Die 22-jährige Anna A. aus Dortmund-Kirchlinde erwartet im Oktober 2014 ihr viertes Kind. Doch ihr ist schon früh in der Schwangerschaft klar: Dieses Kind soll nicht überleben. Ihrer Familie erzählt sie die absurdesten Geschichten, um nicht zuzugeben, dass sie schwanger ist. Als die Wehen einsetzen, bringt sie das Kind im Keller zur Welt. Sie wickelt es in ein Handtuch, steckt es in eine Tüte und lässt es in einem Katzenkorb zum Sterben zurück.
Neun Tage später bemerkt ein Nachbar einen unangenehmen Geruch aus dem Keller. Er schaut nach und entdeckt eine Blutlache. Er findet das Baby. Die Mutter hat sich keine Mühe gegeben, die Leiche ihrer Tochter zu verstecken. Sie hat einfach ihr Leben weitergelebt. Kurz darauf wird sie festgenommen. Schnell gibt sie zu, was sie getan hat.

Tiere besser gepflegt als eigene Kinder
Als Anna A. zum vierten Mal schwanger wurde, war sie bereits beim Jugendamt bekannt. Spätestens im Jahr 2014 war dem Amt nach einem erneuten Hinweis eines Kinderarztes klar, dass Anna und ihr Lebensgefährte sich nicht genug um ihre drei Söhne kümmern. Ein großer Bluterguss im Gesicht eines der Kinder sorgte dafür, dass man die Kinder der Familie entzog und Pflegefamilien zuführte.
Doch schon vorher, so erfuhr man später im Gerichtsprozess rund um A.s getötetes Kind, war die Lage der Kinder mehr als schlecht. Die Wohnung der Eltern war voller Tiere. Es war von Schlangen, Ratten, Spinnen, einem Hund und drei Katzen die Rede. Um die Tiere wurde sich zur Überraschung des Jugendamtes immer hervorragend gekümmert. Damals hieß es, er werde sich um die Tiere besser gekümmert als um die Kinder.
Absurde Ausreden und ein tödlicher Plan
Zum Zeitpunkt, als 2014 schließlich die drei Söhne aus der Familie von Anna A. genommen wurden, war die junge Frau bereits wieder schwanger. Sie muss es gewusst haben. Nur wenigen hat sie das gesagt. Es muss für sie früh festgestanden haben, dass sie dieses Kind nicht will.
Zuerst klappte die Taktik der Verheimlichung gut. Doch irgendwann sah man ihr die Schwangerschaft deutlich an. Als Familie und Angehörige sie darauf ansprachen, nutzte sie teils abstruse Ausreden. Sie habe zugenommen, hieß es zuerst. Später sagte sie allen, sie habe einen Bandwurm. Eine Geschichte, die keiner so wirklich glaubte, wie sich später im Laufe der Ermittlungen rekonstruieren ließ.
Serie „Dortmunder Verbrechen“
In dieser True-Crime-Serie stellen wir Ihnen Kriminalfälle aus Dortmund vor, die in der Stadt und darüber hinaus Aufsehen erregt haben. Jeden Sonntag um 12 Uhr erscheint eine neue Folge unter rn.de/dortmund.
Die Wahrheit sagte Anna A. nur ihrem Lebensgefährten. Mit ihm muss sie auch die Tötung des Babys besprochen haben. Eine weitere Ansprechpartnerin für Anna war eine Nachbarin. Auch sie hat die werdende Mutter damals offenbar gebeten, niemandem irgend etwas von ihrer Lage zu verraten.
Ein Baby stirbt unter Qualen
Irgendwann war es dann so weit: An einem Tag Mitte Oktober 2014 setzten bei Anna die Wehen ein. Sie war allein zu Hause. Sie setzte ihren Plan in die Tat um, und ging in ihren Keller, um ihre Tochter zu gebären. Mitten in diesem Keller, der später als unaufgeräumt und dreckig beschrieben wurde, brachte sie das Kind zur Welt. Gleichzeitig chattete sie am Handy mit ihrem Lebensgefährten.
Der Nachrichtenverlauf, der später vor Gericht verlesen wurde, ist nichts für schwache Nerven. „Es geht los, ich ziehe das jetzt durch“, schrieb sie dem Vater. „Ruf einen Arzt!“, antwortete er. Sie antwortete: „Neiiin!“
Nach der Geburt schnitt sie die Nabelschnur durch, wickelte das neu geborene Mädchen in ein Handtuch, packte das Bündel in eine Tüte und steckte alles in einen Katzenkorb.
Wie sich nach der Obduktion herausstellte, war das Kind gesund und lebensfähig. Der Todeskampf des nur wenige Minuten alten Säuglings muss demnach 30 Minuten bis mehrere Stunden gedauert haben. Man habe am Ende nicht ermitteln können, woran das Kind genau gestorben ist. Es gebe drei Optionen: verhungert, verdurstet, erfroren - oder eine Kombination von allem.
