Der abendliche Westenhellweg in den 1920er-Jahren mit Krüger-Passage und ihrer Jung-Mühle und den Corso-Betrieben © Stadtarchiv

Geheimnisse des Westenhellwegs

Als der Westenhellweg der Mittelpunkt des „sündigen Dortmunds“ war

Als Einkaufsstraße ist der Westenhellweg bekannt. Fast in Vergessenheit geraten ist, dass er in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch eine Top-Vergnügungsmeile war.

Dortmund

, 16.01.2019 / Lesedauer: 4 min

Brückstraße und Westenhellweg zogen die Dortmunder in den 1920er-Jahren „,magisch an“, berichtete der Zeitzeuge und Heimatforscher Karl Neuhoff. Auf dem kurzen Stück des Westenhellwegs zwischen Reinoldikirche und Hansastraße „war Dortmunds Pulsschlag am heftigsten zu spüren“, schrieb Neuhoff in seinen Erinnerungen an das „sündige Dortmund“. „Da gab es jeden Abend zwischen sechs und sieben Uhr ein Gedränge und Geschiebe hin und her, als ob sich halb Dortmund hier verabredet hätte. Aber auf dem Westen traf man sich auch ohne Verabredung. Der abendliche Bummel gehörte einfach zum Tagesprogramm.“

„Auf dem Westenhellweg pulsierte das Leben, vor allem das Nachtleben“, berichtet auch Zeitzeuge Valentin Frank. „Hier war das Zentrum der Gastronomie und Unterhaltung.“ Und ein Zeitgenosse schrieb: „Was für Berlin die Friedrichstraße bedeutet, ist für Dortmunder der Westenhellweg. Im Mittelpunkt standen zwei nach Berliner Vorbild entstandene Passagen, an denen sich gleich mehrere Lokale angesiedelt hatten.

Passagen nach Berliner Vorbild

Die noch heute in moderner Form bestehende Corsopassage zwischen Westenhellweg und Hansastraße war 1912 als Hohenzollernpassage eingeweiht worden, im selben Jahr entstand auch die prachtvolle Krüger-Passage zwischen Westenhellweg und Kampstraße im klassizistischen Stil. Namensgeber war der Krüger-Verlag, der gleich mehrere Zeitungen herausgab und auch eine Buchhandlung betrieb. Neben einem Fotogeschäft und einer Musikalienhandlung gab es das Café Beckmann mit Konditorei, das auch Außengastronomie in der Passage bot.

Zum größten Besuchermagneten in der Passage wurde aber das Kabarett Jungmühle, das sich in Zeitungsanzeigen schon zur Eröffnung im April 1913 als „größte Sehenswürdigkeit Westdeutschlands“ und „Kabarett ersten Ranges“ anpries.

„Ganz im Jugendstil gehalten, wurde man von der intimen Atmosphäre, die hier herrschte, gefesselt“, erklärt Neuhoff. Im Halbrund waren die Tische terrassenartig um eine Tanzfläche herum aufgebaut, die sich vor der kleinen Bühne befand. Rechts und links davon saßen etwas erhöht die beiden Kapellen, von denen jeweils eine zwischen den einzelnen Vorführungen zum Tanz spielte. Das Cabaret hatte eine Rollbühne, die über die ganze Tanzfläche ausgerollt wurde, sodass sich das Geschehen auf ihr inmitten der Zuschauer abspielte.“

Auch das Programm war erlesen. „Es war ein bunter Reigen von Chansonnieren, Tänzerinnen, Vortragskünstlerinnen, Humoristen, Tanzpaaren und Sängern, der das Publikum in Stimmung versetzte“, so Neuhoff. Und in einem reichsweit verbreiteten Fachblatt hieß es: Die Dortmunder Jung-Mühle ist ein Kabarett, das als künstlerische Leistung ähnliche Vergnügungsstätten altkultivierter Hauptstädte weit übertrifft, vornehm und gewählt, ein glänzender Rahmen für lebemännische Geselligkeit.“

