Prozent.
Initiative hat Tempo 30 an der Beurhausstraße erkämpft
An der Beurhausstraße gilt erst seit einem Jahr Tempo 30 - weil Bürger sich dafür eingesetzt haben. Jeden Werktag bringt Julia Hampe (40) ihre beiden Kinder per Fahrrad mit Anhänger in die Kita Lange Straße. Dabei nimmt sie den Weg über die Beurhausstraße am Klinikum. Hier knubbelt sich alles auf engstem Raum. Parkverkehr und fließender Verkehr. Krankenwagen und Taxen, Fußgänger und Radfahrer. Hampeie war dabei, als eine Kita- und Elterninitiative 2017 Tempo 30 für die gesamte Beurhausstraße erkämpfte. „Die Verwaltung hat das wirklich zügig umgesetzt“, lobt Julia Hampe. „Ich habe das Gefühl, dass jetzt insgesamt langsamer gefahren wird.“
Dafür gibt es ein neues Problem: Mit der Einführung von Tempo 30 hat die Stadt vor den Einmündungen der Seitenstraßen Schilder mit dem Hinweis „Vorfahrt geändert“ aufgestellt. Wer nun Vorfahrt hat, erschließt sich zunächst nicht. Das führe zu erheblicher Verwirrung und mitunter zu gefährlichen Situationen, hat Radfahrerin Hampe beobachtet. Zumal die Beurhausstraße mit ihren Fragmenten an Straßenbahnschienen und den Baumreihen bei jedem Autofahrer den Eindruck erweckt, auf der „wichtigeren Straße“ zu sein und deshalb Vorfahrt zu haben.

Julia Hampe fährt morgens über die Beurhausstraße, wenn sie ihre Kinder in die Kita bringt. Sie freut sich, dass dort Tempo 30 gilt und bittet die Stadt um eine unmissverständliche Ausschilderung, wer an welcher Stelle Vorfahrt hat. © Gregor Beushausen
„Man muss erst einmal überlegen, wenn man sich einer Einmündung nähert“, bemängelt Hampe, die mehr als einmal gefährliche Situationen beobachtet haben will. „Viele Autofahrer sind es gewohnt, einfach durchzufahren. Wer sich hier nicht auskennt, muss gehörig aufpassen.“ So hat denn auch Tobias Scholz, ihr Mitstreiter aus der Bürgerinitiative, „die dringende Bitte“ an die Stadt, für mehr Klarheit und eindeutigere Hinweise sorgen.
Manchmal ist Tempo 30 auch unnötig
Während viele Bürger vor ihrer Haustür Tempo 30 und mehr Kontrollen fordern, gibt es gelegentlich auch mal Gegenbewegungen. 2013 hatte die Stadt unter anderem in der Wannestraße im Dortmunder Süden auf der ganzen Länge Tempo-30-Schilder aufstellen lassen. 18 Häuser verteilen sich über die Wannestraße. Ansonsten: viel Wald, viel Feld und freie Natur.
Die Anwohner, bis dato Tempo 50 gewohnt, fühlten sich überrumpelt und wehrten sich. Tempo 30, hieß es, sei hier unnötig. Die Stadt argumentierte, die Straße werde vor allem an Wochenenden stark von Fußgängern und Radfahrern genutzt. Monate später baute sie die Tempo-30-Schilder wieder ab.
Jahrgang 1961, Dortmunder. Nach dem Jura-Studium an der Bochumer Ruhr-Uni fliegender Wechsel in den Journalismus. Berichtet seit mehr als 20 Jahren über das Geschehen in Dortmunds Politik, Verwaltung und Kommunalwirtschaft.