Der Fall Anna A. bei Domian
Als der Nachbar die Babyleiche fand, machte der Fall in den Medien schnell die Runde. Dabei erfuhr auch die Familie von Anna A. von dem Fall. Ihre Schwester, die wenig mit ihr zu tun hatte, hat über ein Pressefoto erfahren, dass es sich bei der „Babymörderin aus Dortmund“ um ihre Schwester handelte.
Einen Tag danach meldete sie sich beim damals bekannten WDR-Moderator Domian, um die Geschichte im Radio zu erzählen. Noch heute findet man diesen Anruf bei Youtube.
Als sie die Geschichte erzählt, sieht man Domian seine Verwirrung an. Spätestens bei der Bandwurm-Geschichte wirkt er verdutzt: „Bei einem Bandwurm nimmt man doch ab, und nimmt nicht zu.“ Die Schwester bestätigt, dass ihr niemand diese Geschichte abgekauft hat. Doch gleichzeitig beschreibt sie ihre Schwester als unnahbar.
„Meine Schwester hasst Menschen. Sie lässt keinen an sich ran“, sind die harten Worte. Auch später heißt es in psychiatrischen Gutachten zu Anna A.: Was sie sich in den Kopf setze, das ziehe sie durch. Und so hätten auch keine Ratschläge der Familie geholfen. Die Schwester zählt bei Domian sogar Optionen auf, die möglich gewesen wären, um diese Tragödie zu verhindern.
Auch Domian selbst fragt, wieso sie denn nicht einfach verhütet haben. „Ich weiß es nicht. Ich habe ihr gesagt, sie macht sich ihr Leben kaputt. Sie hat es nicht verstanden.“
Obwohl sie im Gespräch mit Domian hart mit ihrer Schwester ins Gericht geht, zeigt sie am Ende dennoch Mitleid. Sie sei immer noch ihre Schwester. „Ich werde weiter für meine Schwester da sein.“ Sie wisse aber nicht, mit welchen Gefühlen sie ihr von dem Punkt an gegenübertreten würde. Denn für sie ist ihre Schwester dennoch „eine Mörderin“.
Totschlag, aber kein Mord
Vor Gericht landet Anna A. allerdings nicht wegen Mordes. Sie wird angeklagt wegen Totschlags durch Unterlassung, da ein Mordmerkmal wie Heimtücke oder Arglist von den Richtern nicht als gegeben gesehen wird. Das empört damals einige, die den Fall verfolgt haben, da sie der Meinung sind: Wenn man ein hilfloses Kind umbringe, sei dies immer heimtückisch, da es sich nicht wehren könne.
Juristen sehen und sahen dies aber anders. Die Begründung gegen sogenannte Mordmerkmale lautet: Ein Baby hat niemals Argwohn gelernt - und könne daher nicht arglistig ermordet werden.

Doch wie arglistig war Anna A.? Die Frage nach einer psychischen Erkrankung war naheliegend und so wurde vor Gericht ein Gutachter angehört, um zu klären, ob die Mutter möglicherweise schuldunfähig oder teilweise schuldunfähig war.
Die Aussage des Gutachters war eindeutig. Er bestätigte, was die Familie bereits sagte: Anna A. sei eine Person, die jegliche Einmischung in ihr Leben ablehne. Sie sei in sich gekehrt und wenn sie sich was vornehme, ziehe sie es durch. Eine psychische Erkrankung jedoch sei ausgeschlossen. Anna A. sei voll schuldfähig.
Das Urteil
Nach einem kurzen Prozess, in dem Anna A. schnell geständig war, wurde sie schuldig gesprochen und zu acht Jahren Haft verurteilt. Ihr Lebensgefährte indes wurde nicht angeklagt, obwohl er offenbar von den Plänen gewusst haben musste und per Echtzeit-Chat sogar unmittelbar von der Tat erfahren hatte - sogar unmittelbar als diese geschah.
Aber auch dafür gab es eine Erklärung: Man könne nicht wissen, ob er nicht interveniert hätte, wäre er dabei gewesen. Auch konnte er nicht sicher wissen, ob seine Lebensgefährtin wirklich gerade die Wahrheit sagte. Totschlag durch Unterlassung war also nicht gegeben, weil er die direkte Tat gar nicht hätte verhindern können.
Hier lesen Sie die anderen Fälle aus der Serie „Dortmunder Verbrechen“:
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel erschien ursprünglich am 19. August 2024.
Neue Podcast-Folge „Ohne Bewährung“: Fall aus Dortmund schockiert auch Jahre später noch