Konzert-Cafes mit eigener Kapelle

Die Hohenzollern-Passage stand da in nichts nach. Der Gebäudekomplex zwischen Westenhellweg und Hansastraße bot anfangs ein Kino, die „Bols-Likörstube, in der die Gäste mit dezenter Salonmusik in Stimmung versetzt wurden“ sowie mit dem Café „Industrie“ am Westenhellweg 29 und dem Cafe „Passage“ am Westenhellweg 11 gleich zwei Konzert-Cafés. Das „Café Industrie“ hatte „eine separate Billard-Akademie, die von einem Billard-Meister geleitet wurde“, berichtet Neuhoff. Das Café Passage wechselte mehrfach den Namen, hieß zeitweise „Kronprinz“ und „Funke“, bis es 1918 wie die gesamte Passage den Namen „Corso“ bekam.

Der Innenraum des Café Corso mit der Fensterfront zum Westenhellweg © Sammlung Valentin Frank

Mit Gustav Finis bekamen sowohl die Bols-Stuben als auch das Corso 1921 einen neuen Eigentümer. Unter seiner Leitung entstand „nach wenigen Jahren am Westenhellweg ein Zentrum von Unterhaltung und Gastronomie, das unter dem Gesamtnamen Corso-Betriebe weit über Dortmund hinaus bekannt wurde“, erklärt Neuhoff. Es gab die Konditorei Finis, das Corso-Restaurant und einem „rustikal gemütlichen Bierkeller“ unter dem Namen „Pütt“.

Rundfunkübertragungen aus dem Corso

Am bekanntesten war aber das „Café Corso“ im Obergeschoss – und das weit über Dortmund hinaus. „In den zwanziger Jahren fanden von hier aus regelmäßig Rundfunkübertragungen statt“, berichtet Neuhoff. Neben der Hauskapelle unter der Leitung des Geigenvirtuosen Mario Iseglio gastierten auch viele „berühmte Starkapellen jener Jahre“ im Corso, erinnert sich der Heimatforscher. „Man konnte von Glück sagen, wenn man überhaupt einen Platz bekam.“

Berühmte Kapellen gastierten in den 20er- und 30er-Jahren im Café Corso. © Mielert/Sammlung Klöpper

Zu Ende ging die Vergnügungsherrlichkeit mit der NS-Herrschaft in den 1930er-Jahren. Wobei das Café Corso in dieser Zeit eine besondere Rolle spielte. Denn es war ein beliebter Treffpunkt der „Edelweißpiraten“, eine Gruppe Jugendlicher, die sich gegen die NS-Herrschaft zur Wehr setzten. Im Corso kam es zu einer regelrechten Schlacht der Edelweiß-Piraten mit Anhängern der Hitler-Jugend (HJ). Die HJ zog den Kürzeren, wenige Tage später kam es allerdings zu einer Razzia der Gestapo gegen die Edelweißpiraten, von denen viele in der berüchtigten Steinwache landeten.

Verbotene Musik

Nach Kriegsbeginn war das Café dann ein beliebter Treffpunkt für Fronturlauber, erinnert sich Zeitzeuge Valentin Frank. Hier konnte man auch verbotene Jazz-Musik hören. „Eine Art ‚Türseher‘ hatte die Szene im geschulten Blick, wenn Gefahr im Verzug war. In Sekundenschnelle schaltete man beispielsweise von Benny Goodman oder Glen Miller auf Peter Kreuder, Theo Mackeben oder Johann Strauß um“, berichtet Frank.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem weite Teile der Innenstadt zerstört wurden, wurden beide Passagen wieder aufgebaut. Auch die Gastronomie rund um die Corso-Passage wurde neu belebt, wurde aber nie so erfolgreich wie in den 1920er-Jahren. Im Herbst 1972 ging die Zeit der Corso-Betriebe zu Ende.

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